Der Hüter der Sphären. Chris Vandoni
abgekommen zu sein. Schließlich wunderte sie sich, dass ihr Sicherheitssystem nichts von diesem Hindernis bemerkt hatte.
Also hielt sie an und stieg ab. Sie drehte sich um, blickte zurück und versuchte zu erkennen, ob irgendwelche Hindernisse auf dem Weg lagen. Dann setzte sie den Helm ab und ging einige Schritte zurück, konnte jedoch im Licht der untergehenden Sonne nichts Außergewöhnliches erkennen. Sie ging noch weiter zurück zu der Stelle, an der sie den ersten Zwischenfall vermutete. Sehr gut zeichnete sich ihre Fahrspur auf dem sandigen Untergrund ab. Sie ging in die Hocke und suchte nach Spuren eines Tieres. Doch da gab es nichts. Sie erhob sich wieder, drehte den Kopf nach rechts und sah in die Tiefe des Canyons.
War da nicht eine Bewegung?
Unmöglich, dachte sie. Es war zu steil, als dass sich hier ein Lebewesen aufhalten konnte. Doch dann hatte sie erneut den Eindruck, etwas zu sehen. Sie richtete den Blick auf die Stelle, an der sie die vermeintliche Bewegung ausgemacht hatte. Etwa zehn Meter unter ihr sah sie einen dunklen Fleck, der nicht dahin zu passen schien. Täuschte sie sich oder hatte er sich soeben bewegt?
Kim starrte gebannt darauf. Und tatsächlich, der Fleck schien sich nicht nur zu bewegen, sondern auch seine Form zu verändern. Das konnte doch unmöglich wahr sein! Ein Tier war es nicht, denn dieses Gebilde war flach und schien direkt an der Gesteinswand zu haften. Wieder hatte Kim den Eindruck, dass es die Position wechselte und sich gleichzeitig verformte. Und es kam direkt auf sie zu!
Sie änderte ihre Position, stützte sich seitlich auf ihre Hüfte und beugte sich erneut über den Canyonrand. Das Ding war verschwunden!
Ihre Augen suchten die nähere Umgebung ab. Als sie sich noch etwas mehr über den Canyonrand lehnte, wäre sie vor Schreck beinahe in den Abgrund gestürzt. Der dunkle Fleck hing direkt unter ihr an der Gesteinswand, keine zwei Meter entfernt. Sie schnellte zurück und atmete ein paar Mal tief durch. Was war das für ein Ding?
In dem Moment, als sie aufstehen wollte, sah sie den dunklen Fleck langsam über den Canyonrand genau auf sie zukriechen. Kim stieß einen spitzen Schrei aus und fiel rückwärts zu Boden. Der Fleck hatte den Rand überquert und bewegte sich immer weiter auf sie zu, während er fortwährend seine Form veränderte.
Kim fing an, mit den Beinen zu strampeln und rückwärts zu krabbeln. Sie geriet in Panik. Hastig versuchte sie, gleichzeitig aufzustehen und sich weiter rückwärts zu bewegen, was nur dazu führte, dass sie immer wieder auf ihrem Gesäß landete. Dann prallte sie mit dem Rücken an einen größeren Felsbrocken und stieß einen schmerzerfüllten Seufzer aus. Schnell kletterte sie rückwärts auf den Stein und zog instinktiv die Beine an.
Nun nahm sie sich Zeit, das Gebilde etwas genauer zu betrachten. Innerhalb des gesamten Flecks krabbelte es, als handelte es sich um ein Riesenheer von Insekten. Es mussten winzig kleine Insekten sein, die sich zu einem Schwarm zusammengefunden hatten, soviel konnte sie erkennen. Aber so genau sie auch hinsah, sie konnte keines der einzelnen Tierchen ausmachen, obwohl das Krabbeln so deutlich war wie auf einem Ameisenhaufen.
Kim griff nach einem Stein und warf ihn mitten auf den Fleck. Nichts passierte. Das Heer der winzigen Partikel umschloss ihn rundherum.
Sie sah sich um und entdeckte in einiger Entfernung einen dünnen, krummen Holzstecken. Langsam kletterte sie auf der Rückseite vom Felsbrocken hinunter, ging ein paar Schritte rückwärts, ohne den krabbelnden Fleck aus den Augen zu lassen. Hastig tastete sie nach dem Stück Holz, musste mehrmals danach greifen, bis sie es endlich zwischen den Fingern spürte. Dann packte sie den Stecken und kehrte langsam wieder zum Felsbrocken zurück.
Der Schwarm hatte unterdessen seine Position auf die rechte Seite des Steins verlegt und kam wieder genau auf sie zu. Vorsichtig kletterte Kim erneut auf den Felsbrocken und kauerte sich nieder. Langsam führte sie die Spitze des Steckens an den Rand des Insektenteppichs. Sie spürte, wie ihre Hand zitterte. Das Zittern übertrug sich auf den dünnen Ast. Dann berührte die Spitze des Stabs den Schwarm. Sie spürte den Widerstand des Bodens, der jedoch sogleich nachgab. Sie hatte den Eindruck, als würde sich der Stecken direkt in die Erde bohren. Erschrocken ließ sie ihn los. Der Stecken fiel hinunter und blieb seitlich am Felsbrocken angelehnt liegen. Die Spitze steckte immer noch mitten im krabbelnden, dunklen Heer. Doch er rutschte langsam nach unten, als würde er aufgesaugt werden.
Aber das wurde er nicht. Die Partikel überzogen ihn … und veränderten seine Form!
Mit blankem Entsetzen verfolgte Kim dieses Schauspiel. Einerseits krümmte sich der Stecken wie ein Grashalm. Andererseits hüllten ihn die Partikel vollständig ein, während sie daran emporkletterten. Anscheinend benutzte der Schwarm den Stecken, um auf den Felsbrocken zu gelangen, auf dem sie gerade saß!
Es dauerte nur ein paar wenige Augenblicke, bis Kim realisierte, was geschah. Hastig kletterte sie auf der Rückseite hinunter und suchte einen faustgroßen Stein, mit dem sie sich langsam wieder dem Felsbrocken näherte.
Der Schwarm hatte mittlerweile den gesamten Stecken umhüllt. Langsam näherte sich Kims Hand, den Stein umschlossen, dem oberen Ende des Steckens. Im Licht der tief stehenden Sonne glitzerten die winzigen Partikel wie Kristallsand. Der Schwarm machte keine Anstalten, das Holzstück zu verlassen und auf dem Felsbrocken weiterzuwandern.
Kims Hand war noch etwa zwanzig Zentimeter entfernt. Sie näherte sich ein weiteres Bisschen und ließ dann den Stein genau auf den Stecken fallen, oder auf das, was von ihm noch übrig war.
Nichts!
Es schien, als habe sich das Stück Holz aufgelöst. Oder es bestand nur noch aus diesen Partikeln.
Kim versuchte sich gar nicht erst vorzustellen, was passieren würde, wenn sie ihren Finger hineinsteckte. Der Mut, den sie aufgebracht hatte, einen Stein auf den Schwarm fallen zu lassen, verließ sie schlagartig, während sich die Angst in ihr wieder ausbreitete.
Dann erschien ihr ein entsetzlicher Gedanke: Gab es noch mehr solcher Schwärme? Voller Panik drehte sie sich um die eigene Achse und suchte die unmittelbare Umgebung ab.
Und tatsächlich! Vom Canyonrand her näherten sich weitere Schwärme in ihre Richtung. Einige schienen einen Bogen um sie zu machen, als wollten sie sie einkreisen. Andere wiederum kamen direkt auf sie zu.
Sie ging ein paar Schritte rückwärts, drehte sich um und rannte zurück zu ihrem Roller, stets nach weiteren Schwärmen Ausschau haltend. Dort angekommen setzte sie hastig den Helm auf, startete ihr Fahrzeug und fuhr los. Da sie kein Risiko eingehen wollte, weiteren Schwärmen zu begegnen, wählte sie für ihre Heimfahrt nun doch den Highway.
3.
Ein krachender Donnerschlag, ähnlich dem Einschlag einer Granate, riss Christopher Vanelli aus seinem unruhigen Schlaf. Nachfolgendes Grollen und Aufflackern weit entfernter Blitzeinschläge deuteten darauf hin, dass sich das Unwetter noch lange nicht legen würde.
Christopher blickte zum Fenster. Feinste Trommelgeräusche an den Scheiben zeugten von einer rasch herannahenden Regenfront. Jede Lichtkaskade ließ die Lamellen der inwendig montierten Fensterroulade gleich scharfkantiger, langer Messer aufblitzen. Zwischen ihnen zeigte sich das Wolkengefüge, das sich wie eine brodelnde Masse auf das Festland zubewegte. Schon wenig später peitschten die Windböen Fontänen geballten Regens in regelmäßigen Abständen gegen Glas und Fassade. Bäume und Sträucher bogen sich in ekstatischer Manier nach dem Willen des Sturms.
Plötzlich huschte eine schattenhafte Silhouette am Fenster vorbei. Christophers bisherige Gleichgültigkeit gegenüber dem stürmischen Treiben änderte sich blitzartig. Wer hielt sich bei einem solchen Sturm im Freien auf? Sollte sich hier ein Einbrecher herumtreiben, hatte er für sein Vorhaben das denkbar ungünstigste Wetter ausgesucht. Oder handelte es sich lediglich um einen Obdachlosen? Es wäre jedoch das erste Mal, dass sich so eine arme Seele hierher verirrt hätte. Aber auch Einbrecher waren bislang beim Cabin Point keine aufgetaucht.
Michelle lag regungslos auf der anderen Seite des Bettes und atmete flach und gleichmäßig. Sie hatte einen wesentlich tieferen Schlaf als er. Die vier Quirls lagen aneinandergekuschelt in ihrem Kunststoffbehälter, in dem sie mit synthetischen Faserdecken ein Nest gebaut hatten, in das sie sich verkriechen konnten. Sie ließen