Die Tage von Gezi. Martin Niessen

Die Tage von Gezi - Martin Niessen


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er so da, schaute stumpf auf glitzerndes Wasser und weiße Schiffsrümpfe und ließ sich Tee bringen, bis die Lebensgeister zurückkehrten und sich in Form eines Hungergefühls meldeten. Er zahlte, ging zurück nach Kabataş und nahm die Füniküler hoch zum Taksim-Platz. Er hatte den unterirdischen Bahnhof gerade über die lange Treppe verlassen, als ihn irgendetwas nach rechts gehen ließ. Zum Gezi-Park. Er musste grinsen. Diese jungen Leute mit ihrem auf ihn ein bisschen naiv wirkenden Engagement für ein paar Bäume hatten es ihm offensichtlich angetan. Besonders Mine, mit ihren wilden Locken, den großen Augen, in denen immer irgendein Funkeln war, und den vollen Lippen, die stets geöffnet waren, weil Mine entweder redete oder lachte und ihre sehr weißen, sehr ebenmäßigen Zähne entblößten. Hey, du alter Sack, sie könnte fast deine Tochter sein!, ermahnte er sich, noch immer grinsend. Er registrierte, eher unterbewusst, dass von allen Ecken des Platzes große Gruppen zumeist junger Leute Richtung Park zogen. Und plötzlich hatte er wieder dieses Kribbeln in der Nase. Tränengas! Im Laufen nestelte er sein Handy aus der Hosentasche. Das Display zeigte ihm fünf Anrufe in Abwesenheit und den Eingang von drei Kurznachrichten an. Der erste Anruf war von halb elf, da hatte er gerade mit der Besichtigung des Dolmabahçe begonnen, der letzte war vor knapp zwanzig Minuten eingegangen, die SMS waren in der Zeit dazwischen gekommen. Absender und Anrufer waren ein und dieselbe Person: Mine. Er verfluchte sich, weil er sein Telefon auf stumm geschaltet hatte, drückte auf die Rückruftaste und rannte die Stufen zum Park hoch. Die Leitung war besetzt. An den Absperrungen standen mit Schilden, Helmen und Schlagstöcken ausgerüstete Polizisten, deutlich mehr als in den beiden Tagen zuvor. Erst jetzt registrierte er die Mannschaftsbusse, die zu beiden Seiten des Parks abgestellt waren. In deren Schatten saßen noch mehr Polizisten, tranken Wasser aus kleinen Plastikflaschen, die meisten rauchten, manche wirkten erschöpft, als hätten sie einen ziemlich harten Einsatz hinter sich. Einige hatten dickläufige Gewehre auf den Knien liegen. Er kannte diese Art Waffen. Sie waren zum Abschießen von Gasgranaten.

      Dass er ungehindert den Park betreten konnte, wunderte ihn. Lag es daran, dass er, groß und blond, offensichtlich ein Tourist war? Oder hatten die Polizisten sich dem Druck der Massen gebeugt? Im Park war die Menschenmenge auf mehrere Tausend angewachsen, die auf freien Flächen Zelte aufbauten, in Gruppen zusammenstanden oder auf dem Boden hockten. Fast alle sprachen aufgeregt miteinander. Was, konnte er nicht verstehen. Er sah, dass mehrere Männer Pflaster im Gesicht trugen oder Verbände um den Kopf, im Gras entdeckte er Reste von zerrissenen Zeltplanen und Plakaten, dazwischen schwarze Klumpen, die sich bei näherem Hinsehen als zusammengeschmolzene Synthetikstoffe entpuppten. Als seien Zelte angezündet worden. Oh Mann, dachte er, das muss wirklich heftig gewesen sein. Aber wie sollte er in diesem Chaos Mine finden? Er drückte auf Wahlwiederholung. Diesmal bekam er die Nachricht, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Eine gute Stunde irrte er durch den Park, auf der Suche nach Mine, versuchte immer wieder, sie telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg. Entweder hatte sie ihr Handy ausgeschaltet oder der Akku war leer. Er sprach ein paar junge Leute an, die im Gras saßen, und erfuhr so, dass die Polizei am frühen Morgen, gegen fünf Uhr, das Camp der Parkbesetzer gestürmt und unter dem Einsatz von Wasserwerfern und Reizgas geräumt hatte. Mehrere Menschen seien dabei verletzt, andere verhaftet worden. Die Zelte der Demonstranten habe man niedergerissen oder einfach abgefackelt. Danach habe sich die Polizei wieder zurückgezogen. Seine Sorge um Mine wuchs. War sie nach der Rakı-Sause in der Bar noch in den Park zurückgegangen oder doch nach Hause? Alle paar Minuten betätigte er die Wahlwiederholungstaste, schickte Kurznachrichten mit der Bitte, sich zu melden. Aber er bekam keine Antwort. Mines Telefon blieb abgeschaltet. Von den drei anderen, die gestern dabei gewesen waren, hatte er keine Nummern, und auch sonst fiel ihm keine Möglichkeit ein, Kontakt zu Mine aufzunehmen. Er kannte ja noch nicht einmal ihren Nachnamen. Es dämmerte bereits, als Marc aufgab. Er merkte, dass der Hunger ihm mittlerweile ein Loch in den Bauch bohrte, schließlich hatte er an diesem Tag noch rein gar nichts gegessen. Er verließ den Park und ging Richtung Nevizade, einer Bier- und Fressmeile in der Nähe der Istiklal Straße. Bei gegrillter Dorade, die er ziemlich lustlos und nicht sehr geschickt zerteilte, sodass er ständig Gräten ausspucken musste, und einem frisch gezapften Bier, mit dem die Kopfschmerzen und die leichte Übelkeit, die ihn den ganzen Tag begleitet hatten, verschwanden, und ohne einen Blick für das rege Treiben in der engen Gasse wählte er sich in das WLAN-Netz des Restaurants ein und suchte im Internet nach Informationen über den Polizeieinsatz am Morgen. Er fand ein paar kurze Meldungen von Nachrichtenagenturen und auf einem Videoportal einige wackelige Filmschnipsel, die ein aus seiner Sicht ziemlich überzogenes und brutales Vorgehen der Polizei zeigten, was nicht gerade dazu angetan war, ihn zu beruhigen. Von Rakı ließ er an diesem Abend die Finger.

      Mine

      Mine hatte sich kurz nach Marc verabschiedet. Den Plan, im Park zu übernachten, hatte sie auf dem Rückweg zum Taksim-Platz aufgegeben und war stattdessen nach Hause gegangen. Nicht, weil Vedat sie darum gebeten hatte, sondern weil das Zelt ihrer Freundin Şebnems ihr in ihrem reichlich angeschickerten Zustand plötzlich viel zu unbequem vorkam. Es war so klein, dass Mines Isomatte nicht mehr neben Şebnems Luftmatratze gepasst hatte. Bäume hin, Bäume her, sie wollte in ihrem eigenen Bett schlafen. Vedat war noch wach gewesen, als sie heim kam. Und sauer. Sie hatten sich gestritten.

      Es war eine Grundsatzdiskussion geworden. Sie sprach, mit schwerer Zunge, von der Verantwortung des Einzelnen und meinte den Park, er von Verantwortung dem Partner gegenüber und meinte sie. Irgendwann im Laufe der Nacht – sie diskutierten lange – hatte Vedat mit der Hand auf den Küchentisch geschlagen und geschrien, dass es reiche, dass sie, seine Frau, doch einmal auf ihn hören könne. Sie hatten sich beide erschrocken. Vedat fand als Erster die Sprache wieder.

      »Es tut mir leid, ich habe das nicht so gemeint. Ich mache mir nur Sorgen. Natürlich kannst du dich für Bäume einsetzen, aber ich habe heute in der Kaserne gehört, dass die Stadtverwaltung sich die Besetzung des Gezi-Parks nicht länger gefallen lassen will. Es heißt, dass Sondereinheiten zusammengezogen werden, um den Park vollständig zu räumen. Auch wir wurden heute Nachmittag in Alarmbereitschaft versetzt.«

      Den Park vollständig räumen? Mine konnte nicht glauben, was ihr Mann ihr da gerade gesagt hatte. Das würden die tun? Sie war schlagartig nüchtern und vergaß über diese Nachricht sogar, dass Vedat zum ersten Mal, seit sie sich kannten, den Herrn im Hause hatte raushängen lassen. Es dauerte eine Weile, bis sie ihre Fassung zurückerlangt hatte.

      »Gut, dann müssen du und deine Kollegen mich halt mit Gewalt aus dem Park heraustragen!«

      Dann stand sie wortlos auf und ging ins Bett. Als Vedat kam, tat sie, als ob sie schliefe.

      Am nächsten Morgen war Vedat bereits weg, als sie mit pochenden Kopfschmerzen und einem ziemlich ekligen Geschmack im Mund um viertel vor neun aufwachte. Vor lauter Ärger hatte sie sich vor dem Zubettgehen noch nicht einmal die Zähne geputzt. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. »Ich rufe dich nachher an. Sei bitte vorsichtig. Ich liebe dich!«, stand da in Vedats ordentlicher, wenn auch etwas kleiner Handschrift. Mine löste eine Kopfschmerztablette in Wasser auf, trank mit zittriger Hand, duschte und zog sich an, packte ein paar frische Klamotten in ihren Tagesrucksack – Schlafsack und Isomatte, sie hatte einfach Vedats genommen, waren ja noch in Şebnems Zelt im Park – und ging los. Als sie ihr Mobiltelefon in die Hand nahm, um Marc auf dem Weg eine SMS zu schreiben, erschrak sie und blieb stehen. Das Telefon zeigte ihr Dutzende verpasste Anrufe und mindestens genauso viele SMS im Eingangsordner an. Sie tippte die SMS zu Ende, dann begann sie zu lesen. Die Polizei hatte den Park gestürmt! Während sie gemütlich zu Hause im Bett gelegen hatte, um ihren Rausch auszuschlafen! Wut kochte in ihr hoch. Auf diese Faschisten von der Stadtverwaltung und der Polizei! Und auf sich selbst, weil sie nicht da gewesen war, um ihren Freunden beizustehen. Glücklicherweise hatte sich Şebnem offensichtlich rechtzeitig in Sicherheit bringen können, eine der Nachrichten und zahlreiche Anrufe waren von ihr. Und soweit sie es anhand der Informationen auf ihrer Mailbox beurteilen konnte, war auch anderen Freunden nichts passiert, was angesichts des Lärms, der im Hintergrund der aufgezeichneten Gespräche wütete – sie hörte Schreie, Explosionen, Motorengeräusche, die wahrscheinlich von den Wasserwerfern herrührten, die in den Park eingedrungen waren, und Polizeisirenen –, fast ein Wunder war.

      Şebnem meldete sich bereits nach dem ersten Klingeln. Ihre Freundin klang müde


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