Jahrgang 1928 - Erinnerungen. Heinz Müller
„Fremde Leute lassen wir hier nicht rein, kommen Sie später wieder!“
Nach dieser Antwort blieb alles still, doch dann ertönte ein Lachen, so wie nur seine Mutti lachen konnte. „Aber Hans, erkennst du deine Mutti nicht? Lass mich schnell rein, denn ich bin vom Regen nass wie eine Katze und will mich nicht erkälten.“
Mit zitternden Fingern versuchte Hans, den Schlüssel in das Schloss zu stecken, das gelang aber erst nach mehreren Versuchen. Endlich war die Tür geöffnet und Mutter und Sohn lagen sich in den Armen.
Die Mutter zog schnell die nassen Sachen aus und dann ging ein Erzählen los, das kein Ende nahm und die Abendbrotzeit vergessen ließ. Wie jeden Tag hatte der Vater die Stullen für Hans als Abendbrot fertig gemacht. Hans erinnerte sich daran, stellte alles für die Mutter einladend auf den Tisch und seit langer, langer Zeit konnten beide wieder gemeinsam Abendbrot essen. Danach konnte sich Hans – zum Erstaunen der Mutter – allein waschen und ermattet von der Aufregung gingen beide zum Schlafen ins Bett.
Eng aneinander gekuschelt schliefen beide ein. So fand sie Robert, als er nach 22:00 Uhr von der Arbeit kam und erstaunt war, dass das Abendbrotgeschirr schon abgewaschen und zurück im Küchenschrank abgestellt war.
Mit der Mutter kehrt die Sonne ins Haus zurück
Mit der Mutter kehrte die Sonne zurück. Nicht nur in der Natur, auch im Haus strahlte alles wieder im alten Glanz. Es wurde ein sonniges Frühjahr und mit der täglichen Arbeit kam auch wieder Normalität in das Familienleben.
Im Garten wurden Beete angelegt, Obstbäume und Beerensträucher gepflanzt. Neben der Arbeit im Garten waren Dorchen und Hans zuständig für die Hühner und Kaninchenhaltung, für die Ziege, zwei Schafe und zeitweilig für ein Schwein. Das wurde im späten Herbst geschlachtet und versorgte die Familie während des ganzen Jahres mit schmackhafter Wurst, Schinken und Fleisch.
Aus der Milch der Ziege wurde Quark und Käse und die Hühnerschar bereicherte durch täglich frische Eier den Frühstückstisch. So wuchs Hans mit festen Aufgaben und in frischer Luft gesund und froh auf.
Der Arbeitsablauf änderte sich erst, als er eingeschult wurde und täglich mehr als 4 Km zur Schule laufen musste. Früh um 07:00 Uhr ging es los und nachmittags ging es die vier Kilometer wieder zurück. Hier fand er seinen ersten Freund. Es war im Klassenzimmer sein Banknachbar Fritz, den er auch täglich auf dem Schulweg abholte. Zwei Jahre später kamen zu dieser Freundschaft der ein Jahr ältere Alois und Paul dazu.
Das Kleeblatt und die Spatzenbrühe
Die vier Jungen waren während der Schulzeit und auch im späteren Leben unzertrennliche Freunde. Sie halfen sich gegenseitig auch gegenüber älteren und stärkeren Jungen. Das Kleeblatt wurden sie genannt.
Vater Robert sollte sich in dieser Zeit dank seiner schnellen Auffassungsgabe auch weiterbilden. Vom Bergmann entwickelte er sich zum Stellwerkswärter und zum E-Lokfahrer. Als immer mehr Förderbänder – die zu dieser Zeit aus einer Art Gummileinwandschicht bestanden – beim täglichen Transport der abgebaggerten Erdschichten und Rohbraunkohle brüchig wurden, bekam er noch einen weiteren Beruf. Er wurde Vulkaniseur zur Ausbesserung dieser Bänder.
Vater und Sohn lernten nach der Schule und nach der Schicht um die Wette und Mutter freute sich über ihre beiden tüchtigen Männer. Zur Belohnung gab es abends Kartoffelpuffer, die beide gern aßen.
Hans, der nach wie vor für das Füttern der Hühner verantwortlich war, ärgerte sich über einen großen Schwarm Spatzen, der regelmäßig die Hälfte des Hühnerfutters aufpickte.
Nach einer Beratung mit seinen Freunden beschlossen sie, Spatzen mit einem Maurersieb zu fangen. Das Sieb wurde wie zum Sand sieben aufgestellt, also mit einer untergestellten Latte schräg gestellt. Am oberen Teil der Stützlatte wurde eine Schnur angebunden und zu einem Versteck in der Nähe geführt.
Unter das Sieb wurden etwas Hühnerfutter gestreut und dann braucht man nur noch zu warten, bis die Spatzen in Scharen angeflogen kommen und gierig das Futter pickten. In diesem Augenblick wurde die Stützlatte weggezogen und die sich darunter befindenden Spatzen waren gefangen oder vom Sieb erschlagen worden.
Gedacht, beraten und getan war eins. Die Spatzen kamen tatsächlich und als die Latte weggezogen wurde, befand sich lediglich ein Spatz unter dem Sieb. Die Jungen hatten die Schnur nicht straff genug gespannt.
Es dauerte zu lange, bis das Sieb umfiel, dadurch konnten die Spatzen rechtzeitig das Weite suchen. Aus einem Fehler lernt man. Also wurde beim nächsten Mal die Schnur richtig straff gespannt und sieben Spatzen waren die Jagdbeute.
Fritz – der immer Hunger hatte – kam auf den Gedanken: „Wir fangen noch mehr und kochen eine kräftige Geflügelbrühe. Wir brauchen dazu einen Kocher und einen Topf Salz, Zwiebeln, ein paar Mohrrüben und vielleicht ein bis zwei Lorbeerblätter.“
Die Zwiebeln und Mohrrüben holte Hans aus dem Garten und alles andere besorgten die Jungs aus den elterlichen Wohnungen. Das Sieb wurde wieder aufgestellt und vier Spatzen gefangen. Dann kamen keine Spatzen mehr, die Jungs hatten sie erschreckt und vertrieben.
„12 Spatzen, das heißt für jeden drei“, verkündete Fritz, der von den Jungen der Klasse der schnellste Rechner war.
Paul war der Biologe, Alois der Erdkundler und Hans perfekt in Deutsch und hier besonders im mündlichen und schriftlichen Ausdruck. Seine Aufsätze waren berühmt und Fritz, der in der Schule neben ihm saß, hat während der gesamten Schulzeit nicht einen einzigen Aufsatz selbständig geschrieben. Hans half ihm und umgekehrt half Fritz ihm bei allen Mathematikaufgaben.
Doch jetzt mussten erst einmal alle Spatzen gerupft, ausgenommen und unter fließendem Wasser gesäubert werden. Unter der Federführung von Fritz – der ab und zu der Mutter zu Hause beim Kochen half – wurde diese Aufgabe in kürzester Zeit erledigt. Der Spirituskocher wurde in Betrieb gesetzt und der Topf mit Wasser, den Mohrrüben und den geschälten Zwiebeln aufgesetzt. Nach dem ersten Aufkochen wurden auch die von ihren Köpfen und Beinen befreiten, ausgenommenen Vögel in das kochende Wasser getan. Paul der den Kocher besorgt hatte und dafür jetzt verantwortlich war, hatte zu wenig gesalzen. Fritz unser „Meisterkoch“ schmeckte ab und salzte nach. Einmal, zweimal und später noch ein drittes Mal.
Um es kurz zu machen, die Suppe wurde versalzen. Durch die Würze mit Zwiebeln, Petersilie und Mohrrüben roch sie verführerisch gut. Der Appetit anregende Duft machte die Sache in den Augen von Alois und Paul, die sich auf die Suppe freuten, nur noch schlimmer. Flapsige Bemerkungen von Fritz brachten die Stimmung zum Überlaufen. Ein Wort gab das andere, die Stimmung wurde immer gereizter bis Alois Fritz anschrie: „Dann friss auch deine Suppe selber!“
Mit diesen Worten wurde er festgehalten und gewaltsam der Mund geöffnet. Danach wurde ihm die Flüssigkeit Löffel für Löffel eingeflößt.
Fritz wehrte sich, die drei Jungs waren aber stärker und wütend und hörten nicht auf, bis der Topf geleert war und Fritz sich erbrechen musste. Anschließend verschwand er ohne ein weiteres Wort.
Betretene Stille trat ein, alle drei spürten, sie hatten aus Wut übertrieben und etwas Unrechtes getan und ihre Freundschaft aufs Spiel gesetzt. Das würde nicht wieder vorkommen und sie würden sich auch bei Fritz entschuldigen. Nach 14 Tagen war der Haussegen wieder gerade gerückt und die alte Freundschaft hergestellt.
Ein Beschwerdebrief an die Regierung
Der nächste Sonntag kam. Alle vier Jungen hatten sich zum Bolzen (Fußballspielen) verabredet. Es war schon seit Jahren so, dass die Jungen aus der Siedlung am Sonntag gegen die aus der „Kantine“ und den „weißen Häusern“ Fußball spielten. Die „Kantine“ war ein langgestreckter Barackenbau, aus Stein gemauert, aber mit einem geteerten Pappdach. Es gab zehn Eingänge, rechts