Der Hüter der Sphären. Chris Vandoni

Der Hüter der Sphären - Chris Vandoni


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am wenigsten entwickelt gewesen und entsprachen am ehesten den Vorstellungen einer Steinzeitgesellschaft. Der größte Teil ihrer Nahrung bestand aus gesammelten Wurzeln und Beeren. Bei der Jagd benutzten sie nicht Pfeil, Bogen oder Speer, sondern unförmige Kriegskeulen. Normalerweise erlegten sie nur Kleinwild wie das Präriekaninchen.

      In vorkolumbianischer Zeit lebten die Shoshonen in kleinen Familienverbänden, die sich vorwiegend vom Sammeln von Wildgrassamen, Wurzeln und Beeren sowie Insekten und Maden ernährten. Kleintiere wie Mäuse und Schlangen wurden gefangen, Hasen und Antilopen bei Treibjagden in Netze getrieben und mit Stöcken erschlagen.

      Um das Jahr 1700 herum veränderten sie ihre Lebensweise entscheidend, nachdem es ihnen gelang, verwilderte Pferde zu zähmen. Die Gesellschaft wandelte sich von einer weitgehend egalitären zu einer stärker hierarchisierten.

      Da das Große Becken eine unwirtliche und trockene Region war, traf der Stamm erst im neunzehnten Jahrhundert auf die ersten Weißen. Bis Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebten die Stammesnachfahren in vielen kleinen und verstreuten Reservaten in Idaho, Wyoming und Nevada.

      1985 lebten noch rund zweitausend Stammesangehörige. Doch bis zum heutigen Tag waren sie nur noch verstreut anzutreffen. Durch Vermischung mit der weißen Bevölkerung waren reine Abkömmlinge fast ausgestorben.

      Kim setzte sich auf die Steinplatte und ließ ihre Füße über dem Abgrund baumeln. Die Temperatur war nicht allzu warm. Trotzdem schirmte sie ihr Antlitz mit einer Baseballmütze ab, die sie tief ins Gesicht gezogen hatte. Ein Seidentuch, das von der Mütze fixiert wurde, bedeckte ihren Nacken und die Kopfseiten. Um ihre Schultern trug sie eine lange Seidentoga, die ihren Körper bis zu den Knöcheln vor schädlicher Sonnenstrahlung schützte. Seit die Ozonschicht vor Jahrzehnten zu einem großen Teil zerstört worden war, war die Gefahr von Verbrennungen erheblich gestiegen.

      Sie stützte ihre Hände auf der Steinplatte ab und spürte die Wärme, ließ sie nach kurzer Zeit gleich wieder unter ihre Toga gleiten.

      Über dem Abgrund ließen sich ein paar Raben durch die Luft gleiten und hielten nach Beute Ausschau. Die Jungvögel trieben die Eltern ständig zur Futtersuche. Halsbandleguane und andere Echsen gehörten zu ihrer bevorzugten Nahrung. Am frühen Morgen, wenn die wechselwarmen Echsen aus ihren Verstecken kamen, um sich in der Sonne aufzuwärmen, waren viele noch zu langsam, um sich vor den Schnäbeln der Rabeneltern in Sicherheit bringen zu können. Bevor sie den Jungen verfüttert werden konnten, mussten sie allerdings erst in schnabelgerechte Happen zerhackt werden.

      Rotschwanzbussarde gehörten zu den wenigen natürlichen Feinden der Raben und hatten es auf deren Nachwuchs abgesehen. Wurde der Raubvogel gesichtet, hoben die Rabeneltern ab, um ihn zu verjagen. Sie verfolgten den Feind so lange, bis er aufgab und sich vom Nest entfernte. Die Raben waren sowohl am oberen Canyonrand als auch am Boden zu Hause. In den Schluchten waren die Vögel weitgehend ungestört. Nur wer fliegen konnte oder über einen sicheren Tritt verfügte wie die Dickhornschafe, konnte die steilen Abgründe von teilweise eintausendsechshundert Metern Tiefe überwinden.

      Kim vernahm ein Geräusch und blickte zur Seite. Neben ihr hockte ein Squirrel, eine Art Eichhörnchen, und suchte nach Nahrung. Es näherte sich Kim bis auf einen halben Meter und sah ihr bettelnd in die Augen.

      »Hallo Kleiner«, sagte sie, worauf der Squirrel den Kopf zur Seite neigte und ein leises Piepsen von sich gab. »Moment mal, ich hab was für dich.« Kim kramte in ihrer Gürteltasche, die sie sich unter der Toga um die Hüften geschnallt hatte, nach dem Beutel mit Brotresten und warf dem Tier nacheinander kleinere Stücke hin. Der Squirrel griff mit einem dankbaren leisen Pfeifen danach, nahm eines nach dem anderen zwischen die Pfoten und knabberte daran, bis es verschwunden war.

      Nach kurzer Zeit erschien ein zweiter Squirrel und unterstützte den anderen beim Vertilgen der Brotstückchen. Als der letzte Krümel verschwunden war, stellten sich die beiden auf die Hinterpfoten und gaben ein paar fordernde Laute von sich.

      »Entschuldigt, das war alles für heute. Mehr hab ich nicht«, sagte Kim in versöhnlichem Ton. Wieder neigten die beiden den Kopf zur Seite, als ob sie zuhören würden. Kurz darauf ließen sie sich auf die Vorderpfoten nieder und verschwanden in den kargen Sträuchern.

      Es war für Kim zur Gewohnheit geworden, diesen Nagetieren zu begegnen. Deshalb hatte sie immer einen Beutel mit Futter bei sich.

      Die Sonne stand schon ziemlich tief. Die Intensität verringerte sich merklich. Kim nahm Mütze und Seidentuch vom Kopf und schüttelte ihr kurzes, schwarzes Haar. Aufgrund ihrer indianischen Abstammung glänzte es im Sonnenlicht bläulich. Eine sanfte Brise strich über ihre Wangen. Die warme Luft begann aus dem Canyon hochzusteigen, je mehr sich die Sonne dem Horizont zuneigte. Die Farben der Gesteinsschichten gingen in einen rötlichen Ton über.

      Kim stand auf und klopfte den Staub von ihrer Toga. Darunter trug sie nur Shorts und ein knappes T-Shirt. Ihre Füße steckten in halbhohen Kunstlederstiefeln. Die Toga flatterte sanft im Wind. Sie setzte das Kopftuch und die Mütze wieder auf, zog sie jedoch nicht mehr so tief ins Gesicht, und machte sich auf den Weg zu ihrem Elektroroller. Sie wollte zu Hause sein, bevor es völlig dunkel war.

      Eine Viertelstunde später erreichte sie das Fahrzeug. Als sie es einschaltete, zeugte nur ein leises Summen von dessen Funktionstauglichkeit. Das durch reine Sonnenenergie angetriebene Gefährt war praktisch geräuschlos und eignete sich sehr gut für Geländefahrten. Es besaß ein satellitengesteuertes Navigationssystem, womit es praktisch unmöglich war, sich zu verirren, und ein ausgeklügeltes Sensorsystem, das Zusammenstöße mit anderen Fahrzeugen oder festen Gegenständen weitgehend verunmöglichte.

      Kim stülpte sich den Helm über, startete den Roller und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie fragte sich, ob sie den Highway oder den kürzeren, jedoch beschwerlicheren Weg quer durch die Wüste nehmen sollte. Die Strecke über den Highway war mit gut sechshundert Kilometern gegenüber den dreihundertachtzig Kilometern durch die Wüste zwar wesentlich länger, aber trotzdem schneller. Es machte ihr jedoch mehr Spaß, auf kleinen Sandwegen durch die Wüste zu fahren, fernab vom üblichen Verkehr des Highways. Und nebst dem schwierigen Gelände mit Klippen und Schluchten gab es auch längere gerade Strecken, auf denen sie auf über dreihundert Kilometer pro Stunde beschleunigen konnte. Also entschied sie sich dafür.

      In Boulder City, einem Vorort südöstlich von Las Vegas, in dem sie nichts vom großen Glücksspieltrubel mitbekam, bewohnte Kim einen kleinen Bungalow. Dank des guten Jobs bei Unicom hatte sie es vor anderthalb Jahren gekauft und konnte sich trotz der monatlichen Zinsbelastungen einen Teilbetrag ihres Lohnes beiseitelegen.

      Seit gut vier Jahren arbeitete sie als ­Informationstechnikerin bei diesem Softwarekonzern, der auf digitale Steuerungssysteme von Flug- und Raumfahrzeugen spezialisiert war. Ihr Aufgabenbereich war die Erstellung und Pflege von Standardprogrammmodulen, die vom gesamten Entwicklungsteam für die Herstellung individueller Anwendungslösungen verwendet wurde. Ihr eigenes Team umfasste vier weitere ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Jeder in der Firma wusste, dass Kim auf ihrem Gebiet die besten Kenntnisse besaß. Trotzdem war sie vor einem halben Jahr, als es darum ging, den Posten des Gruppenleiters neu zu besetzten, übergangen worden. Man zog einen Mitarbeiter einer anderen Abteilung mit wesentlich weniger Kenntnissen ihr vor. Sie hatte diese Ungerechtigkeit stillschweigend hinuntergeschluckt und weiter gewissenhaft ihre Arbeit verrichtet. Es war typisch für sie, in einer solchen Situation nichts zu sagen und ihren Job auf gleiche Weise weiterhin auszuführen.

      Kim konzentrierte sich wieder auf den Weg, der in südlicher Richtung gefährlich nahe am Canyonrand entlangführte. Aber sie kannte praktisch jeden Stein und jede Kurve, da sie diese Strecke schon oft gefahren war. Deshalb war es für sie kein Problem, auch hier ein hohes Tempo einzuschlagen. Sie genoss den Nervenkitzel der Geschwindigkeit und den Fahrtwind, der ihre Toga flattern ließ.

      Plötzlich kreuzte etwas Dunkles ihren Weg. Das instinktiv ausgeführte Bremsmanöver brachte sie beinahe aus dem Gleichgewicht. Rechtzeitig fing sie sich auf und stabilisierte ihre Fahrt. Sie bremste scharf ab, fuhr mit minimaler Geschwindigkeit weiter und konzentrierte sich wieder auf die Strecke.

      War es ein Tier, das vor ihr vorbeigehuscht war? Doch für ein Lebewesen war es eindeutig zu flach gewesen.


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