Ich geh stiften. Jörg Wolfram

Ich geh stiften - Jörg Wolfram


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wird. Gegen Mittag, ich bin nun schon mehr als sechs Stunden unterwegs, bemerke ich eine aufkommende Müdigkeit nicht nur in den Beinen sondern auch in meinem Kopf. Also sollte ich eine etwas längere Pause einlegen, wobei sich die Frage stellt: Jetzt oder erst etwas später? Irgendwo hier auf den Wiesen, wenngleich kein halber Quadratmeter ohne Schafsmist zu erblicken ist oder weiterlaufen, bis mal eine schöne Stelle, eine Bank zum Verweilen einlädt? Ein Hotel mitten im Nirgendwo zwischen Deich und Feldern, aber abseits jedweder Zivilisation lasse ich links liegen (Wer verläuft sich als Gast hierher?). Es passt nicht ins Budget. Schließlich bietet sich eine Bank nebst Tisch perfekt an. Ich lasse mir meine Brote schmecken, nehme einen großen Schluck aus der Wasserflasche und versorge die ersten kleinen Blasen an den Außenseiten der rechten und linken Ferse. Dabei ist die rechte Blase schon ordentlich mit Wasser gefüllt, die linke drückt dagegen mehr. Also Rucksack auf, Medizintasche herausgenommen und das Nähzeug ausgepackt. Ich ziehe jeweils einen Faden durch die Blasen und klebe Pflaster drauf. Und dann niedergestreckt, die Füße hochgelegt und ich schlafe tatsächlich ein. Aber nur so lange oder kurz, bis ich vom eigenen Schnarchen wach werde. Inzwischen ist es 13:30 Uhr, seit acht Stunden bin ich unterwegs. Da noch gut zehn Kilometer vor mir liegen, raffe ich mich auf und laufe weiter meinen Stiefel. Die Wanderstöcke ticken rechts und links, geben Rhythmus und Tempo vor. Ich bin eine weitere Stunde auf einer asphaltierten Nebenstraße unterwegs, als mich plötzlich ein roter Golf überholt und immer langsamer wird. Noch vor wenigen Momenten habe ich darüber nachgedacht, welche Erlebnisse ich haben, welche Bekanntschaften ich schließen werde, wie gastfreundlich Deutschland 2016 ist und mir unaufgefordert Hilfe angeboten wird. Jetzt hält der Golf circa 30 Meter vor mir an. Die Fahrertür öffnet sich und ein rotblonder Wuschelkopf dreht sich heraus. Er fragt mich tatsächlich, ob ich mitgenommen werden möchte. Ich zögere kurz und überlege, ob das mit dem „Fahren“ auf meiner Wanderung okay ist. Das Nachdenken dauert aber auch wirklich nur ganz kurz, denn hier begegnet mir die gesuchte Freundlichkeit zum ersten Mal spontan auf der Straße. Und da ich auch ein freundlicher Mensch bin, nehme ich die Einladung gerne an, verstaue Rucksack und Stöcke auf den Rücksitzen und steige ein. Ich stelle mich mit meinem Vornamen vor und erfahre, dass meine Fahrerin, wir mögen im gleichen Alter sein, Jaqueline heißt und auch nach Husum will. Ich merke an, dass sie bei ihrem Vornamen wohl doch auch im Osten sozialisiert sein müsste, was sie mit einem herzhaften Lachen bejaht und mir erzählt, dass sie ursprünglich aus Magdeburg stammt. Ihren Freund lernte sie bei einem Tangofestival in Halle kennen und zog zu ihm nach Husum. Sie komme gerade von der Arbeit, just aus jenem Hotel, an welchem ich vorhin vorbeilief. Auf ihrem Weg in den Feierabend sah sie mich so dahinlaufen und dachte sich, sie nimmt mich halt mit. Ich berichte von meiner Herkunft, meinem Vorhaben und erfahre, dass hier immer mal wieder so verrückte Wandervögel unterwegs seien. Erst im letzten Herbst hätte sie eine junge Frau ein Stück mitgenommen, welche wohl aber auch im Freien übernachtete und Jaquelines Auto daher nach kurzer Zeit intensiv nach Schaf roch. Diese Gefahr bestünde bei mir nicht, erwidere ich, bestenfalls hätte um diese Zeit mein Deo versagt. Wir lachen und Jaqueline fährt mich schließlich bis zur Husumer Altstadt. Hier angekommen fragt sie mich, ob ich auch zur heutigen Jazznacht gehen würde, was ich mit Blick auf das anstehende EM-Viertelfinalspiel Deutschland-Italien und meinen Ermüdungszustand verneine. Wir verabschieden uns und ich bedanke mich herzlich für ihre Hilfe.

      Für mich geht es nun weiter zu meinem Übernachtungsziel, einem Einfamilienhaus mit Pensionsbetrieb von Werner und Anita K., den Großeltern der Frau vom Cousin meines Freundes Holger. Mit meinem iPad zwecks Orientierung in der Hand laufe ich vielleicht 10 Minuten, als schließlich erneut ein Auto neben mir fährt und immer langsamer wird. Die Seitenscheiben werden heruntergelassen, jemand winkt mich heran. Nach einigen Wortwechseln stellt sich heraus, dass es sich um den Cousin handelt. Ich steige ein und zwei Minuten später sind wir vor Ort. Ich begrüße die Eheleute herzlich und richte die mir aufgetragenen Grüße aus. Als sie von meinem Vorhaben hören, schlagen sie die Hände über dem Kopf zusammen und zeigen mir schließlich mein Zimmer. Ich beziehe als letzter Pensionsgast überhaupt ein Zimmer im Obergeschoss. Das Haus ist verkauft und wird derzeit geräumt, die älteren Herrschaften, weit über 80 Jahre alt und seit 62 Jahren verheiratet, ziehen zu den Enkelkindern. Ich gehe erst mal duschen, behandele meine Füße und lege mich kurz hin. Anschließend laufe ich tatsächlich noch mal in die naheliegende Altstadt, esse ein Fischbrötchen und trinke zwei kleine Bier. Dabei sitze ich in der Sonne und habe zum ersten Mal ein entspanntes, zufriedenes Gefühl in mir. Diese Etappe, auf welche ich mich gefreut, aber zugleich davor Respekt hatte, ist geschafft. Ich habe die freundliche Jaqueline kennengelernt und ein Dach über dem Kopf bei netten Menschen gefunden, einfach herrlich!

      Am Abend sitzen wir zu dritt am Küchentisch, essen Abendbrot und ich erfahre einiges aus dem bewegten Fischerleben von Werner und seiner Frau. Anschließend wechseln wir ins Wohnzimmer und schauen das spannende Fußballspiel samt Verlängerung und einem nicht enden wollenden Elfmeterschießen. Deutschland siegt, ich bedanke und verabschiede mich herzlich bei Werner und Anita Koch, denn morgen soll es ja wieder früh weitergehen. Mal schauen, wie es meinen Füßen und Beinen nach dieser Nacht dann geht.

      Tagesbedarf: EUR 10, Gesamtverbrauch: EUR 10,

      Gesamtstrecke: 59 km

       Griechische Gastfreundschaft

       Sonntag, 03. Juli 2016

       3. Wanderetappe, Husum – Hennstedt, 30 km

      Ich erwache nach gutem, tiefem Schlaf um 05:00 Uhr und höre Regentropfen an das Fenster klopfen. Ein Blick bestätigt mir das Ganze, ich lege mich wieder hin und gebe mir so viel Zeit, bis der Regen aufhört. Dies geht recht schnell, sodass ich – sogar die Sonne zeigt sich jetzt – Punkt 06:00 Uhr loslaufe. Die ersten 500 Meter gehen recht schleppend, die schmerzenden Stellen der Blasen lassen mich erstmals auf die Zähne beißen. Meine Stöcke fungieren daher am Beginn meiner heutigen Etappe auch als eine Art Gehhilfe, dennoch bin ich gut gelaunt und optimistisch für den Tag. Ich kann ja jetzt noch nicht ahnen, dass sich in den nächsten Stunden eine weitere Blase ansiedeln wird. Bald verlasse ich Husum, gut ausgeschildert geht es in Richtung Friedrichstadt über 15 Kilometer einen Radweg entlang. Nach gut 45 Minuten setzt ein kräftiger Regenschauer ein, ich ziehe schnell die Regenjacke über, bleibe aber in meiner kurzen Hose. Wie bereits in den letzten Tagen, ob in Leipzig oder hier oben, sind wir in diesem Jahr vom Sommer weit entfernt. Regen und Sonne wechseln immer wieder einander ab. Tröstlich ist die Tatsache, dass es nahezu windstill und die Temperaturen zum Wandern geradezu ideal sind. Als Ersatz schenkt mir der Himmel einen wunderschönen doppelten Regenbogen und gegen 09:30 Uhr erreiche ich das Holländerstädtchen Friedrichstadt.

      Ich laufe an Grachten vorbei über den Markt bis hin zur evangelischen St.-Christopherus-Kirche. Am Eingang weist ein Schild den Besucher darauf hin, dass sonntags erst ab 12:00 Uhr die Kirche zu besichtigen sei. Eine nette Dame, sie scheint Kirchendienst zu haben, bittet mich dennoch herein. Wir kommen ins Gespräch und ich erfahre, dass sie regelmäßige Besucherin der Leipziger Buchmesse, der Nikolai- und Thomaskirche meiner Heimatstadt ist. Ich suche mir ein Plätzchen in der äußersten Ecke der Kirche, breite meine Sachen zum Trocknen aus und nehme mein Frühstück zu mir. Kurze Zeit später kommt auch der freundliche Pfarrer, er hat Gitarre und gute Laune mitgebracht, und scheint Freude an seinem Beruf zu haben. Dies ist Grund genug, den folgenden Gottesdienst mitzufeiern, einige Sätze aus der Predigt deute ich auf meine Wanderschaft, ich greife zum Gesangsbuch und singe mit. Hier hinten und alleine in meiner Ecke kann mir ja keiner die schiefen Töne verübeln.

      Schließlich verabschieden wir uns sehr herzlich. Auf dem Kirchhof ergeben sich weitere Gespräche mit Kirchgängern, mein großer Rucksack lässt entsprechende Fragen zu. Schließlich geht es bei nun schönstem Sonnenschein weiter, immer an einem Deich entlang. Ich stelle fest, dass ich aus dem Landkreis „Nordfriesland“ nach „Dithmarschen“ gewechselt bin. Ich überquere schließlich eine größere Schleusenanlage und komme am Nachmittag geschafft, aber doch glücklich nach Hennstedt, meinem heutigen Tagesziel.

      Nun kann man sicherlich Besseres am Sonntagnachmittag tun, als seinen Vorgarten von Unkraut zu befreien, ein Pärchen in meinem Alter tut dies dennoch. Eine gute Gelegenheit für mich, nach der Kirche und einer Pension zu fragen. Heute ist der erste Tag, an dem ich mir noch eine Schlafgelegenheit suchen muss. Ich bin auf das Ergebnis schon seit


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