Beethoven. William Kinderman
Sohn eines Alkoholikers – seine geliebte Mutter war bereits 1787 gestorben – schlug Beethoven psychologisch betrachtet den Pfad in Richtung Kompensation durch außergewöhnliche Leistungen ein. Andererseits dürfte das tyrannische, verletzende Verhalten seines Vaters Beethovens Widerstandskräfte gestählt haben. Insgesamt schufen seine schwierige Vaterbeziehung und der frühe Verlust seiner Mutter eine Leere, die von Freunden, Vorbildern, Kunst und Ideen gefüllt wurde. Um 1784 geriet Beethoven über seine enge Freundschaft mit Franz Gerhard Wegeler in den Einflussbereich der kultivierten Familie von Breuning, die ihn mit deutscher Literatur und Poesie vertraut machte. Während der Sommer dieser Jahre dürfte er immer einige Zeit auf dem Landsitz der von Breuning in Kerpen westlich von Köln verbracht haben, wo die verwitwete Helena von Breuning eine schützende Mutterrolle gegenüber Beethoven einnahm. Wegeler wiederum studierte während der 1780er-Jahre in Wien Medizin und half, den Weg für Beethovens Rückkehr nach Wien zu ebnen. Jahre später, als ihn die Symptome seiner unheilbaren Taubheit quälten, bekannte Beethoven Wegeler gegenüber dieses Problem.
Ein bedeutendes Vorbild war der Komponist und Hoforganist Christian Gottlob Neefe, ein aus Sachsen stammender Protestant, der in Leipzig studiert hatte. Neefe war ein begeisterter Bewunderer Johann Sebastian Bachs und eifrig bemüht, dessen Vermächtnis weiterzugeben. Auch seine ersten Begegnungen mit der Musik von Carl Philipp Emanuel Bach, Haydn und Mozart verdankte Beethoven Neefe. Unter Neefes eigenen größeren Kompositionen befinden sich zwölf beeindruckende Serenaden nach Oden von Friedrich Gottlieb Klopstock. Im Jahr 1782 vertonte Neefe mit Dem Unendlichen (für vier Chorstimmen und Orchester) eine weitere Ode Klopstocks. Dieses Stück ist Teil jenes größeren Ganzen, aus dem acht Jahre später Beethovens gewichtige Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. hervorgehen sollte.
Neefe war Freimaurer, übernahm später einen Part im Illuminatenorden und trat schließlich der Lesegesellschaft bei – allesamt der Aufklärung nahestehende Organisationen. Die beiden letztgenannten Vereinigungen erfüllten in den 1780er-Jahren weitgehend die Aufgaben der 1776 in Bonn gegründeten Freimaurerloge, die sich infolge der Repressalien Kaiserin Maria Theresias aufgelöst hatte. Zu den Mitgliedern des 1781 gegründeten Bonner Kapitels des Illuminatenordens gehörten viele, die Beethoven eng verbunden waren, darunter der Hornist und spätere Verleger Nikolaus Simrock sowie der Geiger Franz Ries, der Vater von Beethovens Schüler und Freund Ferdinand Ries. Neefe war ein Anführer dieser Gruppe. Als der Illuminatenorden 1785 aufgelöst wurde, setzte der Bonner Zirkel seine Aktivitäten in der Lese- und Erholungsgesellschaft fort. Zu ihren Mitgliedern zählten viele der Schlüsselfiguren rund um Beethoven während seiner letzten Bonner Jahre, auch Graf Ferdinand Waldstein, der Beethoven in Wien wesentliche Kontakte vermittelte und in das Stammbuch des jungen Komponisten schrieb: »Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens [sic] Händen.« Welche Bedeutung die Lesegesellschaft für Beethoven hatte, mag man an der Tatsache ermessen, dass sie die Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II. in Auftrag gab.
Eine weitere wesentliche, vielfach noch unterschätzte Figur in einer prägenden Phase von Beethovens Erziehung war der »Säkularkleriker« Eulogius Schneider, der sich dem Prinzip der Volksaufklärung verschrieben hatte: Die Grundsätze der Aufklärung müssten öffentlich verkündet werden, um solcherart die Freiheit der Gedanken, die Menschenrechte, die Überwindung der Aristokratie und die Zurückweisung der kirchlichen Autorität zu fördern. Liberté, égalité, fraternité – mit Vehemenz vertrat Schneider die Ideale der Französischen Revolution und versuchte diese praktisch umzusetzen. Doch sein leidenschaftliches Eintreten für die Prinzipien der Aufklärung ließen Schneider auf jeder seiner Karrierestufen Grenzen der Konvention und der Autorität überschreiten, was immer wieder Konflikte verursachte.
Links: Eulogius Schneider: »Gedichte«. Titelseite. Privatsammlung Luigi Bellofatto
Rechts: Eine Seite aus »Gedichte«, die Beethoven als Abonnenten ausweist: Hr. van Be[e]thoven, Hofmus[ikus]. Privatsammlung Luigi Bellofatto
Im Jahr 1789, am Vorabend der Revolution, erhielt Schneider seine Berufung zum Professor der Ästhetik und der Kunst an der Bonner Universität. Gleichzeitig begann Schiller Geschichte an der Universität von Jena zu unterrichten. Und es war exakt dieses Revolutionsjahr, in dem sich der um eine Generation jüngere Beethoven an der Universität von Bonn einschrieb. Dieses zeitliche Zusammentreffen war durchaus dazu angetan, den jungen Komponisten zu beeindrucken, sah er es doch als Beispiel dafür, wie Ideen das menschliche Schicksal ganz real beeinflussen konnten. Unter all seinen Lehrern war Schneider derjenige, an dessen Karriere bald höchst anschaulich sowohl Möglichkeiten als auch Gefahren politischen Handelns abzulesen waren.
Viele seiner Texte stellte Schneider in dem Band Gedichte zusammen, der 1790 publiziert wurde. Auf der Subskriptionsliste für das Buch stand auch »Hofmusikus Bethoven« [sic] (Abb. S. 19). Eine ganze Reihe von Belegen zeugt davon, wie bedeutsam Schneider für Beethoven in jener Zeit war. Es war Schneider, der – als Mitglied der Lesegesellschaft – den Vorschlag machte, Kaiser Josephs II. Tod mit einem musikalischen Werk zu gedenken, womit er die Joseph-Kantate initiierte. Schneider selbst verfasste eine poetische Elegie auf den Tod Josephs II., die in seine Gedichte Eingang fand. Teile des Kantaten-Textes, darunter die Phrase »Ungeheuer des Fanatismus«, widerspiegeln Schneiders Einfluss, dessen Interesse für zeitgenössische Poeten wie Klopstock oder Gellert sich mit jenem Beethovens deckt. Zweifellos hinterließ der talentierte Redner Schneider mit seinem Gespür für rhetorisches Pathos einen tiefen Eindruck bei dem jungen Komponisten. Besonders nachhaltig dürfte Schneiders scharfe Kritik am katholischen Ritus und an der strengen kirchlichen Lehrmeinung im Verband mit seinen deistischen oder pandeistischen Überzeugungen gewirkt haben. Eine der Dichtungen, in denen Schneider seine Gesinnung darlegte, ist An die Theologie:
Lebe wohl Theologie!
Lange hast du mich gequälet,
Weibermärchen mir erzählet,
Und gedacht, ich glaubte sie.
Speise, wen du willst, mit Luft,
Hülle dich in falschen Schimmer:
Lebe wohl! Uns trennt auf immer
Eine himmelweite Kluft.
Ganz anders klingt, was Schneider über die Natur schrieb:
Heilige Mutter Natur!
Bist du denn stiefmütterlich mit
Dem katholischen Deutschlande umgegangen? Nein! Wer dies behauptet, der
Ist ein Undankbarer, ein Lästerer wider dich …
Heilige Mutter Natur!
Beethovens Unwille, sich dem Dogma zu fügen oder eine Messe zu besuchen, ist ebenso gut dokumentiert wie seine leidenschaftliche Hingabe an die Natur. Oft zog er während der Sommermonate aus Wien in eines der nahen ländlichen Dörfer, eine langjährige Gewohnheit, die mit seinem sechsmonatigen Aufenthalt in Heiligenstadt 1802 ihren Anfang nahm. Wahrscheinlich erinnerte ihn die Landschaft um Heiligenstadt an das Rheinland, ist die Lage von Bonn mit dem Rhein und dem Siebengebirge doch jener von Wien an der Donau mit dem Kahlenberg und dem Leopoldsberg durchaus vergleichbar, auch wenn sich Bonn und Siebengebirge an gegenüberliegenden Rheinufern befinden.
Aufgrund seiner unverblümt geäußerten Ansichten und scharfen Attacken auf den Katholizismus wurde Eulogius Schneider 1791 in Bonn entlassen, fand jedoch eine neue Wirkungsstätte im nahen Straßburg in Frankreich, wo er unter dem Revolutionsregime schnell berühmt wurde. Schneider war führend am Sturz von Bürgermeister Philippe Friedrich Dietrich beteiligt und übersetzte 1792 als erster die Marseillaise für die vorwiegend Deutsch sprechenden Elsässer. Etwa zur selben Zeit entwickelte der aus Deutschland stammende Pariser Klavierbauer Tobias Schmidt den Prototyp einer Hinrichtungsmaschine, die bald zur Anwendung kommen sollte. Schmidts Guillotine-Patent stellte sich als weitaus profitabler heraus als der Verkauf seiner Musikinstrumente.
Schneider trug entscheidend dazu