Die Tage von Gezi. Martin Niessen
Zwischen ihnen erkannte Kathrin weitere Mitglieder des Lehrkörpers, die sich den Studenten offensichtlich anschlossen. Dann setzte sich der Zug in Bewegung zur Tramstation und Kathrin trieb einfach mit. Die Studenten wirkten aufgekratzt, die Stimmung war friedlich-fröhlich, einige starteten Sprechchöre:
»Parkımızı vermiyoruz. Gezi hepimiz.«
Wir geben unseren Park nicht her, Gezi gehört uns allen.
»Toll, dass Sie mitmachen.«
Kathrin drehte sich zu der Sprecherin um, die direkt hinter ihr auf dem Bahnsteig stand. Es war die Studentin, die sie bereits beim Verlassen des Hörsaals angesprochen hatte. Kathrin lächelte etwas unsicher. Dann rollte die Tram ein. In Kabataş stiegen sie um in die Füniküler, eine Tunnelseilbahn, die hoch zur Metrostation am Taksim-Platz führte. Vom Ausgang der Füniküler zum Eingang des Parks waren es vielleicht fünfzig Meter. Der Platz war, obwohl es noch Vormittag war, bereits ziemlich voll und von allen Seiten strömten kleine Gruppen zumeist junger Leute herbei und weiter Richtung Park. Viele schwenkten Fahnen, Kathrin erkannte die Logos verschiedener Gewerkschaften und kleinerer, zumeist linker Parteien. Auf selbst gemalten Plakaten und Bannern konnte sie »Stopp demolition of Gezi-Park!« lesen, oder »Occupy Gezi«. Unwillkürlich musste sie lächeln. Schon war das Ganze internationalisiert. Aber wie hatten die sich nur so schnell organisiert?
Dann sah sie die Mannschaftswagen der Polizei, die dort aufgefahren waren, wo – seit Taksim eine Großbaustelle war – die Busse des Flughafenshuttles hielten, am nordöstlichen Ende des Platzes, vor dem Atatürk Kulturzentrum, dessen Zukunft – Abriss oder Erhalt als Museum – ebenfalls heiß umstritten war. Es waren Fahrzeuge der Çevik Kuvvet Polis, einer Sondereinheit, die bei Versammlungen eingesetzt wurde und als besonders brutal verschrien war, mit vergitterten Fenstern und Rammblechen vor der Motorhaube. In deren Schatten hockten die Polizisten, ihre Schilde an die Wagen gelehnt, die Helme davor abgelegt. In der angrenzenden Seitenstraße meinte sie, einen Wasserwerfer auszumachen. Ihr Schritt wurde unwillkürlich langsamer, als sie noch immer in der Gruppe der Studenten und Kollegen die Stufen zum Park hinaufging. Der Zugang war oberhalb der Stufen mit Gittern der Polizei bis auf zwei kleine Durchlässe rechts und links abgesperrt. Dahinter standen, ebenfalls behelmt und mit Schilden und Schlagstöcken ausgerüstet, Polizisten der Zabita, der normalen Polizei des Bezirkes Beyoğlu. In einem vergitterten Geviert um die kleine Polizeistation des Parks, mehr eine Hütte als ein Gebäude, hockte eine ganze Hundertschaft im Schatten der Bäume. Sollte sie umkehren? Das könnte eine heiße Sache werden. In diesem Moment hakte die junge Studentin sie unter und zog Kathrin mit einem aufmunternden Lächeln in Richtung des linken Durchlasses. Als sie, noch immer am Arm der Studentin hängend, an den Absperrungen vorbei auf die offene Fläche in der Mitte des Parks trat, stand sie vor einer kleinen Zeltstadt. Dreißig, vierzig kleine Zelte in allen möglichen Farben standen am Rand, auf den Rasenflächen unter den Bäumen. Plakate waren zwischen die Bäume gespannt, mit Slogans, die sie die Studenten auf dem ganzen Weg hierhin bereits in Sprechchören hatte rufen hören. Im Schutz eines größeren, weißen Pavillonzeltes in der Mitte waren zwei Tische aufgestellt, auf denen ein Megaphon lag, dahinter standen ein paar Stühle. Zwei-, vielleicht dreihundert zumeist junge Menschen in ihren frühen Zwanzigern saßen in Gruppen davor zusammen, sangen zum Spiel von Gitarren und Darbukas, kleinen Trommeln, oder diskutierten rege. Dazwischen hockten oder standen auch einige Ältere, die Kathrin, wenn es nicht gerade Kollegen von der Uni waren, nicht kannte. Ihr Blick streifte über die Gesichter und blieb an dem eines gut aussehenden Mannes hängen, der um die dreißig sein musste. Der Mann schaute abwechselnd ernst und lächelte viel, dabei redete er unaufhörlich. Irgendwie kam ihr der Typ bekannt vor. Aber woher? Dann fiel es ihr ein. War das nicht Can Bonomo, der bekannte Sänger? Musste wohl so sein, schließlich saß eine ganze Traube junger Frauen um ihn herum und hing an seinen Lippen. Promis waren also auch hier. Was er sagte, konnte sie über die Entfernung allerdings nicht verstehen. Die ganze Atmosphäre hatte etwas von einem spontanen Volksfest. Ihr gefiel diese bunte, fröhliche Versammlung, ein Gefühl des Unwohlseins aber blieb.
»Hallo Kathrin, was machst du denn hier?«
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Neben ihr stand, sie hatte ihre Annäherung nicht bemerkt, eine zierliche junge Frau. Sie brauchte einen Moment, dann fiel es ihr wieder ein. Es war die Tochter einer Kollegin, Kunsthistorikern und wie sie Professorin an der Mimar Sinan, mit der sie mittlerweile eine lockere Freundschaft verband, seit sie sie auch außerhalb der Uni mehrfach auf Kulturveranstaltungen getroffen hatte. Dabei hatte die Kollegin ihr irgendwann auch mal ihre Tochter vorgestellt, die sie gelegentlich bei Theateraufführungen, Ausstellungen und Konzerten begleitete, manchmal zusammen mit einem jungen Mann, der sich als Ehemann der Tochter herausgestellt hatte. Daran erinnerte sich Kathrin, weil es sie erstaunt hatte, dass eine so junge Frau aus dieser gesellschaftlichen Schicht bereits verheiratet war. Sie hatten manchmal nach den Veranstaltungen in irgendeiner nahen Bar zusammen noch ein Glas Rotwein getrunken und sich unterhalten. Glücklicherweise fiel ihr auch der Name der jungen Frau ein. Mine hieß sie. Und noch etwas: War ihr Mann nicht Polizist?
Mine
Mine hatte am Morgen alle Versuche Vedats, sie davon abzuhalten, wieder in den Gezi-Park zu gehen, ziemlich unwirsch zurückgewiesen.
»Da kannst du dich auf den Kopf stellen, aber ich werde nicht zulassen, dass sie dort weiter mit ihren Bulldozern wüten und alles abholzen.«
Vedat hatte geknickt gewirkt. Seine Stimme klang fast flehentlich.
»Tu mir einen Gefallen: Wenn du siehst, dass die Polizisten ihre Gasmasken aufsetzen, renn sofort weg, denn dann geht es los!«
Mine fühlte Wut in sich aufsteigen, die sie nur deshalb mühsam unterdrücken konnte, weil sie wusste, dass Vedat das falsche Ziel war und er es nur gut mit ihr meinte, sich ernsthaft Sorgen machte.
»Wenn wir ihnen keinen Anlass dazu geben, weil wir friedlich bleiben, sollte es dazu doch gar nicht kommen.«
»Du weißt, wie die Polizei ist, die …«
Vedat konnte nicht zu Ende sprechen, weil das Gift der Wut sich dann doch einen Weg gebahnt hätte.
»Und du müsstest das noch viel besser wissen. Du arbeitest nämlich für die!«
Vedat schaute, bedröppelt wie ein kleiner Junge, der beim Naschen ertappt worden war, auf seine Füße.
Sofort bereute sie ihren Ausbruch. Sie war ungerecht.
»Entschuldige, tut mir leid. Ich weiß, dass du nicht so bist.«
Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, schob den Zeigefinger unter sein Kinn, hob es leicht an und küsste ihn auf den Mund.
»Ich passe auf, versprochen. Ich habe meine Lektion gestern gelernt.«
Als er etwas sagen wollte, legte sie den Zeigefinger auf seine Lippen, griff mit der anderen Hand ihren Rucksack und war schon draußen. Sie war mit einer Freundin verabredet, die ein Zelt aufgetrieben hatte und mit Mine zusammen an der geplanten Besetzung des Parks teilnehmen wollte. »Taksim hepimiz« nannte sich die Plattform verschiedener Interessengruppen, die sich von der Räumung des Protestcamps am Vortag nicht aufhalten lassen wollte. Ihr Aufruf, den Park mit Zelten zu besetzen, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, über E-Mails, Kurznachrichten und soziale Netzwerke, bei denen es sogar schon eigene Seiten gab. Als Mine im Park ankam, sah sie, dass aus den fünfzig Demonstranten des Vortages bereits fünfhundert, vielleicht auch mehr geworden waren. Sie zählte mindestens sechzig, siebzig Zelte, zwischen denen wieder Banner hingen. Allerdings hatte offensichtlich auch die Zahl der Polizisten zugenommen, sowohl am Eingang des Parks am Taksim-Platz als auch am nordwestlichen Ende, wo die Baumaschinen abgestellt waren. In der Mitte des Parks, auf der großen Rasenfläche, wo sie sich mit ihrer Freundin treffen wollte, stand ein großes weißes Zelt mit einigen Tischen und Stühlen. Auf dem Weg dorthin ging Mine an einer großen blonden Frau vorbei, die etwas verloren wirkte, wie sie da herumstand und in die Gegend starrte. Sie war schon neben ihr, als Mine erkannte, dass es eine Kollegin und Freundin ihrer Mutter war. Eine deutsche Architektin, die wie ihre Mutter an der Mimar Sinan Universität lehrte und der sie mehrmals im Theater oder in Galerien begegnet war.