Als Lehrer in Gotha/Thüringen 1950–1990. Heinz Scholz
in jenen Jahren wurde verordnet, dass jeder Klassenlehrer einmal in der Woche eine „Zeitungsschau durchführen“ musste. Aktuelle Berichte von politischen Geschehnissen oder Reden von Walter Ulbricht oder von sonst wem mussten auszugsweise gelesen und erläutert werden. Die meisten Kollegen/innen absolvierten diesen Auftrag formal. Schüler brachten das „Neue Deutschland“ mit, und da wurde einfach ein Textausschnitt vorgelesen. Somit konnte, ins Klassenbuch eingetragen, die Erfüllung dieser Pflichtaufgabe nachgewiesen werden.
Der Deutschunterricht blieb damals vor überzogener Politisierung verschont. – Für relativ hohe Anforderungen in Orthographie und Grammatik war ein hoher Anteil der Deutsch-Unterrichtsstunden vorgesehen. Wir hatten damals mehr Zeit zum Üben als in späteren Jahren. Es wurden zahlreiche Übungsdiktate und Kontrollarbeiten geschrieben, was zu guten Ergebnissen beitrug. Dagegen waren speziell für den Sprachlichen Ausdruck wenig Unterrichtsstunden eingeräumt. Den Literaturlehrplan in den Klassen 5 – 8 hielt ich für angemessen. Er bot geeignete Beispiele aus schöner Lyrik und guter Prosa, vorwiegend aus der deutschen Literatur des 18./19. Jahrhunderts, folgte auch der Vermittlung eines klassischen humanistischen Menschenbildes und flankierte so indirekt die harte Klassenkampf-Ideologie. Zwar gab es neben vertretbaren antifaschistischen Gedichten oder Texten von Gorki, Weinert und Becher … auch einige schwache Lesebuchtexte aus der „neuen sozialistischen Literatur“, mit denen der „neue, sozialistisch Mensch“ der Gegenwart zum Vorbild erhoben werden sollte. Doch diese Absicht führte bei Schülern wie bei Lehrern nicht zum gewünschten Erfolg.
Wie im Laufe der 50er Jahre auch der Deutsch-Lehrplan infolge der „politischen und gesellschaftlichen Entwicklung“ verändert wurde, das kann man an Hand folgender Beispiele sehen:
Bis in die Mitte der 50er Jahre war nach dem Deutschlehrplan für die 8. Klasse ein Ausschnitt aus Schillers „Wilhelm Tell“ mit der Rütliszene zu behandeln. Wir wissen: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr … “! Wenn ich mich recht erinnere, war der Rütli-Schwur sogar einmal zum zentralen Thema des Deutsch-Aufsatzes in einer Abschlussprüfung am Ende der 8. Klasse erhoben worden. Es ist völlig klar: Wenige Jahre später, mit der deutlichen Abgrenzung von der „feindlichen“ Bundesrepublik und erst recht nach dem „Mauerbau von 1961“, war der Rütli-Schwur im Lehrplan gestrichen.
Ein andermal, ich glaube 1951, war ich als Hospitant bei einer Modell-Unterrichtsstunde meiner Kollegin und damaligen Mentorin B. zugegen. Der Schulrat Linde (in seiner Thälmann-Mütze) war gekommen, um zu sehen und zu kontrollieren. Marlies B. hatte in dieser Unterrichtsstunde im Fach Erdkunde die Schüler in den Stoffkomplex „Der Doppelkontinent Amerika“ einzuführen. Sie eröffnete ihren Unterricht, indem sie aus einer großen Einkaufstasche ein Paket, ein ziemlich auffällig präpariertes Postpaket, herausholte und mit lebendiger Beredsamkeit den Schülern erzählte, dass sie dieses (oder so ein ähnliches) Paket jüngst von ihren Verwandten aus Amerika geschickt bekommen habe! Die Anschrift des Absenders wurde groß und breit an die Tafel geschrieben, und natürlich dann die Frage nach Ort und Land des Absenders in den Mittelpunkt gestellt. Mit dieser spannenden „Zielangabe“ ging man nun daran, mit Hilfe der aufgerollten Landkarte und der Schüleratlanten den Zielkontinent Amerika und insbesondere die Stadt des Absenders in den USA topographisch auszumachen. Auf diese Weise wurden die Schüler – nach dem didaktischen Prinzip „Vom Nahen zum Entfernten“ – hingeführt zu jenem fernen Kontinent und Land, das man in der Folge nun im Unterricht näher kennen lernen wolle. Der Schulrat lobte danach diesen lebendigen, geschickten methodischen Griff der Lehrerin! – Es liegt auch auf der Hand, was ich sagen will: Sechs Jahre später hätte ein Schulrat die Kollegin Beck für diesen „politisch verantwortungslosen Missgriff“ hart verurteilt … Nebenbei bemerkt: Heute, im Medienzeitalter, wo sich schon zehnjährige Kinder – ohne Hilfe der Schule – „in Amerika gut auskennen“(!?), erscheint diese einfache Zielorientierung fast simpel und beinahe lächerlich. Doch man sollte bedenken: Solch eine „leicht und interessant gemachte“ Unterrichtseinführung vor 50 Jahren berücksichtigte ganz gewiss das eingeengte Bildungsspektrum, das als Folge der „Gleichschaltung“ des Denkens und Wissens in der Nazi-Ära noch in den Nachkriegsjahren bei vielen Menschen nachwirkte. Ich denke, auch wir Neulehrer-Studenten waren auf dieses Wissensniveau eingestellt worden – didaktisch und methodisch.
Der frontale Unterricht hatte damals den Vorrang. Nach Einstimmung oder Hinführung folgte der Lehrervortrag, und Wiederholungen und Übungen dienten danach der Festigung des Wissens und Könnens. Die Mädchen und Jungen folgten gutwillig unserer Unterrichtsführung. Sie hatten Respekt vor den Lehrern, waren aus Gewohnheit autoritätsgläubig und fügten sich im Allgemeinen unseren Forderungen. Wenn man nicht grundsätzlich ungeschickt oder unpädagogisch vorging, entstanden kaum nennenswerte Disziplinprobleme. Natürlich gab es in jeder Klasse den einen oder anderen „schwierigen“ Schüler, auf den sich der Lehrer einzustellen hatte. Doch die damals an unserer Schule herrschende gute Lern- und Arbeitsatmosphäre begünstigte die Arbeit des Lehrers. Die öffentliche Meinung unter den Schülern einer Klasse war fast immer gegen Faulenzer und Störenfriede gerichtet. Eine solche Mehrheit war möglich, weil damals – nach dem Prinzip der Einheitsschule – bis zur 8. Klasse alle Kinder, „gute“ wie „schlechte“ Schüler, gemeinsam unterrichtet wurden und die „positiven“ in der Klassengemeinschaft „guten“ Einfluss nehmen konnten. Zum anderen waren die Nachkriegsjahre mit Not und Armut, auch mit der üblichen oder erneut erzwungenen Unterordnung nicht dazu angetan, dass man sich mutig oder absichtlich dem Lehrer widersetzt hätte. Ich denke auch, Schüler und Lehrer fühlten sich – ähnlich wie in einer Notgemeinschaft – miteinander verbunden. Und wenn der Lehrer sichtbar einen Fehler machte oder irgend etwas nicht wusste und dies offen eingestand, dann verlor er längst nicht sein Gesicht. „Das müssen wir klären!“ so könnte er gesagt und damit die Kinder einbezogen haben in das selbstverständliche gemeinsame Streben nach Wissen und Können.
Ich fühlte mich als Lehrer gut damals – im Unterricht wie im Zusammensein mit meinen Schülern. Man vertraute mir … .
Ein erschwerender Umstand für uns Lehrer/innen waren die hohen Klassenstärken. Meine erste Klasse 1950 hatte 45 Mädchen und Jungen. Da saßen sie eng gedrängt in den alten Viersitzer-Bänken; jedoch gab es dadurch noch genügend Platz im Klassenraum, und der Lehrer konnte diesen dichten Schüler-Block gut übersehen. Auch die schriftlichen Korrekturen in so hoher Zahl forderten vom Lehrer mehr Kraft und häusliche Arbeitszeit. Gemäß dieser hohen Klassenfrequenz brauchte der Klassenlehrer auch mehr Zeit für die individuelle Förderung und Betreuung der Schüler und für die Zusammenarbeit mit den Eltern. – Nur langsam konnte man in den folgenden Jahren die Klassenstärken reduzieren.
Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder
Sorge und Skrupel bereitete mir, besonders in jenen ersten harten Jahren der DDR, die gerechte Bewertung von Leistungen, Charakter und Persönlichkeit eines Schülers unter Berücksichtigung seines sozialen Milieus. Denn die Förderung der Arbeiter- und Bauernkinder, ein vom Staat dem Lehrer vorgegebener politisch-ideologischer Erziehungsauftrag, hatte höchste Priorität!
Diesem Prinzip wollte ich, selbst aus dem Arbeiterstand kommend, auf vernünftige Weise gern nachkommen, wenn man bedenkt, dass bei Kindern aus unbemittelten Arbeiterfamilien Bildungsvorlauf und -unterstützung geringer war als bei Kindern in Familien des Bildungsbürgertums. Und es ist unter demokratischen Verhältnissen selbstverständlich, den Unbemittelten zu gleichen Bildungschancen zu verhelfen und sich solcher benachteiligten Schüler in der Schule entsprechend anzunehmen.
Aber die Vorschrift, Arbeiterkinder aus rein politischen Gründen zu privilegieren, sie anderen tüchtigen und ebenso charakterlich wertvollen Kindern vorzuziehen, das hat in Einzelfällen zur Gewissensbelastung des Lehrers geführt. Da wurde beispielsweise ein „bürgerlicher“ Schüler mit einem Leistungsdurchschnitt von 1,7 abgelehnt, während ein Arbeiterkind mit 2,3 zum Oberschulbesuch zugelassen wurde. Besonders, wenn es sich bei dem Kind „bürgerlicher Eltern“ um einen leistungsfähigen, sozial positiv eingestellten, charakterlich anständigen jungen Menschen handelte, war eine Zurückstellung und Ablehnung von Seiten der Schule kaum zu unterstützen. Man hätte beiden Schülern zu gern die Chance eines Oberschulbesuchs