Die Venusische Trilogie / Engel weinen nicht. Omnec Onec
sehr verbreitete Eigenschaft war die, daß man ein Sieger sein muß oder daß man eine Menge von irgendetwas haben muß – Geld, Talent, Schönheit –, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Ich verstand das nicht, und ich brauchte lange, es als Bestandteil dieser Welt zu akzeptieren. Ich wußte, daß solch ein Verhalten eine Menge Leiden mit sich brachte.
Ich sah nicht ein, warum es eine Rolle spielte, ob ein Mensch schön anzuschauen war, weil nur die inneren Qualitäten wirklich zählen. Der physische Körper ist nur eine Schale.
In meinem Leben auf der Erde habe ich nie das Gefühl verloren, eine Außenseiterin zu sein, in einer fremden Welt zu leben. Als junges Mädchen in Chattanooga begegnete ich oft den Gedanken der Menschen auf physische Weise. Ich erledigte oft Besorgungen oder beantwortete Fragen, noch ehe mich jemand gefragt hatte. Dies war für meine Familie verwirrend, und ich mußte davor auf der Hut sein. Ich merkte bald, daß viele Menschen sich vor solchen Dingen fürchteten, die außerhalb ihres Verständnisbereichs lagen. Es schien, daß sie auf alles außerhalb ihres Verständnishorizontes negativ reagierten.
Weil ich jeden Menschen mehr als Seele denn als physischen Körper betrachtete, war ich anders. Ich reagierte kaum auf Zorn oder negative Gefühle, weil Nichtreaktion der einzige Weg ist, den Angriff abzuwehren. Die negative Energie hat dann nichts, wogegen sie sich richten kann und kehrt zu ihrer Quelle zurück. Ein wütender Mensch wird nur noch wütender.
Ich werde wütend, wenn jemand absichtlich versucht, mich oder einen Freund zu verletzen. Ich bin immer für die verfolgten und schikanierten Kinder in unserer Nachbarschaft eingetreten, und ich wurde oft emotional verletzt und weinte, weil ich all die Grausamkeit in der Welt nicht verstehen konnte.
Kommunikation war für mich ein großes Problem. Ich habe immer Schwierigkeiten mit der englischen Sprache gehabt, so beim Buchstabieren und der richtigen Betonung. Bis heute benutze ich oft ein Wort und meine ein anderes, sehr zu meiner eigenen Bestürzung.
Anfangs nahm ich alles wörtlich, was die Leute sagten. Wenn einer meiner Verwandten kurz vor dem Essen zu mir sagte, „geh und wasch’ dir das Gesicht ab“, verwirrte mich das enorm. Die Menschen benutzten die Worte sorglos.
Nachdem Merle und Ben in die Armee eingetreten waren, lebten Großmutter und ich allein, und das Haus war sehr still. Großmutter war während dieser Jahre sehr gut zu mir. Sie hing sehr an ihrer letzten Enkelin. Einst war das Haus voller Kinder gewesen, die es großzuziehen galt – nun gab es nur noch eines. Es war eine große Umstellung für sie.
Als die Schule im Herbst wieder anfing, begann sich das Leben zu Hause zu beruhigen. Dank unserer neuen Lehrerin Mrs. Dodson wurde die Zeit in der vierten Klasse ein äußerst schönes Jahr.
Jeden Tag las sie uns eine Geschichte vor, aber zuerst zog sie ihre lustige Brille auf. Immer wenn sie den Kopf bewegte, zwinkerten die Augen, die auf der Brille angebracht waren. Wir freuten uns jeden Tag darauf.
Dann kam eine Zeit, als Großmutter wegen einer Operation in ein Armeekrankenhaus in Kentucky mußte. Einer ihrer Söhne hatte es arrangiert, daß sie nichts zu bezahlen brauchte. Tante Ellen zog für zwei Wochen ein, um auf mich aufzupassen.
Keine zehn Minuten, nachdem Großmutter gegangen war, zeigten sich Tante Ellen und die Jungen von ihrer niederträchtigen Seite. Tante Ellen war immer nett zu mir, wenn Großmutter in der Nähe war. Nun durfte ich nichts anderes tun, als zur Schule zu gehen und Haushaltsarbeiten zu erledigen. Zur gleichen Zeit genossen ihre beiden Jungen Donny und Jim eine große Menge Freiheit. Sie konnten fast alles tun, was sie wollten.
Großmutters Krankenhausaufenthalt in Kentucky war fast zuende und ich konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen. Ich fühlte mich sehr glücklich, daß ich mit ihr statt mit jemandem wie Tante Ellen zusammenleben durfte.
Donny und Jim gingen eines Tages recht früh ins Kino, während ich mit Besorgungen in einen Laden geschickt wurde. Als ich zu Hause ankam, fand ich Tante Ellen und unseren Nachbarn vor, wie sie sich gerade mit einem Faß Bier zu einem See aufmachen wollten. Tante Ellen sagte: „Deine Großmutter würde dich nicht in die Vorstellung lassen.“ Ich wußte, daß das nicht stimmte. Großmutter hatte eine Nachricht geschrieben, daß wenn Donny und Jim in die Vorstellung gingen, ich mitgehen könne. „Und du kannst nicht mit uns an den See kommen, weil wir Bier trinken werden“, fuhr sie fort. Tante Ellen verschloß die Haustür und ermahnte mich beim Weggehen, auf der Veranda zu bleiben.
Ich setzte mich auf die Verandatreppe, den Kopf auf beide Arme gestützt und fühlte mich niedergeschlagen. Ich war an diesem Tag nicht wirklich überrascht über die Sonderbehandlung, draußen ausgesperrt zu sein, während Donny und Jim sich im Kino vergnügten. Die ganze Woche war nicht viel besser gewesen. Ich seufzte und fragte mich, was ich den ganzen Tag über tun sollte. Als ich aufschaute, war meine Niedergeschlagenheit wie weggeblasen. Daddy war da! Wahrhaftig Daddy! Da war er, er kam den Bürgersteig herunter auf mich zu. Wie wunderbar war es, ihn gerade am heutigen Tag zu sehen.
„Hallo Liebling, wo ist deine Großmutter?“
„Oh, sie ist im Krankenhaus“, sagte ich. „Sie wird in Kentucky operiert.“
„Und wer paßt auf dich auf?“ fragte er.
“Tante Ellen”, sagte ich, aber sie sei heute am See und ich sei ausgesperrt.
Daddy sah sich um. „Wo sind die Jungen?“ fragte er.
„Sie sind zur Kinovorstellung gegangen“, erklärte ich mit einem Anflug von Traurigkeit.
„Das ist nicht nett. Das begreif’ ich nicht“, sagte er empört. „War Tante Ellen gut zu dir?“
„Hm, nein“, gab ich zu, „sie war wirklich lange Zeit gemein zu mir.“ Ich klagte ihm mein Leid.
Durch ein Seitenfenster gelangte mein Vater ins Haus, ließ mich herein und versprach, daß ich ganz sicher bei ihm bleiben würde, bis Großmutter zurückkehrte. Wir sammelten meine Sachen zusammen und hinterließen eine Nachricht für Tante Ellen bei den Nachbarn. Natürlich war ich begeistert. Aber das war noch nichts, verglichen mit meiner Freude am Montag, als Daddy mich in der Schule in seiner Nachbarschaft anmeldete.
Wir Kinder marschierten gerade zum Spielplatz in der Cherry Street hinüber, als sich jemand von hinten an mich heranschlich und mir auf die Schulter tippte. Ich drehte mich kichernd um und erwartete, eines der Kinder hinter mir zu sehen.
„Das ist meine Mami!“ schrie ich, jubelnd auf- und abhüpfend. Wir umarmten uns. „Wie hast du mich gefunden?“ fragte ich. Das war zu schön, um wahr zu sein. Was für eine Wonne, sie wiederzusehen!
„Oh, deine Großmutter hat mir geschrieben, und ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Tante Ellen sagte, daß du bei deinem Vater bist“, erklärte sie mit einem strahlenden Lächeln. Es war toll, Mami so glücklich zu sehen.
Wir spazierten weiter zum Spielplatz, wo wir uns niederließen, um zu reden. Sie fragte, wie es mir gehe, wie mir die Schule gefalle; ich erfuhr, daß sie und C.L. die Route durch Tennessee genommen hatten, weil sie im Osten ein Restaurant eröffnen wollten. Mami blieb während der Lesestunde, und dann ließ mich unser Lehrer die Schule vorzeitig verlassen. In Peggys und Davids Haus sammelten wir meine Sachen zusammen. Dann gingen wir heim in die Southern Street Nr. 1821. Als sie hörte, wie schlecht ich behandelt worden war, beschloß sie, bei mir zu bleiben, bis Großmutter nach Hause käme. Ich war sehr erleichtert und auch dankbar, daß sie einige zusätzliche Zeit mit uns verbringen würde.
Ganz plötzlich waren Tante Ellen und die Jungen ungewöhnlich freundlich zu mir. Ein paar Tage später, als Großmutter heimkehrte und die ganze Geschichte erfuhr, war sie so aufgebracht, daß sie schwor, mich nie wieder allein bei Tante Ellen zu lassen.
[no image in epub file]
Omnec als Sheila im Jahre 1959 mit ihrer irdischen Großmutter und ihren Cousins Eddie (hint. li.), Tommy (hint. re.) und Dale (vorne)
Wie immer, wenn Mami ging, weinten wir beide beim Abschied. Meine starke Zuneigung zu ihr war unerklärlich. Es war, als wäre sie schon immer meine Mutter gewesen, denn immer, wenn es Zeit für sie wurde zu gehen, sehnte