Wie Schneeflocken im Wind. Denise Hunter

Wie Schneeflocken im Wind - Denise Hunter


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fertige Bestellungen aus, während er gleichzeitig Burger-Frikadellen wendete und Pommes in der Fritteuse versenkte. Ein grauer Pferdeschwanz hing ihm unter seiner weißen Papiermütze im Nacken heraus, und auf seiner Nase saß völlig schief eine Nickelbrille. Eden fragte sich, ob das wohl Frumpy Joe war.

      Micahs Blick schoss wild in dem Gastraum umher, und er klammerte sich gleichermaßen fest an seinen Teddybären und an ihr Bein. Als eine der Kellnerinnen ihnen zunickte, zog Eden Micah zu einem der leeren Hocker ganz in der Nähe der Tür und schaute sich dann noch einmal gründlich in dem Lokal um. Da waren eine dreiköpfige junge Familie, ein grauhaariger Geschäftsmann, der in der Harbor Tides las, und zwei Frauen mittleren Alters, die laut miteinander lachten. Ein etwas abgerissen und ungepflegt wirkender Mann starrte sie von seinem Platz ein paar Hocker weiter aus neugierig an.

      Ein Schauer durchfuhr sie, und sie schaute weg. Es ist niemand, Eden. Nur irgendein gruseliger Typ, aber sie packte die Speisekarte etwas fester.

      Sie gab ihre Bestellung auf, und dann gingen sie noch einmal zur Toilette und wuschen sich die Hände, während sie auf ihr Essen warteten. Eden hatte sich genau überlegt, was sie machen würden. Sie würden sich im billigsten Hotel in Summer Harbor ein Zimmer mieten und dann in den nächsten beiden Tagen Schlaf nachholen, so gut es ging. Das war sicher anders geplant gewesen, aber sie war bis hierher wirklich vorsichtig gewesen, sodass es höchstwahrscheinlich sicher war, vorübergehend in dieser Stadt unterzutauchen, die weit ab vom Schuss und von den ausgetretenen Pfaden lag.

      Ihr Blick und der des abgerissenen Mannes begegneten sich, und sie schaute rasch weg. Sie war froh, wenn sie hier fertig waren und wieder gehen konnten, denn ihr Bedarf an gruseligen Typen war für ihr Leben lang gedeckt.

      Kurze Zeit später aß Eden den letzten Bissen ihres Burgers und schob ihren Teller von sich weg. Micahs dünne Beine baumelten von dem hohen Hocker, und seine Superman-Tennisschuhe reichten nicht einmal bis zu der Sprosse für die Füße. Er brauchte unbedingt ein Paar feste Stiefel – und sie auch.

      „Kann ich noch was für Sie tun?“, fragte die Kellnerin und lächelte sie freundlich an. Dabei bildeten sich in ihren Augenwinkeln Unmengen kleiner Fältchen. Ihr rotes Haar war genauso künstlich wie Edens neue blonde Kurzhaarfrisur.

      „Nein danke“, antwortete Eden, zog ihre Mütze noch etwas tiefer ins Gesicht und schaute nach unten.

       Lass dich nicht auf ein Gespräch ein. Mach dich unsichtbar.

      Die Kellnerin riss die Rechnung von ihrem Block ab und legte sie auf den Tresen. Als die Frau durch das Lokal wieder wegging, ließ Eden ihren Blick noch einmal durch den Raum schweifen. Sie hatte auch zuvor schon geglaubt, sie wären sicher, und war unvorsichtig geworden – und sie hatte ja erlebt, wozu das geführt hatte. Sie hatte immer mehr das Gefühl, dass Sicherheit – Freiheit – eine Illusion war.

       Mach einfach weiter.

      Sie hatten es doch beinah geschafft.

      Micah zog eine lange Pommes durch den Ketchup und steckte sie in den Mund. Er hatte seinen Teller schon fast leer gegessen und dazu noch einen Becher Kakao getrunken. Sie fand es schön, ihn mit solchem Appetit essen zu sehen.

      Plötzlich packte er sie am Pulli und krallte sich panisch daran fest. Er sah sie mit großen, schreckensweiten Augen an, und sein Atem ging schnell und stoßweise.

      Sie legte ihre Hand auf seine und fragte: „Was ist denn? Was ist los, mein Schatz?“

      Aber er wimmerte nur und versuchte, ihr mit Blicken etwas mitzuteilen.

      Hatte er jemanden gesehen? Sie bekam Angst und ließ ihren Blick rasch noch einmal durch das ganze Lokal schweifen, aber niemand beachtete sie.

      Micah griff sich mit den Händen an die Brust, als hielte er etwas, und seine braunen Augen füllten sich mit Tränen.

      „Dein Teddy“, sagte Eden, als ihr langsam dämmerte, was los war, und Micah nickte.

      „Er ist bestimmt irgendwo hier“, beruhigte sie ihn, hob den Rucksack vom Boden auf und durchwühlte ihn, aber dort war der Teddy nicht.

      „Du hast ihn doch mit hier hereingebracht, erinnerst du dich? Du hattest ihn auf dem Arm. Wir finden ihn bestimmt wieder.“ Sie schaute unter ihren Hockern nach, und dann erinnerte sie sich. „Auf der Toilette. Du hast ihn bestimmt auf der Toilette liegengelassen.“

      Sie stieg von ihrem Hocker, zog Micah mit sich und drückte sich um die Ecke zur Damentoilette, die nur ein paar Schritte entfernt war. Dort stieß sie die Schwingtür auf und öffnete die Kabine, in der Micah gewesen war. Und tatsächlich, da saß der blaue Bär mit dem kleinen Strohhut auf dem Toilettenpapierhalter. Mit einem erleichterten Seufzer drehte sie sich um und sagte: „Schau mal, wen ich gefunden habe.“

      Micah nahm seinen Teddy, dessen blaues Fell schon ziemlich abgeliebt war, dessen gelber Strohhut am Rand ausfranste und an dessen Weste ein Knopf fehlte, und drückte ihn fest an sich. Dieser Teddy hatte schon so viel gemeinsam mit dem Jungen durchgestanden.

      Eden beugte sich vor und wischte Micah die Tränen ab. Seine Wangen waren noch babyweich, und seine dunklen Wimpern waren nass von Tränen. Die hellbraunen Augen hatte er von ihr, aber den dichten schwarzen Haarschopf ganz klar von Antonio.

      „Siehst du, er ist gesund und munter. Alles wird gut.“

      Alles, Micah. Ich versprech’s dir. Sie drückte ihn fest an sich, stand auf und nahm ihn dann auf den Arm. Er wurde größer und auch schwerer.

      Sie verlagerte sein Gewicht auf ihrem Arm, als sie die Toilette verließen und zu ihren Hockern zurückgingen, und freute sich schon auf einen schönen, langen Mittagsschlaf. Micah trank seinen Kakao aus, und sie griff nach dem Rucksack, um zu bezahlen, aber er war nicht mehr da.

      Eden drehte sich um und schaute sich in der unmittelbaren Umgebung ihres Platzes um, aber ihre Tasche war nirgends zu sehen.

      Mit Micah an der Hand hastete sie noch einmal zurück zur Toilette, obwohl sie eigentlich sicher war, dass sie den Rucksack nicht mit dort hingenommen hatte, aber wo sollte er sonst sein? Sie drückte die Tür zu der Kabine noch einmal auf und bekam langsam Panik. Vielleicht hatte die Kellnerin gedacht, sie wären schon gegangen, und hatte den Rucksack hinter den Tresen gestellt.

      Ja, so musste es sein. Natürlich!

      Mit weichen Knien hastete sie wieder zurück und glaubte eigentlich selbst nicht so recht an diese Möglichkeit.

      „Entschuldigen Sie bitte“, rief sie, als die rothaarige Kellnerin hinter dem Tresen vorbeikam. „Haben Sie vielleicht meinen Rucksack gesehen? Ich hatte ihn hier auf dem Boden abgestellt.“

      „Nein, tut mir leid. Sind Sie sicher, dass Sie ihn dabeihatten?“

      „Ja, ganz sicher“, antwortete sie.

      Das Geld! Edens Herz klopfte jetzt so heftig, dass sie glaubte, man könnte es von außen sehen. Ihr gesamtes Geld war in dem Rucksack. Sie holte einmal tief Luft und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.

      „Entschuldigen Sie“, hörte sie da eine Frau in einer Nische rufen. „Suchen Sie einen grauen Rucksack?“

      Mit einem Ruck drehte sich Eden zu der Frau um. „Ja. Haben Sie ihn gesehen?“

      „Ich habe gesehen, dass ein Mann ihn mitgenommen hat. Der Mann, der da drüben gesessen hat“, sagte sie und zeigte auf einen der Hocker. „Er hat den Rucksack genommen und ist gegangen. Es ist erst ein paar Minuten her. Ich dachte, Sie gehören zusammen.“

      Eden rannte nach draußen, Micah dicht hinter ihr, schaute erst links und dann rechts die Straße hinunter, aber der Mann war nirgends mehr zu sehen. Eine junge Frau ging in ein Geschäft neben dem Lokal.

      „Entschuldigen Sie bitte“, rief Eden ihr zu. „Haben Sie hier gerade einen Mann entlanggehen sehen? Dunkler Mantel, etwas längeres Haar, ungepflegt?“

      „Nein, leider nicht. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“


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