Die Tage von Gezi. Martin Niessen
mehr Journalisten hinter Gittern saßen, was die Lust der Medienvertreter auf Opposition zusätzlich schmälerte. Das war in den letzten Jahren immer schlimmer, Kritik am Premier äußerst selten geworden. Pressefreiheit war wahrlich keine Erfindung der Türkei. Damit schienen sich die meisten Bürger dieses Landes allerdings irgendwie abgefunden zu haben.
Kathrins Handy gab einen Ton von sich, der den Eingang einer SMS signalisierte. Dann noch einen. Und noch einen. In kürzester Zeit erreichten sie sechs Kurznachrichten von Freunden, darunter Nevra und Zübeida. Der Inhalt war immer der gleiche: Sondereinheiten der Polizei hatten am frühen Morgen offensichtlich mit brutaler Gewalt das Zeltcamp der Parkbesetzer gestürmt, dabei Tränengas, Wasserwerfer und Schlagstöcke eingesetzt. Es gab Verletzte.
Marc
Er wurde wach, weil sein Mobiltelefon auf dem Nachttisch vibrierte. Marc schaute auf seine Armbanduhr, die er – eine seiner Angewohnheiten – nie ablegte. Es war bereits halb zehn. Er tastete nach seinem Handy. Die SMS war kurz und bündig: »Gehe jetzt in den Park. Polizei hat versucht, ihn zu stürmen. Kommst du?« Keine Ansprache, kein Gruß am Ende. Er musste trotz des Inhalts unwillkürlich lächeln. Die Nachricht war von Mine. Sie waren gestern mit einigen ihrer Freunde erst einen Kaffee trinken gegangen, dann noch einen und noch einen, bis er Hunger bekam. Mine und – wie hießen die drei anderen, zwei Frauen, ein Mann, noch: Meltem, Serap und Yaşar? Namen, vor allem so fremd klingende, waren für ihn Schall und Rauch – schleppten ihn daraufhin in ein kleines Restaurant in einer Seitengasse der Istiklal Straße, wo sie auf Holzschemeln an einem klapprigen Tisch mit Spinat, Käse, Hackfleisch oder verschiedenem Gemüse belegte Pide aßen, pizzaartige Teigfladen. Dazu tranken sie Ayran. Er kam sich vor wie ein Blitzableiter, so sehr fluchten die drei jungen Türken über ihren Premierminister. Dass er ihnen den Alkohol verbieten wolle – beim letzten Efes-Festival habe es schon keinen mehr gegeben, obwohl Efes, der größte Bierbrauer der Türkei, der Hauptsponsor des mehrtägigen Musikfestivals sei. Dass er den Bars und Restaurants untersagt habe, Tische und Stühle rauszustellen, nur weil er da mal mit dem Auto nicht durchgekommen sei. Dass er Kultureinrichtungen schließen lasse, wie das Emek-Theater, dafür aber an jeder Ecke Einkaufszentren und Moscheen aus dem Boden schössen. Richtig in Rage redeten sich die drei, nachdem sie das Etablissement gewechselt und in eine Bar auf dem Dach eines mehrgeschossigen Altbaus umgezogen waren, wo eine Flasche Rakı bestellt und zügig in Angriff genommen wurde. Marc hatte zunächst geduldig zugehört, was ihm bei der wummernden Punk-Musik, die dort in konzerttauglicher Lautstärke gespielt wurde, zunehmend schwerer fiel, weil der türkische Schnaps die Zungen seiner Tischnachbarn derart lockerte, dass sich ihr Englisch in ein nuscheliges Kauderwelsch verwandelte und seine Auffassungsgabe sich gleichzeitig deutlich verlangsamte, bis er irgendwann nicht mehr folgen konnte und begann, in der Gegend herumzustarren, worauf Mine, Meltem und Erol plötzlich mehr miteinander als auf ihn einredeten und dabei – natürlich – ins Türkische verfielen. Gewohnheitsgemäß schaute Marc auf die Uhr. Kurz nach halb eins, Zeit zu gehen. Schließlich wollte er am nächsten Morgen recht früh am Dolmabahçe-Palast sein, im Idealfall noch vor den ersten Tourbussen. Er hatte sich unter heftigem Protest seiner Trinkgenossinnen und -genossen verabschiedet und war zur Theke gegangen, wo er die Flasche Rakı bezahlte, weil die Studenten ihn trotz heftiger Gegenwehr schon zum Essen eingeladen hatten, wobei ihm erneut auffiel, wie teuer doch Alkohol im Vergleich zu so vielen anderen Dingen war.
Marc legte das Handy zurück auf den Nachttisch, bekam beim Aufstehen einen leichten Schwindelanfall und bemerkte auf dem Weg zur Dusche, dass sein Schädel brummte, was sich erst – aber auch nicht vollständig – legte, als er unten im Frühstücksraum den üblichen Cappuccino und ein Glas frischen Orangensaft, dessen Säure ihm allerdings aufstieß, getrunken hatte. Und das mit dem frühen Aufstehen hatte auch nicht wirklich funktioniert, er hatte offensichtlich vergessen, sich den Wecker zu stellen. Wenn es im Dolmabahçe bereits zu voll ist, mache ich halt etwas anderes, dachte er sich und tippte eine Antwort an Mine in sein Mobiltelefon: »Hi Mine. Geht es dir gut? Will jetzt erst einmal in den Dolmabahçe-Palast. Melde mich später. LG, Marc«. Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da kam die Antwort. Wie schnell manche Leute auf diesen winzigen Tastaturen herumtippen konnten, war ihm ein echtes Rätsel. »Okay. Solltest danach aber kommen. Muss wild gewesen sein. Mine«.
Marc kämpfte mit sich. Sollte er doch lieber in den Gezi-Park? Istanbuls Sehenswürdigkeiten rannten schließlich nicht weg. Er machte sich wirklich Sorgen um diese temperamentvolle Türkin mit den großen Augen und dem breiten Lachen. Doch er entschied sich anders. Von einer Frau, die kaum mehr als halb so alt war wie er, aus einem völlig anderen Kulturkreis kam und Muslima war, sollte er wohl besser die Finger lassen. Außerdem hatte er die letzten beiden Tage zum größten Teil im oder zumindest thematisch mit dem Gezi-Park verbracht, dabei war er doch, verdammt noch mal, im Urlaub! Er würde später mit Mine telefonieren. Ohne in die bereitliegenden Zeitungen zu schauen, verließ er Frühstücksraum und Hotel, um durch die kleinen Gassen hinab zur Tramhaltestelle in Karaköy zu gehen und von dort nach Kabataş zu fahren.
Sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln in der Stadt zu bewegen war wirklich einfach. Er hatte eine »Istanbul Kart«, die sowohl in der Straßenbahn als auch in der Metro, in Bussen und auf Fähren galt. An entsprechenden Lesegeräten wurde der zu entrichtende Betrag von der Karte abgebucht, aufladen konnte man sie an Automaten oder kleinen Kiosken, die es nahezu überall gab. Sehr praktisch. In Kabataş, der Endhaltestelle, stieg er aus und ging die restlichen zweihundert Meter zum ehemaligen Sultanspalast und Amtssitz Kemal Atatürks zu Fuß, an der Valide Sultan Moschee, die im Volksmund nur Dolmabahçe Moschee hieß und direkt am Bosporus lag, und dem Beşiktaş-Stadion auf der anderen Straßenseite vorbei. Der Parkplatz vor dem Haupteingang des Palastes war schon voller Touristenbusse und Marc konnte bereits aus einiger Entfernung die Schlangen an den Kassen und der Sicherheitsschleuse sehen. Abschrecken lassen wollte er sich davon nicht, der Dolmabahçe gehörte schließlich zum Pflichtprogramm für Istanbul-Besucher, und besser würde das mit den Besuchermassen ohnehin nicht. Im Gegenteil, es war Donnerstag und am bevorstehenden Wochenende kamen zu den ausländischen Touristen auch noch die türkischen. Also stellte er sich an und war erstaunt, dass er ob der sicher fünfzig Meter langen Schlangen innerhalb einer Viertelstunde sein Ticket gekauft und die Sicherheitsschleuse passiert hatte. Das Angebot von Guides, die ihm auf dem Weg zum Eingang des Palastes vielsprachig ihre Dienste anpriesen, lehnte er dankend und auf seinen dicken Reiseführer verweisend mit einem lockeren »Yok, sağ ol, abi« ab. Als eine junge Frau mit schwarzer Hornbrille daraufhin laut loslachte und ihm in akzentfreiem Englisch »Abla, Sir, abla! I am a woman!« hinterherrief, war er kurz irritiert, bis ihm einfiel, dass »abi« ja Bruder hieß. Er drehte sich um, grinste und baute das neu Gelernte direkt in seinen Wortschatz ein: »Teşekkürler, abla!« Vielen Dank, Schwester. Er erntete ein zufriedenes Grinsen und ging weiter.
Drei Stunden wanderte er durch das sechshundert Meter lange Gebäude, das Sultan Abdülmecid I. Mitte des 19. Jahrhunderts bei zwei armenischen Architekten in Auftrag gegeben hatte, staunte über Protz- und Verschwendungssucht in mehr als zweihundertachtzig Zimmern und fast fünfzig Sälen, stand beeindruckt in der über und über mit Gold verzierten Halle, in der die Herrscher über das Großreich Diplomaten empfingen, bewunderte die für die damalige Zeit äußerst fortschrittlichen Toiletten mit Wasserspülung in den mehr als siebzig Badezimmern und Hamams, fühlte sich im zweitausend Quadratmeter großen Muayede Salonu mit seiner sechsunddreißig Meter hohen Kuppel und dem viereinhalb Tonnen schweren, größten Kristallkronleuchter der Welt klein wie eine Ameise und stand für einen kurzen Moment vor Atatürks Sterbezimmer mit der großen türkischen Flagge auf dem Bett und der um fünf Minuten nach neun angehaltenen Uhr, jenem Moment des 10. November 1938, als der als »Vater der Türken« verehrte Staatsmann für immer die Augen geschlossen hatte, bevor er von den nachdrängenden Besucherhorden weitergeschoben wurde.
Nach so viel Gold und Großmannssucht brummte sein Schädel noch mehr und Marc setzte sich im Garten vor dem Haupttor in ein Café, dessen Terrasse direkt am Bosporus lag. Er bestellte einen mittelsüßen Türkischen Kaffee und starrte auf die vorbeifahrenden Schiffe. Ein weißer Kreuzfahrtriese, der gerade in Karaköy abgelegt hatte, lief mit tiefem Horn tutend ins Marmarameer aus, Fähren kreuzten zwischen Europa und Asien, Container- und Frachtschiffe fuhren wie an einer Perlenkette aufgereiht, allerdings mit ausreichendem Abstand voneinander, den Bosporus