Die Tage von Gezi. Martin Niessen
Kathrin, was machst du denn hier?«
Kathrin hatte sich umgedreht, schaute etwas irritiert und brauchte eine kurze Weile, bis sie antwortete.
»Oh, hallo Mine. Ich nehme an, das Gleiche wie du – protestieren.«
»Cool. Ist meine Mutter etwa auch hier?«
»Nicht, dass ich wüsste. Ich habe sie zumindest noch nicht gesehen. Wollte sie auch kommen?«
»Keine Ahnung, ich dachte nur, ihr habt vielleicht darüber gesprochen.«
»Nein haben wir nicht, ich bin ziemlich spontan einer Gruppe Studenten hierhin gefolgt.«
Mine nickte verstehend.
»Du, ich bin mit einer Freundin verabredet, die muss ich jetzt mal suchen. Aber wir sehen uns hier sicher noch. Und echt cool, dass du mitmachst. Wir sehen uns!«
Mine ließ Kathrin stehen und ging weiter zur Mitte des Parks, wo sie ihre Freundin Şebnem in einer Gruppe vom Kommilitonen entdeckte, die im Kreis um einen Gitarrenspieler herum saßen. Mine hatte sich gerade dazugesellt, mit großem Hallo ihre Freundin und die anderen umarmt, auf beide Wangen geküsst und sich dazwischengehockt, als aus der nordwestlichen Ecke des Parks, wo die Baumaschinen standen, ein dunkles, grollendes Geräusch zu hören war. Offensichtlich waren die Motoren der Bulldozer und Bagger angelassen worden. Sofort entstand ein gellendes Pfeifkonzert, alle sprangen auf und rannten in die Richtung, aus der die Pfiffe und erste Sprechchöre kamen. Auch Mine, die ihren Rucksack einfach liegen ließ, rannte mit. Tatsächlich hatten die Bulldozer begonnen, mit dem Abriss der Mauer fortzufahren, mit dem sie gestern begonnen hatten, bis der BDP-Abgeordnete sie gestoppt hatte. Zwischen den großen Kettenfahrzeugen und den Demonstranten – Mine schätzte ihre Zahl auf vielleicht zweihundert, sie wuchs aber ständig weiter an, weil von überall her Menschen hinzugelaufen kamen – stand eine Einheit der Bereitschaftspolizei und hielt die wütende Menge mit Schilden und drohend erhobenen Schlagstöcken zurück. Immer wieder aber gelang es einzelnen Demonstranten, durchzubrechen oder die Polizeikette zu umlaufen und sich vor die Bulldozer zu stellen und sie zu stoppen. Sofort stürzten sich meist mehrere Polizisten auf sie, zwangen sie mit Schlägen auf die Knie und zerrten sie weg, unter eine Gruppe von Bäumen, wo sie sich, von weiteren Beamten umringt, auf den Boden hocken mussten. Der Lärm war ohrenbetäubend: das Röhren der Maschinen, Schreie, Pfiffe, Sprechchöre, Sirenen von Polizeifahrzeugen. Offensichtlich hatten die Einsatzleiter Verstärkung angefordert.
Mitten in diesem Chaos, in der nach vorne und wieder nach hinten wogenden, stetig anwachsenden Menge der Demonstranten, stand, ihre Empörung größer als ihre Angst, Mine. Zum zweiten Mal nun erlebte sie, wie der Gezi-Park Schauplatz einer Konfrontation wurde zwischen Staatsmacht und Bürgern, die sich ihr widersetzten. Zum zweiten Mal war sie, die unpolitische Mine, die gerne feierte, tanzte und Alkohol trank, einer dieser Bürger. Mine nestelte in dem Gedränge ihr Handy aus der Hosentasche und wählte eine Nummer. Die von Marc.
Marc
»Marc, hörst du das? Du musst sofort kommen, die Polizei schlägt schon wieder zu! Du musst dir das ansehen und darüber berichten!«
Die Anruferin hatte sich keine Zeit genommen, ihn zu begrüßen oder sich vorzustellen, sondern direkt losgeredet, genauer gesagt geschrien. Marc aber hatte die aufgeregte Stimme trotz der lauten Nebengeräusche sofort erkannt. Es war Mine, die junge Türkin, die er am Vortag zusammen mit dem jungen Pärchen nach dem Polizeieinsatz am Rand des Gezi-Parks getroffen hatte.
»Hallo Mine. Langsam, langsam. Was ist los?«
»Ich bin im Park. Du musst sofort kommen, die wollen einfach weitermachen und alles abreißen. Und die Polizei prügelt schon wieder mit ihren Schlagstöcken auf die Leute ein und verhaftet sie. Komm bitte!«
»Okay, ich komme. Bitte sei vorsichtig, bis gleich!«
Marc beendete das Gespräch, steckte sein Telefon ein, ließ den noch halb gefüllten Becher stehen und verließ das Café schnellen Schrittes Richtung Taksim-Platz. Obwohl er die Schreie und die Sirenen im Hintergrund gehört hatte und die Situation tatsächlich bedrohlich klang, schmunzelte Marc und dachte an gestern zurück, als Mine mit verquollenem Gesicht und vom Gas geröteten Augen, in denen eine naive, fast kindliche Empörung blitzte, auf ihn eingeredet, vom Park, den Bäumen und der Regierung erzählt hatte, die sich einen feuchten Kehricht um den Willen der Bürger scherte. Diese zierliche, hübsche, mutige junge Frau war also wieder im Gezi-Park, und wieder schien die Staatsgewalt mit Gewalt zurückzuschlagen.
Er nahm den gleichen Weg, den er am Vortag genommen hatte, die Stufen am Taksim-Platz hoch, nach links an den Absperrungen vorbei, an denen, so schien es ihm, heute noch mehr Polizisten standen, die ihn aber wieder passieren ließen, und eilte durch den kleinen Durchgang in den Park. Schon hier waren die Tumulte zu hören. Er beschleunigte seinen Schritt noch einmal, rannte fast. Die Zahl der Zelte hatte deutlich zugenommen, allerdings saß niemand drum herum. Der Lärmpegel nahm weiter zu, das Pfeifkonzert war ohrenbetäubend. Da, wo sich auch gestern schon die Demonstranten den Baumaschinen entgegengestellt hatten, am hinteren Ende des Parks, waren es nun nicht nur fünfzig, sondern sicherlich vier-, fünfhundert Menschen, die sich in einer dichten Traube versammelt hatten. Die Menge war in ständiger Bewegung, vor und zurück, nach rechts, nach links, und brandete immer wieder wie eine Welle gegen einen massiven Polizeikordon, hinter dem zwei Bulldozer eine Mauer einrissen und dabei ordentliche Mengen Staub aufwirbelten. Marc musste unwillkürlich an Gemälde von mittelalterlichen Schlachtfeldern denken, auf denen Heere im Schwarzpulvernebel geschlossen aufeinanderprallen. Immer wieder versuchten einzelne Demonstranten oder kleine Gruppen aus der Schlachtordnung auszubrechen und die geschlossenen Reihen der Polizei zu durchbrechen oder zu umlaufen. Wenn sich dann Polizisten mit erhobenen Schlagknüppeln auf sie stürzten, auf sie einprügelten und schließlich mit auf den Rücken gebogenen Armen abführten, schwollen das Pfeifkonzert und die Buhrufe noch weiter an.
Mehrere Minuten lang beobachtete Marc die Szene und versuchte gleichzeitig, Mine in der Menge auszumachen, fand sie aber nicht. Dann, ganz plötzlich, kehrte Ruhe auf der Seite der Demonstranten ein, als habe jemand einen Stecker gezogen. Ein Mann in einem karierten Freizeithemd hatte sich einen Weg durch die Menge gebahnt und stand nun direkt vor den Polizisten und redete auf sie ein. Er hatte Papiere in der Hand, mit denen er vor ihnen herumwedelte und auf die er immer wieder zeigte. Ein Uniformierter, der sich im Hintergrund gehalten hatte, ohne Helm, Schild und Schlagstock, dafür aber mit reichlich goldenen Streifen auf den Schultern, drängte sich durch die Reihe der Polizisten und redete mit dem Mann im karierten Hemd, nahm die Papiere in die Hand, schaute darauf, sagte noch ein paar Worte zu seinem Gegenüber und ging zurück durch die Reihen der offensichtlich ihm unterstellten Polizeitruppen auf die Bulldozer zu. Mit einer knappen, aber deutlichen Bewegung seiner Hand signalisierte er den Fahrern, die Maschinen zu stoppen. Deren Motoren erstarben, sofort brandete auf der Seite der Demonstranten Jubel auf. Dem Mann im karierten Hemd wurde auf die Schultern geklopft, dann verschwand er in einer Traube von Menschen, die feiernd um ihn herumtanzten. Die Polizisten zogen sich zurück. Marc staunte. Sollte die Staatsgewalt in diesem Land tatsächlich so schnell kapitulieren? Welche Position hatte der Mann im karierten Hemd, welche Argumente?
Wie aus dem Nichts tauchte Mine vor ihm auf und fiel ihm um den Hals.
»Wir haben gewonnen, Marc. Wir haben gewonnen.«
»Mal langsam, junge Frau.«
Marc lachte und schob Mine sanft von sich, während er ob ihrer plötzlichen Herzlichkeit insgeheim hoffte, dass sie nicht in Begleitung eines Ehemannes, erwachsener Brüder oder Cousins gekommen war.
»Wer war der Typ, der mit den Polizisten gesprochen hat?«
»Das war Sırrı Önder von der BDP, der hat denen irgendetwas von einer fehlenden Genehmigung für den Abriss erzählt und sie gestoppt.«
»Aber das hat er gestern doch auch schon versucht. Sonderlich lange gehalten hat das ja nicht.«
Es tat Marc leid, das freudestrahlende Wesen, das ihm da gegenüberstand, in seiner Euphorie zu bremsen, aber er musste noch nicht einmal seine journalistische Erfahrung