Standort Bananenrepublik. Hans Christoph Buch
indem sie, statt Fahnen zu schwenken oder oppositionelle Meinungen zu artikulieren, die Lügen der Herrschenden und die Lebenslügen der Beherrschten beim Wort nehmen. Das tut auch Kafka, dessen Forschungsreisender gegen seinen Willen die Unmenschlichkeit des Strafsystems aufdeckt, das er halbherzig zu reformieren versucht.
Diese Doppelbödigkeit ist ein untrügliches Kennzeichen literarischer Qualität, deren Wahrheit im Aushalten schmerzhafter Widersprüche liegt. So haben neuere Forschungen gezeigt, daß Shakespeares Kaufmann von Venedig mit gleichem Recht als antisemitische Karikatur wie als Anklage gegen den Antisemitismus gelesen werden kann, was ähnlich für die Darstellung des Schwarzen in Othello gilt.14
Joseph Conrad starb auf den Tag genau zwei Monate nach dem 26 Jahre jüngeren Franz Kafka, am 3. August 1924. In einem seiner letzten Briefe verteidigte er die Ambivalenz der Literatur mit dem Hinweis auf »die völlige Bedeutungslosigkeit einer expliziten, eindeutigen Aussage und ihre Eigenschaft, von all dem abzulenken, was wahre Kunst ausmacht«– Worte, die seiner Erzählung als Motto voranstehen könnten.15
Wer will, kann auf jede historisch-geographische Bezugnahme verzichten und Heart of Darkness, ähnlich wie Kafkas Strafkolonie, als metaphysisches Drama lesen oder als theologische Abhandlung, in der es um Schuld und Sühne geht oder um das Ringen zwischen Licht und Finsternis. Solche Lesarten sind legitim, aber sie ignorieren den konkreten Ort, der so wenig austauschbar ist wie Berlin, Dublin oder Danzig im Werk von Döblin, Joyce und Grass. Es gibt einen genius loci der Literatur, und wer die Stromschnellen des Kongo mit eigenen Augen gesehen hat, liest Herz der Finsternis anders als jemand, der das Innere Afrikas nur vom Hörensagen kennt. Ich war zweimal an den Schauplätzen von Joseph Conrads Erzählung: 1986 in Kinshasa, dem früheren Léopoldville, wo Conrad knapp hundert Jahre zuvor am Bau des Bahnhofs beteiligt war, und 1997 bei der »Befreiung« von Kisangani, ehemals Stanleyville, durch Truppen des Rebellenführers Kabila. Damals hieß Kongo noch Zaire und wurde von dem Diktator Mobutu beherrscht, der mit vollem Namen Mobutu Sese Seko Kuku Ngbendu Wa Za Banga hieß – der Leopard, der überall, wo er hintritt, verbrannte Erde hinterläßt. Zum Zeichen seiner Häuptlingswürde trug Mobutu stets eine Mütze aus Leopardenfell und hielt zahme Geparden im Garten seines Palasts. Nach einem Besuch der VR China hatte er den Abacost eingeführt (von französisch: »à bas le costume«– nieder mit dem europäischen Anzug!), eine für die Tropenhitze völlig ungeeignete Parteiuniform, deren Herstellung Monopol von Mobutus Familienclan war. Nach der Landung nahm mich der Protokollchef des Flughafens in Empfang und führte mich an der Paß- und Zollkontrolle vorbei in die Küche des Flughafenrestaurants, wo er mir geschmuggelte Diamanten zum Kauf anbot. Unter einem Transparent mit der Aufschrift Le Beaujolais nouveau est arrivé erwarteten mich in Abacosts gekleidete Funktionäre des Schriftstellerverbands. Sie überreichten mir Giftpfeile und Speere als Willkommensgruß und machten mich mit ihrem Vorgesetzten bekannt, einem Oberst mit Stammesnarben im Gesicht, der im November 1965 die Meldung von Mobutus Machtergreifung im Radio verlesen hatte und seitdem als Medienexperte galt, dem auch die Literatur unterstand. »Das nächste Mal will ich ein Gedicht von Dir hören«, herrschte er bei einem Bankett mir zu Ehren einen zairischen Schriftsteller an, der verschämt eingestand, nur Prosa zu schreiben: »Ist das klar?« Und er drohte ihm scherzhaft mit dem Zeigefinger.
Elf Jahre später, in Kisangani, hatte sich das politische Blatt gewendet, und doch schien alles, wie in Conrads Erzählung, beim Alten geblieben zu sein. Außer Ölsardinen und Zahnpasta gab es auf dem Markt nichts zu kaufen; die Wälder waren leergeschossen, der Fluß, der zu Conrads Zeiten noch von Nilpferden und Krokodilen wimmelte, war ausgefischt, und das einzige, was es zu essen gab, war ein Fisch namens Kapitän, für den der Fischer Schadensersatz von mir verlangte, weil ein Dieb ihm den Kopf gestohlen habe – der Kopf des Kapitäns galt als bestes Stück. Die Plünderungen und Massaker beim Abzug der Regierungstruppen und beim Einrücken der Rebellenarmee, deren Chef Kabila im ehemals belgischen Offizierskasino die Vertreter der Presse empfing, beschreibe ich lieber nicht. Ich hatte das Gefühl, an einem von Gott verlassenen, von Geschichte und Geographie verfluchten Ort zu sein, an dem sich nicht viel geändert hatte, seit Joseph Conrad im September 1890 in Stanley Falls an Land gewatet war: »Auf einer kleinen Insel in der Strommitte schimmerte schwach ein kleines, einsames Licht […] Aber in der Nacht dieser ungeheuren Wildnis stand mir kein schattenhafter Freund zur Seite, kein großartiges, ergreifendes Vermächtnis, sondern nur die nichtswürdige Erinnerung an eine prosaische Zeitungssensation (Stanleys Expedition) und das ekelhafte Wissen um die widerlichste Jagd nach Beute, die je die Geschichte des menschlichen Geistes entstellt hat.«16
Anmerkungen
Siehe hierzu Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« im europäischen Kontext, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1989.
Vgl. hierzu den Katalog der »Primitivismus«-Ausstellung im Museum of Modern Art, New York 1984, sowie meine Frankfurter Poetikvorlesung: Die Nähe und die Ferne, Bausteine zu einer Poetik des kolonialen Blicks, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, S. 113 ff.
Ich zitiere hier und im folgenden nach der mustergültig übersetzten, edierten und kommentierten Neuausgabe von Daniel Göske: Joseph Conrad: Herz der Finsternis, Reclam Verlag, Stuttgart 1991, S. 129
Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen, op. cit. S. 87
Joseph Conrad: Herz der Finsternis, op. cit. S. 23. f.
A. a. O. S. 29.
Siehe hierzu Adam Hochschild: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen. Aus dem Amerikanischen von U. Enderwitz, M. Noll und R. Schubert, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2000.
A. a. O. S. 343. Zu Roger Casement siehe auch: Winfried G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1992.
Joseph Conrad, op. cit. S. 103 f.
Louis-Ferdinand Céline: Briefe und erste Schriften aus Afrika 1916 – 1917, Deutsch von Katharina Hock, Merlin Verlag, Gifkendorf 1998, S. 36 f., 84
Joseph Conrad, a. a. O. S. 62 f.
Chinua Achebe: Ein Bild von Afrika. Rassismus in Conrads »Herz der Finsternis«, Alexander Verlag,