Der Hüter der Sphären. Chris Vandoni
Bezeichnungscodes, doch mit demselben Resultat.
Der nachfolgende Gedanke behagte ihr überhaupt nicht. Aber es war die einzige verbleibende Möglichkeit, vielleicht doch noch herauszufinden, um was es sich bei diesen Codes handelte.
Vor einiger Zeit hatte Kim ein eigenes Dechiffrierungsprogramm entwickelt. Sie hatte fast drei Jahre lang daran gearbeitet und einen völlig neuen Entschlüsselungsalgorithmus programmiert. Da dies jedoch nicht zu ihrem Aufgabenbereich gehörte und sie sich mit einer solchen Applikation unter Umständen viel Ärger einhandeln konnte, hatte sie es nie im Konzernnetz gespeichert. Sie trug es in ihrem Kommunikator mit sich und hatte eine Kopie davon zu Hause auf einem digitalen Datenträger gespeichert. Niemand wusste etwas davon und sie würde sich hüten, jemandem davon zu erzählen, hatte dieses Programm bei den Tests die unglaublichsten Verschlüsselungen geknackt.
Kim starrte auf das Display und überlegte, ob sie es wagen sollte, diesen Code mit ihrem eigenen Programm zu knacken. Falls es sich überhaupt um einen verschlüsselten Code handelte. Unauffällig griff sie nach ihrem Kommunikator, sah kurz zu Jerry, der ihr nach wie vor den Rücken zuwandte, und startete die Applikation. Aus Sicherheitsgründen tippte sie einen der Codes manuell ein anstatt ihn zu übertragen und startete die Dechiffrierung. Als sie sich vergewissert hatte, dass die Applikation ordnungsgemäß lief, legte sie den Kommunikator zurück und wartete.
Die Sekunden schienen nicht enden zu wollen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen und tat, als würde sie das Display ihres Terminals studieren. Dabei schielte sie immer wieder abwechselnd rechts zu Jerry und links auf ihren Kommunikator und hoffte auf ein baldiges Ergebnis.
»Hast du etwas gefunden?«, vernahm sie plötzlich Jerrys Stimme.
Sie fuhr erschrocken herum. »Äh … nein. Ich suche nicht weiter danach.«
»Sag einfach, wenn ich dir helfen kann.« Er hatte sich lediglich auf seinem Drehstuhl zu ihr umgewandt und war zum Glück nicht aufgestanden und zu ihr herübergekommen.
»Okay.«
Kim versuchte, sich wieder zu beruhigen, indem sie auf ihr Display sah und einmal tief durchatmete.
Plötzlich erkannte sie aus dem Augenwinkel eine Veränderung auf dem Kommunikator. Ihre Applikation hatte die Zeichen als Code erkannt und entschlüsselt. Statt des vorherigen Begriffs stand nun ein anderer da, der aus wesentlich mehr Zeichen bestand.
Kim rief erneut das Suchprogramm der Konzerndatenbank auf und übertrug den neuen Suchbegriff wiederum manuell von ihrem Kommunikator auf das große Display. Dann startete sie die Suche und wartete. Es dauerte nicht lange und es erschien ein Dokument mit dem Vermerk Streng geheim. Sie war derart verblüfft, dass sie den Bildausschnitt mit dem Finger zur Seite schob und sofort einige Folien darauf legte. Was zum Henker hatte sie hier ausgegraben?
Bestimmt hatte die Datenbank ihre Suche registriert. Dies konnte sie in arge Schwierigkeiten bringen. Das Beste war, diese Registrierung selbst zu löschen. Doch dazu benötigte sie die Berechtigungsstufe eines System-Administrators. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass sie sich zu einem gesperrten Bereich Zugang verschaffte. Sie war sich im Klaren, dass es auch in diesem Fall so sein musste, um keine Spuren zu hinterlassen.
Zehn Minuten später war der Registrierungseintrag ihrer Datenbanksuche im Systemprotokoll gelöscht. Jerry hatte sie während der gesamten Aktion nicht behelligt.
Sie kopierte das gefundene Dokument auf ihren Kommunikator und entfernte es von ihrem Display. Anschließend erhob sie sich, schlenderte unauffällig in Richtung Ausgang und verschwand in der Toilette, wo sie sich in eine Kabine einschloss, ihren Kommunikator hervorholte und das Dokument öffnete. Es enthielt viele Seiten Text und Abbildungen von schematischen Darstellungen, die ihr auf den ersten Blick nichts sagten.
Dann begann sie zu lesen. Es war die Rede von intelligenten Nanoprozessoren, die aus Nanopartikeln hergestellt worden waren. Doch die Beschreibung dieser Nanopartikel war sehr vage. Ungläubig las sie von den Einsatzmöglichkeiten dieser Nanoprozessoren. Es gab Abbildungen, die diese illustrierten. Sie entdeckte neuartige Geräte, die noch gar nicht existierten.
In der Hoffnung, in dem Dokument irgendwo eine detailliertere Beschreibung über diese geheimnisvollen Nanopartikel zu finden, las sie weiter. Als sie zur letzten Seite gelangt war, musste sie enttäuscht feststellen, dass weitere Erklärungen fehlten.
Doch eine andere Tatsache verblüffte sie. Der Hersteller dieser Nanoprozessoren war nicht etwa ein Elektronikunternehmen, sondern der weltgrößte Pharmakonzern Norris & Roach Labs Inc., über den sie mit Benjamin Rosenberg neulich gesprochen hatte.
10.
Als Christopher aufwachte, stellte er fest, dass er in Cabin Point in seinem Bett lag. Von draußen schien die Sonne zwischen den Lamellen hindurch und verbreitete eine angenehme Wärme im Raum. Er spannte seine Muskeln an und streckte sich. Als er den Kopf nach links drehte, sah er, dass Michelle nicht neben ihm lag. War sie bereits aufgestanden? Da er einen leichten Schlaf hatte, hätte er dies eigentlich bemerken müssen.
Er schlug die Denke zurück, schob die Beine über die Bettkante und stellte die Füße auf den Boden. Ein kurzer Blick nach unten vermittelte ihm für einen Augenblick den Eindruck, als hätte sich etwas bewegt. Doch als er sich darauf konzentrierte, konnte er nichts Ungewöhnliches erkennen.
Er erhob sich und wollte nach seinen Shorts greifen, die für gewöhnlich auf dem Sessel neben dem Bett lagen. Doch sein blinder Griff ging ins Leere.
Da war kein Sessel.
Halb gebückt richtete er seinen Blick auf diese Stelle. Aber sein Blick traf direkt den Fußboden, auf dem er wieder eine winzige Bewegung beobachten konnte. Doch als er sich erneut darauf konzentrierte, war da wieder nichts.
Als er sich umdrehte, um dem Wandschrank ein paar frische Kleidungsstücke zu entnehmen, starrte er entsetzt an die kahle Wand. Wo eigentlich der Schrank hätte stehen müssen, war nichts. Was war hier los? Träumte er?
Der Traum! Jetzt fiel es ihm wieder ein. Er hatte einen sehr deutlichen Traum gehabt. Michelle und er waren mit der hochschwangeren Neha ins TONGA-System geflogen und am Nordpol des dritten Planeten gelandet. Sie hatten sich mit Kevin Steffen getroffen und waren zusammen im Tauchboot zur Sphäre hinuntergetaucht, die auf dem Grund des untereisischen Sees lag. Dort waren sie von der Sphäre ins Innere transferiert worden. Er konnte sich noch daran erinnern, in die große, blaue Höhle gegangen zu sein. Aber dann war der Traum plötzlich zu Ende.
Wieder drehte er sich um und sah sich auf der Suche nach Kleidungsstücken im Zimmer um. Es gab jedoch keine. Auch das Tischchen, das sonst vor dem Fenster stand, war verschwunden. Er machte drei Schritte in die Richtung und zog die Fensterstore hoch.
Als er nach draußen blickte, traf ihn beinahe der Schlag. Wo normalerweise die Wellen an die Küste der Whiting Bay brandeten, klaffte ein riesiges, dunkles Loch. In diesem Loch gab es rein gar nichts. Nicht das geringste Körnchen irgendeiner Materie. Kein Fünkchen Licht. Einfach nur tiefste Schwärze.
Spontan erinnerte sich Christopher an das Abenteuer auf MOLANA-III, als sie in einer Sphäre mit den aggressiven Partikeln konfrontiert worden waren. Diese Partikel hatten jegliche Materie assimiliert. Wie er aus den Berichten seiner Freunde erfahren hatte, hatte sich die Sphäre am Ende selbst zerstört. Zurück blieb auch damals nur dunkelste Schwärze.
War es möglich, dass diese aggressiven Partikel zur Erde gelangt waren? Oder bestand die Möglichkeit, dass es auf der Erde selbst derartige Partikel gab? War dies die Bedrohung, vor der ihn Ahen gewarnt hatte?
Falls dies zutraf, war alles verloren. Nichts konnte diese Partikel aufhalten. Allerdings wusste niemand, was passieren würde, wenn die Partikel sämtliche Materie assimiliert hatten und es nichts mehr gab. Würden sich die Partikel dann selbst vernichten? Würde danach nur noch ein schwarzes Loch zurückbleiben?
Christopher riss das Laken vom Bett und band es um seine Hüften. Dann ging er zur Tür und öffnete sie mit einem mulmigen Gefühl. Was würde ihn draußen im Flur erwarten?
Ein Blick durch den Türspalt vermittelte ein völlig normales