Wie Schneeflocken im Wind. Denise Hunter

Wie Schneeflocken im Wind - Denise Hunter


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sie mit heftig klopfendem Herzen.

      Es war noch gar nicht lange her, da hätte sie dieses Problem ganz einfach mit einem Gang zum Geldautomaten gelöst. Sie hätte lächelnd ihre Karte gezückt und alles kaufen können, was sie wollte.

      Aber inzwischen war alles anders. Sie hatte kein Geld und auch keine Karte mehr, sondern nur noch die Kleider, die sie am Leib trugen, und einen kaputten Buick, den sie nicht reparieren lassen konnte, weil sie kein Geld hatte. Panik stieg in ihr auf.

       Wie konntest du nur so blöd sein, Eden?

      Da bimmelten die Glöckchen über der Eingangstür des Lokals, und die Kellnerin kam heraus, verschränkte gegen die Kälte die Arme vor der Brust und fragte: „Und, irgendeine Spur von ihm?“

      Eden schaute sich noch einmal um, ließ ihren Blick den Bürgersteig entlangschweifen und antwortete dann: „Nein, nichts.“

      Die Frau legte ihren Arm um Edens Schultern und sagte: „Kommen Sie erst einmal aus der Kälte, und dann rufen wir die Polizei, und die …“

      „Nein!“, sagte Eden und machte sich los. „Ich meine … es ist schon gut. Nicht so schlimm.“

      „Aber Sie wollen doch den Rucksack wiederhaben, oder? Je eher wir die Polizei rufen, desto besser. Sonst ist der Kerl über alle Berge.“

      Die Polizei würde nach ihrem Namen, ihrer Adresse und ihrer Telefonnummer fragen, alles Informationen, die sie nicht preisgeben konnte. Sie durfte niemandem trauen. Ganz besonders nicht der Polizei.

      „Ist schon gut. Ich komme schon zurecht“, sagte Eden und zog mit steifen, zittrigen Fingern den Reißverschluss von Zacs Jacke hoch.

      „Also gut. Wenn es Ihnen so lieber ist. Aber es macht mir wirklich nichts aus, anzurufen.“

      „Vielen Dank, aber wir müssen uns jetzt wieder auf den Weg machen“, sagte Eden, aber plötzlich stockte sie, denn ihr fiel siedendheiß ein, dass sie ja jetzt ihr Essen gar nicht bezahlen konnte.

      „Hören Sie … in dem Rucksack war mein gesamtes Bargeld … ich werde die Rechnung bezahlen, sobald ich kann, und ich …“

      „Glauben Sie mir, meine Liebe, die paar Dollar machen mich nicht arm. Machen Sie sich darüber mal keine Gedanken.“ Und mit diesen Worten öffnete sie die Tür, schaute kurz auf Micah hinunter und dann noch einmal Eden an und sagte: „Ich hoffe, Sie bekommen Ihren Rucksack wieder.“ Dann ging sie zurück ins Lokal.

      Eden schaute die Straße hinunter, ohne etwas zu sehen. Sie besaß keinen einzigen Cent mehr und nicht einmal einen Platz, um sich aufzuwärmen. Ein Motel kam jetzt natürlich gar nicht mehr infrage. Vielleicht konnten sie ja wieder zu der Autowerkstatt zurücklaufen und dort im Wagen übernachten, auch wenn es schrecklich kalt werden würde. Sie zitterte innerlich, und das Essen lag ihr jetzt schwer im Magen. Sie musste nachdenken.

      Sie fasste Micah bei der Hand und ging mit weichen Knien und zittrigen Beinen Richtung Bibliothek. Dort konnten sie sich ein bisschen aufwärmen, während sie sich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte.

      Als sie dort ankamen, fand sie ein stilles Eckchen in der Kinderbuchabteilung. Sie suchte ein paar Bücher für Micah heraus, damit er beschäftigt war, und setzte sich auf den kleinen Kinderstuhl neben ihm.

      „Du schaust dir die Bücher an, und Mama denkt ein bisschen nach, okay?“

      Sie waren noch etwa fünf Autostunden von Loon Lake entfernt, aber in so entlegenen Gegenden von Maine verkehrten keine Busse, und Taxis gab es auch nicht. Doch das war auch eigentlich egal, denn sie hatte ja ohnehin kein Geld, um die Fahrt zu bezahlen. Blieb also nur per Anhalter, und das konnte sie mit Micah zusammen nicht riskieren, selbst wenn es Autos gab, die in die Richtung fuhren – was sie bezweifelte. Besonders, da auch noch ein Unwetter angesagt war.

      Das einzig Wertvolle, was sie noch besessen hatte – der Ring –, war schon verkauft. Sie schaute an sich hinunter auf ihre Designerjeans und den Kaschmirpulli, aber dafür würde sie secondhand nicht viel bekommen, und auch das Auto war nicht viel wert, selbst wenn es repariert war.

      Sie würden also eine Weile hierbleiben müssen, eine andere Möglichkeit sah sie nicht. Sie musste sich vorübergehend einen Job suchen, und zwar so schnell wie möglich. Die Weihnachtszeit stand ja vor der Tür, und da würden in den Geschäften sicher Aushilfen gesucht. Wenn sie erklärte, dass ihr Ausweis gestohlen worden sei, dann hatte ja vielleicht jemand Erbarmen mit ihr. Sie hatte allerdings keine Ahnung, wohin mit Micah, wenn sie arbeitete. Vielleicht gab es ja einen Kindergarten, für den eine Assistentin gesucht wurde.

      Aber ob das so kurz vor den Weihnachtsferien realistisch war?

      Sie hatten kein Geld für Essen und auch keinen Platz zum Schlafen für diese Nacht, und dann war da ja auch noch der Umstand, dass es jemanden gab, der sie umbringen wollte.

      Micah hatte die Bücher inzwischen wieder beiseitegelegt und ließ jetzt den Teddy auf seinem Schoß hopsen. Sie fragte sich, was wohl gerade in seinem Köpfchen vorging, und als sie ihm tief in seine braunen Augen schaute, entdeckte sie darin Sorge.

      „Also … eine Planänderung“, sagte sie und versuchte, ihrer Stimme einen munteren Ton zu geben. „Es sieht so aus, als müssten wir eine Weile hierbleiben. Ist doch vielleicht sogar ganz nett, ein bisschen am Meer zu bleiben, oder?“

      Sie wartete auf eine Reaktion – hoffte darauf –, und er blinzelte auch, aber die Sorge in seinem Blick blieb.

      „Ich suche mir einen Job, und dann bleiben wir ein bisschen in dieser netten kleinen Stadt. Was hältst du davon?“

      Sie würde mit der Jobsuche in dem kleinen Esslokal beginnen, und wenn sie dort niemanden einstellten, würde sie es in den Geschäften an der Hauptstraße versuchen. Micah würde sie mitnehmen müssen auf Jobsuche, was zwar nicht so schön war für alle Beteiligten, sich aber nun mal nicht ändern ließ. Wenigstens sah sie in der schicken Jeans und dem edlen Pulli einigermaßen vorzeigbar aus.

      Und dann gab es da noch ein weiteres entscheidendes Detail, das sie als Erstes angehen musste. Sie rutschte auf dem kleinen Stuhl hin und her und sagte schließlich: „Erinnerst du dich noch an das Spiel, das wir gespielt haben? Dieses Spiel, in dem du Adam heißt und ich Andrea?“

      Micah nickte, und seine Augen leuchteten auf.

      „Ja, ich weiß, dass du gewonnen hast. Aber nur mit einem Punkt und nur, weil ich einen Moment nicht aufgepasst habe.“

      Ein Lächeln umspielte seine Lippen.

      „Du warst richtig gut in dem Spiel, und ich möchte auch gerne weiterspielen, aber ich finde, wir fangen noch mal von vorne an, ja?“

      Er runzelte so heftig die Stirn, dass sich seine Augenbrauen beinah in der Mitte trafen.

      Sie wuschelte ihm durchs Haar und lachte leise. „Keine Sorge, du behältst deinen Punkt Vorsprung, aber wir machen es jetzt noch ein bisschen schwieriger, ja? Wir nehmen noch einmal neue Namen, und dieses Mal darfst du dir deinen sogar selbst aussuchen.“

      Erwartungsvoll sah sie ihn an. Eines Tages würde sie ihm eine Frage stellen, und er würde antworten. Aber nicht heute, denn er starrte sie nur mit seinem unergründlichen Blick an.

      „Wie wäre es denn mit SpongeBob?“, fragte sie mit ernster Miene.

      Micah legte die Stirn in noch tiefere Falten und sah verwirrt aus. „Nein? Dann vielleicht Pinoccio?“

      „Ach ja, richtig, der hatte ja dieses Problem mit dem Lügen. Und außerdem eine lange Nase, also ganz anders als du.“ Sie zwickte ihm ganz leicht in die Nase und fuhr fort: „Na ja, bleiben immer noch Banana, Ebenezer oder Pooter.“

      Jetzt leuchteten seine Augen, und zum ersten Mal, seit sie auf der Flucht waren, sah sie ihn lächeln. Und dann schüttelte er heftig den Kopf.

      „Ach, Mensch“, sagte sie und sah ihn jetzt streng an. „Ich hab ja gar nicht gewusst, dass du so wählerisch bist. Dann


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