Ich geh stiften. Jörg Wolfram

Ich geh stiften - Jörg Wolfram


Скачать книгу
im Pfarramt erreiche ich jemanden, um meine von der Kirchgemeinde Leipzig-Holzhausen ausgestellte Beherbergungsempfehlung vorzuzeigen und auf Unterbringung zu hoffen. Also nach nebenan, wo eine griechische Familie ein Restaurant mit Pensionsbetrieb betreibt. Ich stelle mich und mein Übernachtungsbedürfnis einem Mitarbeiter vor und verweise auf mein eingeschränktes Budget. Er verschwindet kurz im Haus und kommt wenig später zurück, um mich zu fragen, ob ich 30 Euro oder lieber 25 Euro ausgeben möchte. Ich sage ihm, dass ich mit 20 Euro zufrieden wäre, dafür aber keine Bettwäsche benötigen würde, ich habe ja meinen Schlafsack dabei. Er lacht, reicht mir die Hand und wir sind im Geschäft! Er führt mich in die erste Etage. Ich erhalte ein schönes Zimmer mit Bad, welches gerade fertig geputzt wird. Die deutsche Putzfrau fragt mich gleich wegen meines Rucksacks nach dem Woher und Wohin, schüttelt bei meinen Antworten den Kopf und besteht darauf, meine Wäsche zu waschen. Dies nehme ich sehr gerne in Anspruch. Es folgten eine ausgiebige Dusche mit kaltem Wasser für die Beine, das Eincremen und die Massage der Wadenmuskulatur sowie eine Blasenpflege. Aktuell haben sich da drei recht ansehnliche Berge an meinen Fersen entwickelt. Ich greife zu Nadel und Zwirn, ziehe einen fünf Zentimeter langen Faden durch die Blase. Zunächst die komplette Nadel, dann die Hälfte des Zwirns, sodass auf beiden Seiten genügend Faden heraushängt. An diesem kann jetzt das Wasser in den nächsten Minuten und Stunden herauslaufen, ohne dass die alte Haut zerstört wird. Sofort tropft es an beiden Enden und ich spüre eine unmittelbare Entlastung. Über Nacht lasse ich die Blasen ohne Pflaster, um Luft heranzulassen.

      Es folgen zwei Stunden Nachmittagsschläfchen im sonnenüberfluteten Raum. Da das Zimmerfenster über keine Gardine verfügt, weiß ich schon jetzt, dass ich morgen wieder früh erwachen und mich auf die Socken machen werde. Gegen 18:00 Uhr setze ich mich in den sonnigen Freisitz und komme mit dem Chef des Hauses ins Gespräch. Ich bestelle mir eine Portion Gyros mit Pommes sowie ein alkoholfreies Weizen und drücke ihm interessehalber einen Flyer zu meiner Wanderung in die Hand. Ich genieße das Nichtstun, die letzten Sonnenstrahlen und ein weiteres Weizenbier. Irgendwann, es ist noch nicht spät, zieht mich aber die Müdigkeit aufs Zimmer. Ich bestelle die Rechnung für Bett und Essen und werde mit der Aussage überrascht, dass mit meinen 20 Euro Übernachtungsgeld die Speisen- und Getränkerechnung inbegriffen sei. Der Chef reicht mir die Hand, erklärt mir, wie cool er mein Projekt für die zu unterstützenden Kinder- und Jugendvereine findet und fragt, ob ich noch irgendetwas brauche. Noch ganz ergriffen verneine ich seine Frage und wir umarmen uns spontan zum Abschied. Er wünscht mir viel Erfolg und will im Internet meinen Weg verfolgen. Ich bin echt gerührt von so viel griechischer Gastfreundschaft und ziehe mich gut gelaunt auf mein Zimmer zurück. Ich verzichte auf die Fernsehübertragung des EM-Spiels zur Ermittlung des Halbfinalgegners der deutschen Fußballnationalmannschaft, sondern schlafe sehr schnell und zufrieden ein.

      Tagesbedarf: EUR 20, Gesamtverbrauch: EUR 30,

      Gesamtstrecke: 89 km

       Von Rehen und Regen

       Montag, 04.Juli 2016

       4. Wanderetappe, Hennstedt – Hanerau-Hademarschen, 33 km

      Wie erwartet erwache ich bereits beim Morgengrauen mit einem mächtigen Brand, das Tsatsiki hat seine Schuldigkeit getan. Also aufstehen, Zähne putzen, die Fäden aus den Blasen ziehen und diese verpflastern. So langsam entwickelt sich eine morgendliche Routine. Um kurz vor 05:00 Uhr schleiche ich mich aus der Pension und es zieht mich bei langsam aufgehender Sonne zunächst durch Getreide- und Maisfelder in Richtung Hanerau-Hademarschen. Unmittelbar vor einem ersten Waldstück bekomme ich heute erstmals einige Rehe zu sehen. Während alle anderen schnell das Weite vor mir suchen, bleibt eines der scheuen Tiere hinter einem Baum am Wegesrand stehen. Da mir dies nicht entgangen ist, schleiche ich mich, sofern dies mit Rucksack und Wanderstöcken irgendwie geht. langsam heran. Es gelingt mir sogar, ein Foto mit dem iPad zu machen. Plötzlich, ich habe mich vielleicht auf 20 Meter genähert, springt es auf und mit einem mir unbekannten Geräusch sucht es auf einer Wiese das Weite. Dann bleibt es aber wieder stehen, schaut sich um und das Spiel beginnt von vorn. Ich nähere mich soweit wie möglich, bis das Reh sich wieder unter komischen Lauten entfernt. Tage später, als ich diese Geschichte erzähle, erfahre ich von einem Jäger, dass Rehe bei Angst bellen, sicherlich hatte das Muttertier ein Kitz im Gras liegen.

      Nach circa zwei Stunden geht mal wieder ein mächtiger Regen los. Zunächst hoffe ich, unter einem Baum den Schauer abzuwarten, um mir den Klamottenwechsel zu ersparen. Nach einigen Minuten und der nicht vorhandenen Aussicht auf ein Aufreißen der Wolkendecke ziehe ich schließlich sowohl Regenjacke als auch -hose über und bringe auch den Regenschutz über den Rucksack an. So ausgestattet wandere ich weiter. Es weht kein Wind, es ist nicht kalt, aber dennoch ist Sommer irgendwie anders.

      Gegen 09:30 Uhr erreiche ich Tellingstedt und kehre zunächst bei einem Bäcker ein. Dies mit der festen Absicht, bei einem heißen Kakao mich von innen zu wärmen und gleichzeitig in der Backstube meine Sachen zu trocknen. Das mit dem Kakao funktioniert nicht, da keiner vorrätig ist. Aber die junge, etwas bäuerlich wirkende Verkaufskraft hat gegen einen Klamottenwechsel im Hinterzimmer nichts einzuwenden. Mit Wäschetrocknen wird es aber nichts, da es sich nur um einen Backshop und keine klassische Bäckerei handelt. Sei es wie es sei. Ich bedanke mich und spaziere in einen gegenüberliegenden Supermarkt, kaufe Wasser, Schokolade und Brötchen. Schließlich bekomme ich hier auch eine heiße Schokolade, welche ihrem Namen relativ wenig Ehre macht, wenigstens ist sie warm. Ich setze mich in das kleine angrenzende Café und lausche den drei älteren Tischnachbarn. Ich muss schnell feststellen, dass ich nichts, aber rein gar nichts verstehe, die drei reden Plattdeutsch. Später gesellt sich ein weiterer Gast hinzu, man geht in einen für mich etwas verständlicheren Dialekt über und so bekomme ich mit, dass es zum Siebenschläfer in der Region geregnet habe und damit in den nächsten sieben Wochen das Wetter entsprechend programmiert sei. Na danke auch! Wobei, es wird ja am Tag des Siebenschläfer hoffentlich nicht in allen von mir in Deutschland zu durchwandernden Gegenden geregnet haben!?

      Mein Weg führt mich schließlich weiter südlich und nach einiger Zeit erreiche ich den Nord-Ostsee-Kanal. Es ist schon ein besonderes Gefühl, die Brücke per pedes zu überwinden. Ich erhalte ein wahres Gefühl für die Dimensionen von Höhe, Länge und Breite dieser Überquerung. Und wie klein die zahlreichen Lastkähne auf dem Wasser unter mir wirken! Auf dem anschließenden Autorastplatz mache ich nochmals eine Pause, um die notwendigen Kräfte für die verbleibenden sechs Kilometer bis zum Zielort zu sammeln. Ich habe in den ersten Tagen festgestellt, dass ich im Tagesdurchschnitt mit vier Kilometer pro Stunde vorankomme, also jetzt noch ungefähr eineinhalb Stunden vor mir habe. Die Streckenführung verläuft jetzt auf einem Fuß-/Radweg parallel zur Bundesstraße. Um den zwar nur mäßigen, aber dennoch lästigen Verkehrslärm zu überspielen, lege ich mir etwas Techno auf die Ohren, so läuft es sich bei zunehmender Erschöpfung doch ganz gut.

      In Hanerau-Hademarschen angekommen frage ich die erste mir über den Weg laufende Person nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Mir wird ein preiswerter Gasthof empfohlen, welcher nicht mehr auf dem neuesten Stand sei, im Oktober schließe, aber eine gute Küche hätte. Und richtig, auf der Straße zeigt schon ein Schild an, dass hier die Chefin noch persönlich kocht. Da der Mittagstisch vorbei ist, ist der Haupteingang verschlossen. Ich gehe durch den nicht sehr einladenden Biergarten auf den Hintereingang der Küche zu, wünsche einen Guten Tag und empfange ein etwas lustloses „Ja“. Also ohne „Bitte“. Ich sage mein Ständchen auf, wir einigen uns auf die anscheinend üblichen 20 Euro und eine junge Angestellte, ob Auszubildende oder Familienmitglied bleibt mir unklar, zeigt mir „Zimmer 2“. Naja, so muss Hotellerie in den 1960er-Jahren ausgesehen haben. Dusche und Toilette über dem Gang, ansonsten alles reif für den Sperrmüll. Aber – und das ist für mich das Wichtigste – alles sauber und in dem Bett kann man auch gut liegen.

      Es folgt das nun schon übliche Nachmittagsritual, bestehend aus duschen, Fußpflege und Wadenmassage sowie zwei Stunden Nachmittagsruhe. Am Abend esse ich im Hause eine kleine Gulaschsuppe sowie einen großen Salat, beides wirklich lecker und durchaus preiswert. Ich kann ja jetzt noch nicht wissen, dass diese Mahlzeit eine noch wichtige Rolle auf meiner Reise spielen wird. Anschließend gehe ich in den nahegelegenen Supermarkt, um die Rationen für den morgigen Wandertag sowie zwei einheimische Bierchen als Schlaftrunk zu erwerben. Den kurzen Rest des heutigen Abends


Скачать книгу