Die Tage von Gezi. Martin Niessen

Die Tage von Gezi - Martin Niessen


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hast du recht, jetzt aber haben wir erst einmal gewonnen.«

      Mine schien sich ihre gute Laune partout nicht verderben lassen zu wollen.

      »Kommst du mit? Wir gehen jetzt erst einmal einen Kaffee trinken.«

      Marc schaute hinüber zu den Baumaschinen, aus denen gerade die Fahrer kletterten und die Türen abschlossen. Die Polizisten hatten ihre Helme abgenommen, sie zu ihren Schilden und Schlagstöcken ins Gras gelegt und sich daneben gehockt. Nur von den Demonstranten, die beim Versuch, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, festgesetzt worden waren, war nichts mehr zu sehen. Sie waren offensichtlich abgeführt worden.

      »Okay, warum nicht.«

      Kathrin

      Kathrin wachte auf, als ein Auto mit röhrendem Motor und offensichtlich viel zu hoher Geschwindigkeit über das Kopfsteinpflaster vor ihrem Haus fuhr. Bestimmt einer der Taxifahrer, die die kleine Straße gerne als Abkürzung zum Taxistand in Kuzguncuk nutzten. Das war der einzige Nachteil des Häuschens, das sie vor drei Jahren gemietet hatte. Ansonsten fühlte sie sich sehr wohl in dem über hundert Jahre alten Gemäuer mit den steilen Treppen und den hölzernen Kassettendecken, einem dieser alten armenischen Häuser, wie es noch einige in ihrer Straße gab, die deswegen vor allem an den Wochenenden von Heerscharen von Hochzeitspaaren heimgesucht wurde, um sich in vollem Ornat vor den zumeist liebevoll renovierten Fassaden fotografieren zulassen.

      Am Vortag hatte Kathrin sofort die Flucht ergriffen, als es zu den ersten körperlichen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten gekommen war. Sie hatte keine Lust, wegen des Gezi-Parks und seiner Bäume festgenommen zu werden und ihren Job an der Uni zu verlieren. Schon gar nicht wollte sie des Landes verwiesen werden. Wie wenig zimperlich die türkischen Behörden mit Menschen umgingen, die anderer Meinung waren, hatte sie, wenn auch noch nicht am eigenen Leib erlebt, so doch oft genug gehört oder gelesen. So schnell es ohne zu rennen ging, hatte sie den Gezi-Park verlassen und war in die Füniküler gestiegen, die sie hinunter nach Kabataş brachte. Kurz überlegte sie, noch einmal zur Uni zu fahren, wo einiges an Papierkram auf sie wartete, entschied sich dann aber, nach Hause zu fahren. Noch auf dem Weg zum Anleger der Fähre nach Üsküdar hatte ihr Telefon geklingelt. Es war Zübeida gewesen.

      »Hey Kathrin, wo steckst du? Ich habe mir schon Sorgen gemacht!«

      »Ich bin auf der Fähre nach Üsküdar. Ich hatte keine Lust, zwischen die Fronten zu geraten.«

      »Keine Sorge.«

      Am anderen Ende der Leitung hatte Zübeida gelacht.

      »Das war nur ein kurzes Scharmützel. Jetzt ist alles ruhig, die Polizei hat sich zurückgezogen. Die Abrissarbeiten ruhen. Aber ich halte noch ein wenig die Stellung.«

      »Pass auf dich auf!«

      Zuhause angekommen hatte sie die ersten der Semesterarbeiten korrigiert, die noch als dicker Stapel auf ihrem Schreibtisch lagen, und war dann mit einer Freundin und deren Mann – sie Deutsche, er Türke, beide Architekten wie sie – in einem netten kleinen Restaurant an der Hauptstraße von Kuzgungcuk etwas essen gegangen. Sie hatten natürlich über die Ereignisse im Gezi-Park gesprochen, das Vorgehen der Polizei verurteilt und sich auch in der Sache auf die Seite der Demonstranten geschlagen, denn als Experten konnten sie ja nur den Kopf schütteln über die Idee, an diesem Ort als bloße Fassade für Ladengeschäfte die osmanische Topçu-Kaserne wieder aufzubauen, deren Abriss noch von Kemal Atatürk selbst angeordnet worden war, um dem Zentrum der Stadt ein ziviles Antlitz zu geben. Außerdem hatte sich auf einem Teil des heutigen Parkareals bis 1930 auch noch einer der größten nichtmuslimischen Friedhöfe Istanbuls, der armenische Pangaltı-Friedhof, befunden, dessen Marmorsteine nach Enteignung und Zerstörung dann teilweise beim Bau des Springbrunnens oder als Treppenstufen Verwendung gefunden hatten. Ein Ort, der ihrer Meinung nach schon deswegen etwas Würdigeres verdient hätte als ein weiteres Einkaufszentrum. Außerdem hatte die Stadtregierung den Bürgern ihre Pläne erst Anfang Mai vorgestellt, als sie beschlossene Sache waren, selbst die Istanbuler Architektenkammer war nicht eingeweiht, ein ziemlich ungewöhnliches Verfahren für ein derart zentrales und vor allem öffentliches Bauvorhaben. Andererseits war es nicht das erste Großprojekt, das in einem Hauruckverfahren durchgepeitscht worden war.

      Und so landeten die drei schnell bei einer generellen Diskussion über die Pläne der AKP, die sich in einem Anfall von Größenwahn offensichtlich vorgenommen hatte, die Türkei einmal vollständig umzugraben und sich in Beton zu verewigen. Was sonst sollte man von der Idee halten, ein neues Istanbul am Schwarzen Meer aus dem Boden zu stampfen? Oder einen dritten Flughafen? Natürlich den größten der Welt. Oder einen zweiten Bosporus? Mit solchen großspurigen Plänen schien der Premierminister beweisen zu wollen, dass die Türkei ein echter »big player« war, eine der ganz großen Volkswirtschaften der Welt und eine hochmoderne Nation. Nur dass für ihn Modernität gleichbedeutend mit Glas, Stahl und Beton war. Istanbul lief Gefahr, das gleiche Schicksal vieler anderer Städte Asiens zu erleiden, Singapur, Kuala Lumpur, Shanghai etwa, die ihren rasanten Aufstieg mit dem Verlust ihrer kulturellen Identität bezahlt hatten.

      Stoff, sich aufzuregen, gab es also genug. Aber je mehr sich ihre Freunde in Rage redeten, umso nachdenklicher wurde Kathrin. War es nicht ihre Zunft, die der Architekten und Städteplaner, die das Spiel mitspielten? Die sich in futuristischen Entwürfen überboten, um den Zuschlag für ein Projekt zu bekommen? Warfen nicht auch sie gute Vorsätze über Bord, um von dem gigantischen Kuchen der Bauvorhaben ein möglichst großes Stück abzubekommen? Klar, es gab Architekten, die für den Erhalt des Gezi-Parks kämpften oder gegen den Abriss des Tarlabaşı-Viertels protestierten. Am Ende aber waren es eben Architekten, die als Gehilfen der Regierung daran mitwirkten, das Gesicht Istanbuls dramatisch zu verändern.

      Für Kathrins Geschmack war in der Diskussion zu wenig Selbstkritik zu hören, und so hatte sie sich früh verabschiedet und erstaunlich gut geschlafen, nach einem kurzen Telefonat mit Zübeida, die ihr versicherte, dass im Gezi-Park alles ruhig geblieben und ihres Wissens unter den festgenommenen Demonstranten keiner ihrer Studenten oder Dozentenkollegen war.

      Das Auto hatte sie nur wenige Minuten, bevor ihr Wecker ohnehin geklingelt hätte, geweckt. Sie duschte, zog sich an und verließ das Haus, um in einem Café um die Ecke zu frühstücken. In einem Kiosk kaufte sie drei Zeitungen, um nachzulesen, was im Gezi-Park vorgefallen war und wie es denn nun weiterginge.

      Kathrin setzte sich an einen kleinen Tisch, der auf dem Bürgersteig stand, bestellte Tee und Menemen, eine Art Rührei mit Tomaten, grüner Paprika, Käse und gebratener Socuk, Knoblauchwurst. In zwei der Zeitungen fand sie unter der Überschrift »Bauarbeiten gestoppt« ein paar Zeilen zum Gezi-Park, dass ein paar Hundert Studenten gegen das Abholzen der Bäume protestiert hätten, einige von ihnen nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei vorübergehend festgenommen worden seien und der BDP-Abgeordnete Sırrı Önder mit einer einstweiligen Verfügung einen vorläufigen Baustopp erwirkt hätte. Mehr nicht. Sehr nachrichtlich gehaltene Berichte, in denen sich allerdings kein Wort zum Einsatz von Tränengas und Gummiknüppeln durch die Polizei fand. In der dritten Zeitung, einer besonders regierungsnahen, wurden die Ereignisse der letzten beiden Tage überhaupt nicht erwähnt. Sehr ausführlich indes wurde in allen Zeitungen über die Grundsteinlegung für die dritte Bosporusbrücke berichtet, die Premierminister Erdoğan am Vortag höchstpersönlich vorgenommen hatte, weil es eines der Prestigeprojekte der AKP-Regierung war. Ausschnitte aus seiner wie immer langatmigen Rede waren abgedruckt, in der er auch ein allerdings sehr kurzes, eher generelles Statement zum Gezi-Park abgegeben hatte: Der Bau der osmanischen Kaserne auf dem Gelände sei beschlossene Sache, basta!

      Schau an! Das ist doch wieder typisch, dachte Kathrin, Erdoğan haut mal wieder mit der Faust auf den Tisch und die Presse zensiert sich in vorauseilendem Gehorsam selbst. Sie wusste, dass fast alle Verlage und TV-Stationen im Besitz von großen Firmenkonglomeraten waren, zu denen auch Baukonzerne, Telekommunikationsunternehmen, Hotelketten und was nicht noch alles gehörten. Aus Angst, von der allmächtigen AKP, die auch die meisten der großen Städte in der Türkei regierte, nicht mehr an öffentlichen Aufträgen beteiligt zu werden, hielten sich die meisten Medien mit kritischen Berichten über den Kurs der


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