Standort Bananenrepublik. Hans Christoph Buch
80er Jahre wiederbelebte.2
Aber nicht die Kolonisierten stehen bei Conrad und Kafka im Mittelpunkt: Die von edlen Wilden zu blutrünstigen Bestien herabgestuften »Anderen« tauchen hier, wenn überhaupt, nur als exotische Staffage auf, deren Klischeehaftigkeit von postkolonialen Kritikern zu Recht angeprangert worden ist. Im Mittelpunkt von Conrads und Kafkas Novellen steht das, was deren anglo-indischer Zeitgenosse Rudyard Kipling als White Man’s Burden bezeichnet hat, bestehend in einer vorgeblich zivilisatorischen Mission, in deren Namen Europa sich das Recht anmaßte, autochthone Kulturen zu unterjochen, um diesen seinen durch Bibel, Dampfmaschine und Glühbirne verkörperten Fortschritt nahezubringen. Im Sinne der Hegelschen Dialektik von Herr und Knecht, die beiden Erzählungen zugrundeliegt, findet ein Rollentausch statt: Der europäische Protagonist – nicht von ungefähr ein Mann – wirft seine Humanität über Bord und wird zu dem, was er im Bild der »Anderen« bekämpft, zum Raubtier, das seine animalischen Instinkte ungehemmt ausleben darf. Das Adjektiv animalisch steht hier nicht von ungefähr, denn die Bestialisierung des Menschen (und die Vermenschlichung des Tiers) findet in noch kruderer Form in den gleichzeitig entstandenen Romanen von Jack London und Rudyard Kipling (Wolfsblut, Dschungelbuch) statt – oder in den Tarzan-Büchern von Edgar Rice Burroughs, wo der Vulgärdarwinismus mit Händen zu greifen ist. Auch das Klischee vom Dschungel der Großstadt, das die NS-Propaganda gegen die sogenannte Asphaltliteratur ins Feld führte, gehört in diesen Zusammenhang.
Was Conrad und Kafka, der selbst Tierfabeln schrieb, von solchen Trivialmythen unterscheidet, ist der antizipatorische Charakter ihrer Werke, der deren Wirkung zu Lebzeiten der Autoren beeinträchtigte, in den Jahrzehnten nach ihrem Tod aber überdeutlich zutage trat. Gemeint ist der utopische Gehalt dieser Erzählungen, in denen der totalitäre Staat literarisch vorweggenommen scheint, obwohl dessen Menschenvernichtungspotenzial sich damals noch in der Latenzphase befand: Sowohl Kafkas Strafkolonie als auch Conrads Herz der Finsternis wurden und werden, mit dem Wissen der Nachgeborenen, als Vorausdeutungen auf Hitlers Konzentrationslager wie auf Stalins GULAG gelesen. »Das Grauen! Das Grauen!« Die letzten Worte des sterbenden Protagonisten Kurtz belegen dies ebenso wie der nachgelieferte Kommentar von Conrads alter ego Marlow: »›Wie der Mann reden konnte! Große Versammlungen hat er förmlich elektrisiert […] Er hätte einen glänzenden Führer für eine extreme Partei abgegeben.‹ ›Welche Partei?‹ fragte ich. ›Jede Partei‹, versetzte der andere.«3
Auch der Offizier in Kafkas Strafkolonie, der die von seinem Vorgänger ersonnene Folter- und Hinrichtungsmaschine in Gang hält, sieht sich, ähnlich wie der Massenmörder Kurtz, als Künstler, dessen einsame Genialität das Publikum nicht versteht. Noch offensichtlicher wird der Brückenschlag zum Nationalsozialismus beim Blick auf die wichtigste Quelle von Kafkas Erzählung, das 1912 erschienene Buch des Strafrechtsexperten Robert Heindl Meine Reise in die Strafkolonien, auszugsweise vorabgedruckt in der Prager Zeitung Bohemia, die Kafka regelmäßig las. Ähnlich wie der Forschungsreisende in Kafkas Text lehnte der durch die Einführung des Fingerabdruckverfahrens bekannt gewordene Heindl die Einrichtung von Strafkolonien für das Deutsche Reich ab, nicht etwa aus menschenrechtlichen, sondern aus staatspolitischen Erwägungen, weil er den ökonomischen Nutzen der Zwangsarbeit beim Aufbau der Kolonien bezweifelte. Trotzdem blieb Heindl überzeugt von der Unheilbarkeit von Verbrechern, die er, analog zur späteren NS-Justiz, in die Nähe von Geisteskranken rückte, was den studierten Juristen Kurt Tucholsky zu dem Stoßseufzer veranlaßte: »Es gibt besserungsfähige Verbrecher, aber es gibt unverbesserliche Geheimräte.« In seiner Kritik an Heindls Buch kommt Tucholsky, der Kafkas Strafkolonie wohlwollend rezensiert hat, zu einem vernichtenden Schluß, der wie ein vorweggenommener Kommentar zum Eichmann-Prozeß klingt und sich direkt auf Conrads Erzählung übertragen läßt: »Fast alle diese Fachleute aber sind in ihrem Apparat befangen, empfinden das Unrecht nicht mehr, sondern achten nur auf seine formalunanfechtbare Durchführung, als ob Verordnungen, Bestimmungen und Reglements ihre Taten deshalb weniger verbrecherisch erscheinen ließen!«4
Anders als Kafkas Strafkolonie hat Herz der Finsternis einen auf persönlichem Erleben beruhenden, autobiographischen Kern. Im April 1890 verdingt sich Joseph Conrad in Brüssel als Seemann bei der Société Anonyme Belge pour le Commerce du Haut-Congo und fährt mit einem französischen Dampfer von Bordeaux nach Westafrika. Schon die Schilderung des ersten Anblicks der afrikanischen Küste nimmt das deprimierende Fazit der Erzählung vorweg – eine Kolonialismuskritik, die nicht abstraktem Vorwissen, sondern dem konkreten Augenschein entspringt: »Die Flagge des Schiffs hing wie ein Lappen schlaff herab, […] die schmierige, schleimige Dünung hob und senkte es träge, so daß sich seine dünnen Maste hin und her wiegten. Da lag es, in der öden Unermeßlichkeit von Erde, Himmel und Wasser, unbegreiflich, und feuerte auf einen Kontinent […] Etwas Irrsinniges lag in diesem Vorgehen, eine erbärmliche Komik in diesem Anblick; und dieser Eindruck wurde auch dadurch nicht zerstreut, daß mir jemand an Bord ernsthaft versicherte, daß dort ein Lager der Eingeborenen – er nannte sie Feinde – versteckt sei, irgendwo außer Sichtweite.«5
Ein Seestück wie von William Turner, aber anders als die Bilder des britischen Marinemalers ist der Text aufgeladen mit politischer Bedeutung, obwohl oder weil mit keinem Wort von Politik die Rede ist – Ethik und Ästhetik sind, wie stets bei Conrad, zwei Seiten derselben Sache. Nach der Landung in Matadi und auf dem beschwerlichen Fußmarsch nach Léopoldville, heute Kinshasa, wird Joseph Conrad Zeuge der sogenannten Kongo-Greuel, von der belgischen Kolonialverwaltung angerichtete Massaker, denen zwischen 1885 und 1910 nach Schätzungen von Historikern bis zu zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. »Traf einen Offizier vom Staat bei der Inspektion; sah ein paar Minuten später an einem Lagerplatz die Leiche eines Backongo. Erschossen? Unerträglicher Gestank«, notiert Conrad am 3. Juli in sein Reisetagebuch. Und am 4. Juli: »Sah noch eine Leiche am Rand des Pfads in der Haltung nachdenklicher Ruhe.« Für den Weg von der nüchternen Feststellung zur literarischen Beschreibung gibt die folgende Passage Regel und Beispiel zugleich, wobei der Autor, anstatt alle Register seiner Erzählkunst zu ziehen, auf wenige, suggestive Bilder vertraut und die moralische Schlußfolgerung dem Leser überläßt: »Das schwarze Gerippe lag in voller Länge ausgestreckt mit einer Schulter gegen den Baum; langsam hoben sich die Lider, und die tiefliegenden Augen sahen zu mir auf, riesengroß und leer, mit einem blinden weißen Flackern in der Tiefe der Augäpfel, das langsam erstarb […] Ich wußte nichts Besseres, als ihm ein Stück Schiffszwieback […], das ich in der Tasche trug, anzubieten.«6
Der Scharfblick des Reisenden, der schon an den ersten Anzeichen das Ausmaß der Tragödie ermißt, ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß Joseph Conrad nur die Frühphase der Annexion des Kongo-Gebiets erlebt hatte, das auf der Berliner Konferenz 1885 dem belgischen König Leopold II. als Privatbesitz zugesprochen worden war – ein als philanthropischer Akt getarnter Völkermord, der in der neueren Geschichte seinesgleichen sucht. Conrads Erzählung schildert die Jagd nach Elfenbein, schon vor Henry Morton Stanleys Durchquerung des afrikanischen Kontinents ein begehrter Exportartikel, der zu Schachfiguren, Schmuck oder Klaviertasten verarbeitet wurde. Im Auftrag Leopolds II. schloß Stanley mit im Einzugsgebiet des Flusses ansässigen Stammesfürsten Verträge, für die das Beiwort »ungleich« noch zu schmeichelhaft ist, denn anders als die Ureinwohner Amerikas traten die Häuptlinge nicht nur ihr Land, sondern auch dessen Bewohner an Belgiens König ab, der sie als Lastenträger und Holzfäller zwangsrekrutieren und beim Straßenbau zugrundegehen ließ. Nachdem auf den von Stanley gebahnten Pfaden die Elefantenherden dezimiert worden waren – der Imperialismus war auch das Zeitalter der Großwildjagd – trat ein anderer Rohstoff an die Stelle des Elfenbeins. Der von Brasilien ausgehende Kautschukboom, damals noch auf Wildpflanzen beschränkt, brachte keine Erleichterung für die Bewohner des Kongobeckens, im Gegenteil – die Zwangseinziehung der Männer zum Kautschuksammeln ließ die Sterberate erneut hochschnellen. Wer weniger als die vorgeschriebene Menge ablieferte, wurde durch Auspeitschen, Abhacken der Hände oder