Die Tage von Gezi. Martin Niessen

Die Tage von Gezi - Martin Niessen


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Wut.

      »Sind Sie der Journalist aus England?«

      Die Frage kam von einer jungen, sehr hübschen Frau mit dunkler Lockenmähne, die inmitten der Gruppe hockte. Marc nickte.

      »Hi, ich bin Mine. Sie müssen uns helfen!«

      Kathrin

      Kathrin hatte gerade die Rechnung bestellt, als ihr Mobiltelefon, das vor ihr auf dem Tisch lag, vibrierte und einen kurzen Piepton von sich gab. Sie saß mit ihrer Freundin Nevra in einem Café am Anleger von Heybeliada, einer der neun Inseln, die vor Istanbul im Marmarameer lagen, noch zur Stadt gehörten und Prinzeninseln hießen. Die Inselgruppe war ein beliebtes Ausflugsziel für stressgeplagte Großstädter. Es gab keinen Autoverkehr, als Fortbewegungsmittel dienten Pferdekutschen und Fahrräder. Dadurch war nicht nur die Luft besser, vor allem in den Sommermonaten, wenn sich die Hitze in den dicht bebauten Straßenschluchten des Festlandes staute, das ganze Leben auf den Inseln war irgendwie entschleunigt. Kathrin liebte es, durch die von Bäumen gesäumten Straßen mit den zumeist liebevoll renovierten Holzhäusern zu schlendern, gerade im April und Mai, wenn die üppigen Bougainvillea-Sträucher blühten und mit ihrem Magenta den Kontrast zwischen den weiß lackierten Holzfassaden und dem stahlblauen Himmel milderten. Außerdem konnte hier schon zu dieser Jahreszeit baden, wer Wassertemperaturen von achtzehn, zwanzig Grad nicht scheute. Wann immer sie vier, fünf Stunden Zeit hatte, fuhr sie raus auf die Inseln. So auch an diesem Morgen. Dienstags hatte sie nur eine frühe Vorlesung. Direkt im Anschluss war sie mit Nevra nach Heybeliada gefahren, die sie besonders in ihr Herz geschlossen hatte. Die Sommervillen reicher Istanbuler waren auf Büyükada noch größer und prächtiger, dafür lag Heybeliada dem europäischen Teil Istanbuls am nächsten. Die Überfahrt von Kabataş war eine halbe Stunde kürzer, außerdem gab es nur zwanzig Minuten zu Fuß von der Anlegestelle entfernt einen annehmbaren Strand mit ein paar Liegen und Sonnenschirmen und einem kleinen Restaurant mit akzeptablen Preisen. Für einen halbtägigen Ausflug ans Meer, für den man nicht alles selbst mitschleppen wollte, also genau das Richtige.

      Kathrin war Dozentin für Architektur und Städtebau an der altehrwürdigen, 1882 gegründeten Mimar Sinan Universität der Schönen Künste, die im Stadtteil Fındıklı direkt am Bosporus lag. Schon während ihres Studiums an der Fachhochschule Köln hatte sie ein Auslandssemester an der Mimar Sinan verbracht – fünfzehn Jahre war das mittlerweile her – und schließlich über das Thema »Moderner Städtebau – Strategien für historisch gewachsene Großstädte am Beispiel Istanbuls« promoviert. Immer wieder war sie in den Semesterferien nach Istanbul geflogen, um lieb gewonnene Freunde zu besuchen und weil die Stadt sie faszinierte, das rasende Tempo, mit dem sie sich veränderte und sich gleichzeitig treu blieb. Nach dem Studium war sie dann aber erst einmal nach Hamburg gegangen, wo man die Hafencity plante und baute und Bedarf an jungen Architekten war. Ihr gefiel die Stadt, der Job aber erwies sich als Enttäuschung. Europas größtes Städtebauprojekt, wie man das neue Viertel südlich der Speicherstadt an der Elbe mit unhanseatischer Bescheidenheit gerne nannte, entpuppte sich auf den Plänen – und an ein oder anderer Stelle auch schon in der Realität – als lieblos aneinandergereihte Ansammlung ziemlich fantasieloser Wohn- und Geschäftsklötze, die moderne Adaptionen der alten Speicher darstellen sollten, dazwischen schachbrettartige Straßenzüge, die parallel zu den alten Hafenbecken verliefen. Architektonische Freiheiten und stadtplanerische Visionen, das musste sie, schon kurz nachdem sie im Team eines renommierten deutsch-iranischen Architekten angefangen hatte, feststellen, waren längst unter dem Staub deutscher Bürokratie und der Piefigkeit regionaler Politik begraben. Also heuerte sie kurz entschlossen – ein Headhunter hatte eines Abends bei ihr zu Hause angerufen – bei einem internationalen Architekturbüro an, das in Istanbul eine Dependance unterhielt und händeringend Architekten suchte. 2004 war das gewesen, die Stadt mittlerweile eine einzige Baustelle, der Stillstand der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrtausends einem ungeheuren Bauboom gewichen, der Fachleute aus der ganzen Welt aufsog. Wer war da besser geeignet als sie?

      Auch zahlte sich aus, dass sie während des Auslandssemesters bereits einen Türkischkurs absolviert hatte und ihre Sprachkenntnisse in der Zwischenzeit so weit ausgebaut hatte, dass sie trotz ihrer blonden Haare und blauen Augen im Alltag als Türkin durchging. Schon nach drei Jahren, in denen sie an der Planung und Entwicklung diverser Großprojekte mitgearbeitet hatte, wurde ihr eine Gastprofessur an der Mimar Sinan angeboten, die sie annahm. Keine schlechte Karriere für ein Mädchen aus einem niederrheinischen Dorf, nicht weit von der niederländischen Grenze entfernt, dachte sie immer wieder. Nur dass sie dabei ziemlich »geç kaldı« geworden war, »zu lang geblieben«, wie es die Türken nannten, wenn eine Frau mit achtunddreißig Jahren noch unverheiratet und kinderlos war.

      Nun hatten Nevra und sie also Çay, starken türkischen Tee, aus kleinen Gläsern getrunken und Karadut Dondurmalı Kazandibi gegessen, karamellisierten Reispudding mit dem sehr fruchtigen, aber nicht zu süßen Eis aus schwarzen Maulbeeren, während sie auf die Fähre zurück nach Kabataş warteten. Kathrin hatte am späten Nachmittag noch einen Termin an der Uni, die praktischerweise nur eine Station mit der Straßenbahn vom Fähranleger entfernt lag. Sie nahm ihr Telefon vom Tisch und schaute auf das Display, auf dem das Symbol für eine eingegangene Kurznachricht blinkte. Sie drückte auf den Bildschirm, die Nachricht erschien. Sie war von Erol, einem befreundeten Musiker, der wie sie auf der asiatischen Seite wohnte, im zum Stadtteil Üsküdar gehörenden Viertel Kuzguncuk, das sich noch einen gewissen dörflichen Charme erhalten hatte, obwohl es direkt gegenüber von Beşiktaş lag, sehr zentral also, noch vor der ersten Bosporus-Brücke. Kuzguncuk war eine Oase der Ruhe in der tosenden Betonwüste Istanbuls. Viele Künstler und Intellektuelle hatten sich in dem seit jeher multikulturellen Viertel niedergelassen, in dem es zwischen schiefen alten Holzhäusern eine Moschee, drei Kirchen, armenisch und griechisch-orthodox, und auch eine Synagoge gab.

      »Du glaubst das nicht!«

      »Was?«

      Nevra war sichtlich irritiert ob der Lautstärke ihres Ausrufs.

      »Die Polizei ist mit Reizgas und Schlagstöcken gegen ein paar Studenten vorgegangen, die im Gezi-Park gegen das Abholzen der Bäume und den Bau dieser als Nachbau einer osmanischen Kaserne getarnten Shopping Mall protestiert haben!«

      Mine

      Vedat lag auf dem Sofa und schaute fern, als Mine am frühen Abend nach Hause kam. Sie hatte noch über eine Stunde lang auf den englischen Journalisten eingeredet, ihm von den Plänen der Regierung erzählt, auf dem Gelände des Gezi-Parks ein Einkaufszentrum zu errichten und damit eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu dem Konsum zu opfern, wie auch schon das über einhundert Jahre alte Emek-Theater in der Istiklal Straße einer Shopping Mall weichen sollte und die Polizei Anfang April Proteste von Künstlern, darunter der griechisch-französische Regisseur Costa-Gravas, mit Wasserwerfern und Tränengas beendet und unter anderen den berühmten Filmkritiker Berke Göl festgenommen hatte. Immer wütender war sie geworden. Die Regierung verschachere die kulturelle Identität der Stadt an den Kommerz, Premierminister Erdoğan sei ein Banause, der, als man beim Bau der Metro, die einmal unter dem Bosporus hindurchführen soll, die Überreste eines alten römischen Hafen gefunden hatte, abfällig von ein paar Keramikscherben gesprochen habe. Marc, der Journalist, hatte ihr aufmerksam zugehört und sie nur gelegentlich mit einer Zwischenfrage unterbrochen. Am Ende war er aufgestanden, hatte gesagt, dass er ihren Unmut verstehe, er aber nun mal im Urlaub sei, ihr aber immerhin seine Telefonnummer gegeben und versprochen, mit den Kollegen im Istanbuler Büro des Nachrichtenmagazins, für das er arbeitete, zu sprechen.

      »Und? Wie war’s?«

      Vedat schaute auf, als sie ins Wohnzimmer trat.

      »Ist das dein Ernst? Das fragst du mich?«, giftete Mine.

      »Du müsstest doch wissen, wie es war!«

      »Was? Ich? Wissen? Wieso?«, stammelte er verdutzt.

      »Und was ist mit deinen Augen los? Hast du geweint?«

      Mine dreht sich zur Seite und schaute in den Spiegel, der in seinem verschnörkelten Rahmen über der alten Holzkommode, einem Erbstück von ihrer Großmutter, hing,


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