Beethoven. William Kinderman

Beethoven - William Kinderman


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Zeit, in der Beethoven in Wien lebte – von 1792 bis 1827 –, regierte. Kaiser Franz spürte etwas in Beethovens Musik, das ihm verdächtig erschien und sein Misstrauen weckte. »Es steckt was Revolutionäres in der Musik!« weist auf eine Qualität in der Musik, die dem Kaiser Unbehagen verursachte.

      Auf derartige Beiklänge reagierte der Monarch alarmiert. Immerhin war er der Neffe von Marie-Antoinette, jener österreichischen Erzherzogin, die als Ehefrau König Ludwigs XVI. Königin von Frankreich wurde. Im Jahr 1793, vier Jahre nach dem Ausbruch der Französischen Revolution und bald nach Beethovens Ankunft in Wien, waren Ludwig und Marie-Antoinette eingekerkert worden, bevor man beide in Paris enthauptete. Angesichts dieses Schreckens war es vordringliche Priorität des Habsburgerkaisers, während seiner Regentschaft jede derartige Revolution in Österreich zu verhindern.

      Mit starrköpfiger Beharrlichkeit überdauerte Franz schließlich seinen weitaus brillanteren französischen Rivalen Napoleon Bonaparte. Anders als der erbliche Kaiser von Österreich war der Korse aus bescheidenen Verhältnissen gekommen und hatte sich während der Aufstände im Jahrzehnt nach der Französischen Revolution nach oben gearbeitet. Seine bemerkenswerten militärischen Erfolge machten Napoleon berühmt, 1799 wurde er Erster Konsul der Französischen Republik.

      Leidenschaftlich hoffte Beethoven zu jener Zeit, der Einfluss dieser französischen Leitfigur würde positiv auf Politik und Kultur wirken. Doch so viel Zuversicht war in Österreich nicht realistisch. Anders als sein Vorgänger Kaiser Joseph II. in den 1780er-Jahren war Kaiser Franz kein progressiver Lenker seines Staates, sondern fühlte sich durch Napoleons soziale und politische Reformen bedroht. 1794 war des Kaisers »Grauen vor ›Demokratie‹ ebenso krankhaft geworden wie seine Feindseligkeit gegenüber jeder Art von Veränderung«. Ein Historiker wies darauf hin, dass der Kaiser »überall Verschwörung roch« und sich seine Angst vor Revolution zu einer »institutionalisierten Paranoia« verfestigte.

      Dieser politische Hintergrund steckt den Rahmen für unsere Erkundung der politischen Überzeugungen Beethovens ab. Der junge Komponist hatte den Geist der Aufklärung in den 1780er-Jahren förmlich aufgesogen – Immanuel Kants »Kritiken«, liberale Reformen, kultureller Tatendrang –, aber auch den Schrecken und die Polarisierung erlebt, die auf den Ausbruch der Französischen Revolution 1789 folgten. Erstaunlich, wie kraftvoll sich das Erbe eines Musikers im Jahr 2020 zeigt – immerhin ein Vierteljahrtausend nach seiner Geburt. Diese Tatsache lässt sich teilweise mit der universellen Sprache der Musik erklären. Sie macht es zum Beispiel möglich, dass das »Freude«-Thema der neunten Sinfonie die Hymne der Europäischen Union wurde, während Friedrich Schillers Verse selbst nie offiziell übernommen wurden. Ein anderer Faktor ist die zunehmende Polarisierung der Politik des 21. Jahrhunderts. Es sind merkwürdige Parallelen, die die Ära Beethovens mit unserer Gegenwart verbinden. Viele, die den Ausbruch der Französischen Revolution begrüßt hatten, waren bald desillusioniert. Das ähnelt dem 1989 beginnenden Zusammenbruch der Sowjetunion, der zu einem fehlgeleiteten Optimismus über ein bevorstehendes Zeitalter der Demokratie führte.

      Beethovens Welt zu erkunden bedeutet, sich Spannungen und Widersprüchen gegenüberzusehen – den über weite Strecken erfolglosen Reformen des aufgeklärten Absolutismus unter Joseph II. und dem prekären Reiz des revolutionären Frankreichs, dem deutschen »Flickenteppich« aus Klein- und Mittelstaaten, den Beethoven in jungen Jahren erlebte, und der autokratischen Habsburgermonarchie, der französisch-deutschen Grenzregion am Rhein und der Hauptstadt des ausgedehnten vielsprachigen Reiches an der Donau. Außerhalb der verwirrenden Komplexität historischer Voraussetzungen formt der Künstler Visionen seiner Vorstellungskraft. Es ist aufregend, sich mit dem Bestreben des Komponisten auseinanderzusetzen, auf das ganze Durcheinander einer turbulenten Epoche zu reagieren. Während Napoleon Bonapartes Aufstieg und Fall auf der Bühne der Welt nichts als längst vergangene Geschichte ist, haben Beethovens musikalisches Vermächtnis und damit seine Reaktion auf die politischen Umstände seiner Zeit bis heute unvermindert Bestand, auch wenn das Potenzial seines Werks nach wie vor nicht ausgeschöpft ist. Verständnis und Wertschätzung profitieren vom Wissen um den Zusammenhang. Wie wir sehen werden, vermitteln die kontrastreichen Erzählstränge der Werke Beethovens weitaus mehr als ein neutrales Abspielen von Tönen.

      Wie war es für den sechzehnjährigen Hofmusiker Beethoven, im Jahr 1787 für drei Monate von Bonn nach Wien zu reisen? Welche Erfahrungen machte er, als er im Revolutionsjahr 1789 an der Bonner Universität inskribierte? Wie formte sein Aufwachsen im Rheinland während einer Schlüsselära seine Einstellungen gegenüber Ästhetik und Politik? Welche Rolle spielten seine musikalischen Vorgänger Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn für seinen künstlerischen Weg?

      Die Regentschaft Kaiser Josephs II. brachte eine Welle von Reformen von oben, die der Vernunft folgen wollten: die »weiße Revolution« des aufgeklärten Absolutismus. Joseph II. nahm für sich in Anspruch, die französischen Revolutionäre von 1789 hätten etwas angestrebt, das er längst zustande zu bringen versucht hatte. Im Jahr 1783 verkündete er: »Ich habe die von Vorurteilen und eingewurzelten alten Gewohnheiten entsprungenen Umstände durch Aufklärung geschwächt und mit Beweisen bestritten.« Er dämmte die Macht der Kirche ein, förderte religiöse Toleranz, war ein Verfechter des Gedankens menschlicher Gleichheit, hob die Leibeigenschaft ebenso auf wie viele Privilegien von Adel, Hof, Klerus, Zünften und Städten. Unzähligen Bittstellern gewährte Joseph II. eine persönliche Audienz. Als Herrscher befürwortete er Kants Definition der Aufklärung als einen »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«. Er reformierte die Volksschulen, ließ Krankenhäuser errichten und trat Obskurantismus und religiösem Aberglauben entgegen.

      Die soziale Revolution erwies sich als zerbrechlich, stammte sie doch von einem Herrscher, der umgeben war von Ministern aus altem Adel. In welchen Fallstricken sich Josephs II. Tugenden verfangen konnten, illustriert seine Unterstützung von Mozarts Oper Le nozze di Figaro. Der Kaiser verstand etwas von Musik und hatte 1782 bereits Mozarts deutsches Singspiel Die Entführung aus dem Serail gefördert. Vier Jahre später arbeitete Mozart mit dem Librettisten Lorenzo da Ponte zusammen, der das zweite Stück der Figaro-Trilogie von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais adaptiert hatte. Im Paris des Jahres 1784 war das Stück, das aristokratische Vorrechte und soziale Ungleichheit angreift, eine Sensation gewesen. Da Joseph II. 1785 seine Erlaubnis für eine Aufführung des Dramas in Wien verweigert hatte, begann eine Rezension von Mozarts Figaro in der Wiener Realzeitung mit der Feststellung, man würde heutzutage eben singen, was auszusprechen verboten sei. Da Ponte hatte zwar ein paar revolutionäre Frechheiten von Beaumarchais ausgelassen, dafür jedoch eigene hinzugefügt. Obwohl der aufgeklärte Kaiser der Aufführung der Oper zugestimmt hatte, beschädigte sie Mozarts Position innerhalb des Adels. Die Subskriptionslisten für seine Instrumentalkonzerte, bislang von Mitgliedern des Hochadels gezeichnet, schmolzen im Nachhall des Figaro, der ja auf dem die Aristokratie kritisierenden und eigentlich verbotenen Beaumarchais-Stück beruhte, rasch zusammen.

      Es gibt Parallelen zwischen Mozarts 1786 einsetzenden Schwierigkeiten und den politischen Problemen, die den zunehmend isolierten Kaiser plagten, dessen Reformen nach seinem Tod 1790 vielfach revidiert wurden. Dieses außergewöhnliche Jahrzehnt, in dem die Macht dem Volk zu dienen versuchte, sollte mit Don Giovanni noch eine weitere Mozart-Oper sehen: mit drei Gesellschaftsklassen auf der Bühne, deren jede von einer eigenen Musik dargestellt wird. Alle drei Schichten treffen im selben Ballsaal aufeinander, wo sie von ihrem aristokratischen Gastgeber Don Giovanni im Namen der Freiheit begrüßt werden.

      Beethoven besuchte Wien erstmals in der Zeit von Januar bis April 1787. Als er eintraf, wurde Mozart gerade in Prag gefeiert, wo sein Figaro so enorm erfolgreich war, dass er den Auftrag zum Don Giovanni erhielt, der im Oktober 1787 in der böhmischen Hauptstadt uraufgeführt werden sollte. Zu dieser Zeit residierte Mozart noch in repräsentablen Wiener Wohnungen, bevor er aufgrund finanzieller Engpässe aus der Inneren Stadt wegzog. In den Wochen zwischen Mozarts Rückkehr aus Prag am 12. Februar und Beethovens Abreise im April gab es hinreichende Gelegenheiten für eine Begegnung der beiden Komponisten, zumal es seine Verbindungen zum Adel waren, die dem Jüngeren den Besuch ermöglicht hatten. Berichten zufolge hörte Beethoven Mozart spielen. Anekdoten darüber, dass Beethoven für Mozart improvisiert hätte, sind zwar plausibel, aber nicht belegt. Beethovens Beschäftigung mit Don Giovanni


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