Was würde Jesus tun. Markus Schlagnitweit

Was würde Jesus tun - Markus Schlagnitweit


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andere Möglichkeit, einen Punkt hinter die menschliche Gewaltgeschichte zu setzen. Die Wucht des Angriffs muss in mir zum Erliegen kommen. Es gibt keine Rache. Das ist sehr unbefriedigend, wie ich nach einer ziemlich unglücklichen Schulzeit und vielen Jahren zermürbender familiärer Konflikte sagen kann. Die Vorstellung, das erlittene Unrecht zu potenzieren und einmal mächtig Schaden anzurichten, ist verlockend, besonders in Augenblicken besinnungsloser Ohnmacht. Wenn jedoch über Jahre keine der Parteien aus der Gewaltspirale aussteigt, stürzen sie im Allerletzten nur gemeinsam in den Abgrund. Niemand gewinnt mehr, beide verlieren, und worum es ging, ist endgültig belanglos geworden. Sich an der Eskalation nicht zu beteiligen, kann einen trotzdem das Leben kosten. Was das Gegenüber tut, ist schließlich nicht gesagt. Aber was es einem nicht nehmen kann, ist der Sinn: Das gewaltlose Handeln hält bis in den Tod den absoluten Wert des Friedens hoch. In der Auferstehung setzt Gott dahinter sein Ausrufezeichen.

      Frieden gibt es nicht ohne Wahrheit. Wer um der Harmonie willen auch noch die andere Wange hinhält oder sich Täterinnen und Tätern weiter aussetzt, um irgendeinen Schein zu wahren, oder weil das Opfer im Herzen bereits entschuldigt hat, wofür die betreffende Person keine Reue zeigt, wird an dieser Lüge todunglücklich werden und schlimmstenfalls sterben. Frieden und Wahrheit sind nur gemeinsam Ausdruck jener Liebe, die Jesus verkörpert.

      Verkörpert hat diese Liebe auch der Schriftsteller James Baldwin (1924–1987), ein wesentlicher Protagonist der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, der einen Großteil eines Lebens im selbstgewählten Exil verbrachte. In einem seiner berühmtesten Texte, einem erstmals 1962 veröffentlichten Brief an seinen Neffen James, schildert er dem Fünfzehnjährigen, was es bedeutet, ein Schwarzer in den USA zu sein. Am Ende seiner Ausführungen, die so wenig bitter wie beschönigend sind, schreibt er:

      „Bitte, lieber James, verliere in dem Sturm, der in Deinem jugendlichen Kopf wütet, nie die Wirklichkeit aus den Augen, die hinter den Wörtern Akzeptanz und Integration steht. Du hast keine Veranlassung, so zu werden wie die Weißen, und es gibt nicht die geringste Grundlage für ihre unverfrorene Annahme, sie müssten Dich akzeptieren. Die schreckliche Wahrheit ist, mein Junge: Du musst sie akzeptieren. Das ist mein voller Ernst. Du musst sie akzeptieren, und zwar mit Liebe. Eine andere Hoffnung gibt es nicht für diese unschuldigen Menschen.“ 3

      Der Friede, auf den Baldwin abzielt, ist kein Scheinfriede. Die Liebe, zu der er seinen Neffen auffordert, ist kein Entschuldigen der Gräueltaten. Sein Frieden und seine Liebe sind der Wahrheit verpflichtet, für die er in all seinen Werken Zeugnis ablegt.

      Mit jedem Nachbarschaftsstreit und mit jedem Familienkonflikt gestalten wir die Weltgeschichte. Oft halten Menschen mit ihren feindseligen Ansichten hinter dem Berg, solange sie keinen öffentlichen Zuspruch erwarten. Doch schon in diesem Moment, wenn das mörderische Gezeter in den eigenen vier Wänden losgeht, fangen sich gesellschaftspolitische Weichen zu stellen an. Schon hier keimt das Gottesreich – oder nicht.

      MARKUS SCHLAGNITWEIT

      Das „Gespräch mit den Feinden“ suchen

      Als „die gewaltigste Rede …, die ich kenne“, hat der Schweizer Schriftsteller und Dramatiker Friedrich Dürrenmatt die Bergpredigt Jesu einmal bezeichnet. „Gewaltig“ nannte er sie gewiss nicht aufgrund ihres Umfanges oder ihrer Rhetorik. Nein, gewaltig ist diese Rede aufgrund ihres Inhalts. Sie zählt zu den herausforderndsten Texten der gesamten Bibel. Manche Passagen daraus mag man noch als geradezu romantisch und jedenfalls rhetorisch gelungen empfinden – etwa die bekannten Seligpreisungen oder einige Bilder und Gleichnisse: vom Salz der Erde oder den Lilien auf dem Feld. Mit dem wahren Höhepunkt dieser großen Rede und dem Kern christlicher Existenz konfrontiert aber der Abschnitt über die Feindesliebe – und wer sich wirklich darauf einlässt, muss es geradezu als Ungeheuerlichkeit empfinden, was Jesus da seiner Gefolgschaft zumutet: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen! Segnet die, die euch verfluchen; betet für die, die euch beschimpfen.“ – Die hier erhobenen Forderungen stellen zumindest für durchschnittliche Menschen, Marke „Normalverbraucher“, nicht nur eine moralische Überforderung dar, sondern auch eine unerhörte Provokation. – Feindes-liebe!!! – Ist das nicht widersinnig? Feindschaft und Liebe sind doch rein semantisch schon als Gegensatzpaar definiert. Kann man von jemandem etwa verlangen, sich mit Wasser abzutrocknen? – Eben!

      Vielleicht sind – wie auch Daniela Feichtinger vermutet – viele Menschen in einem so wohlgeordneten Rechts- und Sozialstaat wie unserer österreichischen Heimat in der glücklichen Lage, von Ressentiment-geplagten Nachbarinnen und Nachbarn und missgünstigen Verwandten einmal abgesehen, keine echten Feinde zu haben, also niemanden, der sie abgrundtief hasst und ihre Existenz zerstören will. Aber man stelle sich nur einmal vor, was diese Worte auslösen mögen in den Ohren von Palästinenserinnen und Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen oder bei den seit Jahrzehnten um ihre Grundrechte betrogenen und verzweifelt um ihre Existenz ringenden Landarbeiterinnen und -arbeitern und Indigenen Brasiliens!

      Aber auch in sozial (noch) relativ friedlichen Gesellschaften und stabilen Rechtsordnungen hat das Wort von der Feindesliebe hohen Brennwert – und zwar im Sinne Friedrich Heers, des bedeutenden österreichischen Kulturhistorikers, Intellektuellen und Linkskatholiken: Heer publizierte 1949 sein Buch Gespräch der Feinde und setzte alleine schon mit diesem Titel einen Markstein für das Funktionieren einer modernen, pluralistischen Gesellschaft und insbesondere für die spezifische christliche Verantwortung in dieser: Die Komplexität der Moderne sei, so Heer, schlichtweg nicht zu bewältigen. Keine Ideologie oder Weltanschauung, auch keine Religion könne mit gutem Recht für sich einen Alleinanspruch auf Wahrheit und alleinige Deutungshoheit über die Wirklichkeit erheben. Das Zusammenleben in der pluralistischen Moderne könne nur gelingen, wenn die einander widersprechenden Interessen- und Weltanschauungslager sich zu dem bereitfänden, was Heer eben mit dem „Gespräch der Feinde“ meinte: den aufrichtigen und ernsthaften Diskurs mit dem jeweiligen Gegenlager – getragen von gegenseitigem Respekt und dem ehrlichen Bemühen, die Gegenseite wenigstens verstehen zu wollen, ohne ihre Meinung oder Option deshalb gleich teilen zu müssen.

      Heers unermüdliche Aufforderung zu diesem „Gespräch der Feinde“ ist auch über 70 Jahre nach Erscheinen seines Buches aktuell. Denn das echte, diskursive Gespräch auf Augenhöhe und mit offenem Visier ist in der Gegenwart schmerzlich selten geworden: Twitter bietet dafür einfach keine ausreichende Plattform. Die vielfältigen sozialen Netzwerke vervielfachen zwar das verfügbare Angebot an Informationen in bis dato ungekanntem Ausmaß, zugleich neigen sie aber dazu, ihre User und Userinnen in sozialen Blasen zu organisieren, in denen eigene Positionen tendenziell bestätigt und verstärkt anstatt an divergierenden Positionen geprüft werden. Meinungsbildungsevents, zu denen die Veranstalter ausschließlich Vertreter ihrer eigenen Position einladen, führen auch selten weiter. Und öffentliche Diskussionsrunden, in denen die Kontrahenten mehr auf Aufmerksamkeitsquoten abzielen denn auf den Austausch von Argumenten, dienen bestenfalls dem Voyeurismus des Publikums, aber keinesfalls der Findung von Wahrheit oder Lösungen.

      Vielleicht kann die jesuanische Aufforderung zur Feindesliebe auch hier weiterhelfen: Echte Liebe verlangt immer auch den Raum der Diskretion und Intimität. Ihr geht es ja um das Gegenüber, nicht um sonstige Interessen. Vielleicht kann deshalb das auch in unserer modernen Mediengesellschaft so nötige Gespräch der Feinde nur gelingen, wenn es nicht sogleich an die Öffentlichkeit dringt. Vielleicht könnte es bei einem entspannten Glas Wein oder Bier eher geführt werden – zwischen Caritas-Vertreterinnen und Identitären, Regierungsmitgliedern und Oppositionellen, Gewerkschaftern und Finanz-Jongleuren, Modernisierungsverlierern und erfolgsverwöhnten Kosmopolitinnen. Es wäre jedenfalls ein dringendes Desiderat. Aber es verlangt nach einer Vorbedingung: die Anerkennung des Gegners als gleichrangig, die Würdigung des Feindes als Menschen. Es geht in dieser Akzeptanz der Anderen keineswegs darum, ihre Position einfach zu teilen; es geht vielmehr darum, die Position der Feinde ernst zu nehmen und zumindest als würdig zu erachten, dass man sich mit ihr gewissenhaft auseinandersetzt, weil auch Feinde Würde haben. Es wird auch nicht verlangt, das vom Feind allenfalls erlittene Böse einfach zu vergessen und zu verdrängen, weil Vergessen und Verdrängen niemals heilsam sein können. Es geht vielmehr darum, dieses Böse zu unterscheiden von dem, der es verübt


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