Beethoven. William Kinderman

Beethoven - William Kinderman


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für die Welt, noch für die Dichtkunst« gilt. Wie erstaunt wäre wohl Schiller gewesen, hätte er erlebt, wie später dieses Gedicht durch Beethovens Musik die ganze Welt umschließen und Millionen auf beispiellose Weise in seinen Bann ziehen sollte.

      Das literarische Engagement des jungen Beethoven zeigt sich auch in der erhaltenen Skizze einer Vertonung von Mephistopheles’ Flohlied, einer Schlüsselszene in Auerbachs Keller aus Goethes Faust. Es ist beeindruckend, dass der junge Komponist Goethes Faust, ein Fragment bereits kurz nach dessen Veröffentlichung 1790 kannte und darauf musikalisch antwortete, auch wenn die definitive Realisierung der Vertonung erst 1809 vollendet werden sollte. Auerbachs Keller, in dem in Goethes Drama das Flohlied gesungen wurde, ist sowohl ein realer Ort in Leipzig als auch fiktive Kulisse, vor der sich Leben und Kunst mischen. Er entspricht sowohl dem Gasthaus Zehrgarten auf dem Bonner Marktplatz, einem bevorzugten Treffpunkt in Beethovens Jugendjahren, als auch den Wirtshäusern und Weinlokalen, in denen sich der Komponist mit Freunden in seinen späteren Wiener Jahren traf. Goethe besuchte Auerbachs Keller als Student in den Jahren zwischen 1765 und 1768, was dem hochpolitischen Lied – eine scharfe Kritik an Nepotismus und Günstlingswirtschaft – eine autobiografische Note verleiht.

      Im Faust ist Mephistos Flohlied eines aus einer Handvoll derber Trinklieder, die in Auerbachs Keller gesungen werden. Das Lied beginnt mit »Es war einmal ein König, der hatt’ einen großen Floh« und mündet in einem eindringlich-lauten Chorrefrain, mit dem die letzten Zeilen, in denen es um diese enervierenden Parasiten geht, betont werden: »Wir knicken und ersticken / Doch gleich, wenn einer sticht.« Das abschließende, von allen trinkfreudigen Gästen gesungene Couplet fasst die politische Bedeutung zusammen: Der nutzlose Floh ist der spezielle Günstling des Königs – fein gekleidet und Empfänger unverdienter Ehren. Der Floh steigt in den Rang eines Ministers auf, womit auch dessen Verwandte reiche, großspurige Höflinge und immun für jedwede Kritik werden. In der geschützten Distanz, die Auerbachs Keller darstellte, mussten die Gäste ihre Missachtung jedoch nicht verbergen. Im sechsten Kapitel kehren wir nochmals zu diesem Lied zurück, das 1810, als es gedruckt erschien, eine kontextbezogene Bedeutung hatte, deren Relevanz bezogen auf unwürdige politische Zustände bis heute anhält.

      Chorgesang von etwas erhabenerer Art findet sich in Beethovens Vertonung von Der freie Mann, ein Lied aus seinen letzten Bonner Jahren, das später, wie Wegeler belegte, von den Freimaurern verwendet wurde. Der Text von dem blinden französisch-deutschen Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel war im Hamburger Musenalmanach von 1792 erschienen. Die Eröffnungszeilen hatte Wegeler für Freimaurer-Zeremonien adaptiert. Sie lauteten nun: »Was ist des Maurers Ziel?« Die Phrase »freier Mann« war von großer Aktualität und tauchte auch am Ende von Eulogius Schneiders Ode an die Französische Revolution auf: »Ein freier Mann ist der Franzos!«

      Im ersten Entwurf Beethovens beginnt Der freie Mann mit vier Männerstimmen in geradem Takt in C-Dur (Abb. unten). Die ersten sechs Noten – sie umreißen das melodische Muster mit einem ansteigenden C-Dur-Dreiklang, der schrittweise abwärts geführt wird, während die dritte Note verlängert, die vierte aber verkürzt ist – erinnern an den Beginn des letzten Satzes der fünften Sinfonie, ein Werk, das fast zwanzig Jahre später vollendet wurde (Abb. S. 26). Diese thematischen Parallelen – umfassendes Motiv, Rhythmus, Tonart und Charakter – sind zu signifikant, als dass es sich um einen Zufall handeln könnte. Es zeigt einmal mehr, wie ein musikalisches Kernstück aus Beethovens Jugendzeit zu einem Ehrenplatz in einer seiner berühmtesten Kompositionen kam. Dabei ist die Idee nicht allein auf Der freie Mann und das Finale der Fünften beschränkt. Eine Parallelpassage findet sich in jenem bewegenden Abschnitt des Trauermarsches der Eroica, wenn die Oboe die Melodie übernimmt und die Musik von c-Moll in C-Dur verschiebt, womit das steigende Schema C–E–G zu hören ist und das gehaltene G einem ausdrucksstarken schrittweisen Abstieg nachgibt. Die dritte Strophe von Der freie Mann lautet:

      Skizzenvergleich: »Der freie Mann« und das Finale der fünften Sinfonie

      Wer, wer ist ein freier Mann?

      Dem nicht Geburt noch Titel,

      Nicht Samtrock oder Kittel

      Den Bruder bergen kann;

      Der ist ein freier Mann!

      Der ist ein freier Mann!

      »Samtrock« und »Kittel« beziehen sich auf die Kleidung von Aristokraten und Geistlichen, deren Stand sie nicht über andere Bürger erheben sollte. Beethovens musikalisches Narrativ verstärkt Pfeffels egalitäre Botschaft, wonach sich kein freier Mensch einer Willkürherrschaft unterordnen dürfe. Die Kernaussagen Brüderlichkeit und Gemeinschaft, die sich auch in der Entscheidung für ein Chorlied widerspiegeln, werden im Finale der fünften Sinfonie noch erhöht, wenn das gesamte Orchester – erweitert um zusätzliche Instrumente wie Posaunen und Piccoloflöte – in einem Tutti seine eindringliche Wirkung entfaltet.

      Ein Klangvokabular mit rhetorischen Assoziationen zu Befreiungsideen entwickelte sich zur umfangreichsten kompositorischen Einzelleistung aus Beethovens Bonner Jahren: seine Joseph-Kantate von 1790. Erst im Jahr 1884, beinahe ein ganzes Jahrhundert, nachdem Beethoven Bonn verlassen hatte, tauchte die Partitur der Kantate auf, die in breiteren Kreisen auch heute noch eher unbekannt ist. Zur Aufführung kam das Werk 1790 nicht, was wahrscheinlich daran lag, dass es die Musiker technisch überforderte. Dabei hätte Beethoven auf die Kantate – eine bemerkenswert prophetische Einzelkomposition seiner Bonner Jahre – mit Berechtigung stolz sein können. Nach der Entdeckung des Werks bemerkte Johannes Brahms begeistert: »Es ist alles und durchaus Beethoven. Man könnte, wenn auch kein Name auf dem Titelblatt stände, auf keinen anderen raten.«

      Ein Blick auf die Partitur verrät, weshalb Beethoven die Kantate auch in späteren Jahren nie veröffentlichte, hatte er doch zwei der außergewöhnlichsten Passagen seiner Oper Fidelio aus dem Kantatenmaterial destilliert. Ein Vergleich zwischen der Kantate und der Oper (die 1805, also fünfzehn Jahre später, auf die Bühne kam) macht uns auf eine universale Qualität in Beethovens Kunst aufmerksam, die verbindende Kraft gigantischer Schlichtheit, die in der besten Musik seiner Bonner Jahre bereits präsent ist.

      Strukturiert ist die Joseph-Kantate symmetrisch aus sieben Nummern. Die Chorstücke zu Beginn und am Ende betrauern den Tod des Kaisers: »Tot! Tot! Tot, stöhnt es durch die öde Nacht, die öde Nacht.« Dieses Wehklagen in c-Moll wird von einer Reihe von Rezitativen und Arien eingerahmt, in deren Zentrum eine Sopranarie mit dem Text »Da stiegen die Menschen ans Licht« positioniert ist. Es sind die mit dem verstorbenen Kaiser gleichgesetzten positiven Werte der Aufklärung, die mit dieser ambitionierten Musik vermittelt werden.

      Dunkelheit und die Leere des Todes werden Licht und Hoffnung gegenübergestellt. Die musikalische Symbolkraft ist derart unstrittig, dass Beethoven die Motive und die Orchestrierung später vollständig für seine Oper übernehmen konnte. Auch im Fidelio tritt die Auseinandersetzung mit dem drohenden Tod in Erscheinung: Florestans Gefängnisarie beginnt mit »Gott! Welch Dunkel hier!« und wird mit den Worten »Öd ist es um mich her. Nichts lebet außer mir« fortgesetzt. Das durchdringende hohe G auf »Gott!« weicht der tieferen, resignierenden Phrase »Welch Dunkel hier«, womit die Dualität aus Hoffnung und Verzweiflung in eine einzige Äußerung zusammengefasst wurde.

      In der Kantate trauert der Chor in c-Moll, für die Gefängnisszene in seiner Oper wählte Beethoven hingegen die um eine Quinte tiefere Tonart f-Moll. Das ermöglicht den leuchtenden Wechsel zu F-Dur für Florestans Delirium und seine Visionen von Leonore, was wiederum tonal zur späteren Sostenuto-assaiPassage in derselben Tonart passt, wenn Volk und befreite Gefangene gemeinsam Zeugen davon werden, wie auch Florestan seine Ketten verliert. Ein durchdringender Aufschrei weist auf eine innere Vision hin, die ihrerseits eine erlösende Szene kollektiver Befreiung von Tyrannei andeutet – solche Erzählformen verleihen der Musik psychologische Tiefe.

      Beethovens c-Moll-Pathos ist ein langer roter Faden, der seinen Anfang mit den Neun Variationen


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