Jahrgang 1928 - Erinnerungen. Heinz Müller
wissen, denn er hatte ihn belehrt nur innerhalb der Hofmauern das Gewehr zu benutzen und dann auch nur, wenn kein anderer Mensch in der Nähe war.
Der nächste Sonntag kam und Hans wollte in den Wald. Die Mutter machte ihm wie immer ein Stullenpaket zurecht, das im Rucksack verstaut wurde. Sein neues Gewehr nahm er aus dem Schrank, schulterte den Rucksack und los ging es. Hinter der Pumpstation des Hammergrabens bog er den Weg verlassend nach rechts ab. Rechter Hand lag der Wehlenteich und links ein kleines Wäldchen. Das war „sein Revier.“ An verschwiegenem Ort kannte nur er hier einen Fuchsbau und in einer alten Eiche die Höhle eines Gelbkehlchens – eines Baummarders – hierher lenkte er seine Schritte, denn das sollte das Ziel des heutigen Pirschganges sein. Ein großer Schwarm Feldsperlinge kam mit lautem Sirren angeflogen. Unmittelbar vor ihm setzten sie sich auf die Äste von einem Gebüsch. Sie hatten sich viel zu erzählen, tschilpten wild durcheinander und bemerkten Hans nicht, der langsam näher ging. Das Jagdfieber hatte ihn erfasst. Ein uralter Instinkt des Menschen ließ ihn vor Erregung zittern: Langsam nahm er das Luftgewehr von der Schulter und steckte einen Diabolo in den Lauf. Ein dicker aufgeplusterter Spatz saß auf einem Ast direkt vor ihm. Er visierte ihn an … und schoss.
Das Tschilpen der Spatzen brach schlagartig ab und der Spatz fiel nach unten und schlug auf dem Boden mit einem leisen, aber hörbaren Plumps auf. Das alles ging sehr schnell.
Der Spatz, der eben noch aufgeregt mit den anderen schilpte und auf dem Ast saß, lag nun auf dem Boden und rührte sich nicht mehr. Er nahm den toten Vogel in seine Hand und sah, dass ein kleiner Tropfen Blut am Schnabel austrat. Ein leises Zittern und Strecken des kleinen Vogelkörpers ließ ihn erschrecken. Bestürzt legte er den Vogel behutsam zurück auf das Gras.
Nein, das hatte er eigentlich nicht gewollt. Warum hatte er eigentlich geschossen? Das Jagdfieber hatte ihn gepackt, der uralte Drang, Beute zu machen bestimmte sein Handeln. Ohne zu überlegen welches Leid er der Vogelfamilie zufügen würde, hatte er geschossen. Jetzt fielen ihm die Worte des Vaters ein:
„Achte immer das Leben, mein Sohn, für jeden Schuss – den du nie zurücknehmen kannst – trägst du die Verantwortung!“
Vor dem Schuss hätte er daran denken müssen. Der Vater hatte recht, den Schuss konnte er nicht mehr zurücknehmen, der Spatz war tot, er konnte ihn nicht wieder zum Leben erwecken. Die Spatzenfamilie, seine Eltern, Geschwister und Freunde waren erschrocken weiter geflogen.
Eine so noch nicht gekannte große Traurigkeit erfüllte ihn. Dieses Erlebnis würde Spuren hinterlassen und sein ganzes weitere Leben, später auch als Jäger, bestimmen. Er setzte sich neben den toten Sperling. Das Wäldchen jetzt noch weiter zu durchstreifen, dazu hatte er nun auch keine Lust mehr. Er nahm die von der Mutter liebevoll eingepackten Stullen aus dem Rucksack, nur essen konnte er sie auch nicht, die Bissen würden im Halse stecken bleiben. Was sollte nun werden? Er war ratlos, auf jeden Fall wollte er dem Vater alles beichten. Das Stimmengewirr der Vögel war verstummt, die Lautlosigkeit empfand er als feierliche Stille. Er schloss die Augen und ließ das Erlebte noch einmal in Gedanken vor sich abrollen.
Ein klagender, oder war es ein anklagender Ton, ließ ihn die Augen wieder öffnen.
Was war das? Vor ihm saß wie aus dem Nichts kommend und hin gezaubert ein kleiner und vor Nässe triefender Hund.
Putz – der Findling
Ein weißer Spitz war es, vielleicht ein viertel Jahr alt. Er winselte leise, das war der Ton, den Hans gehört hatte. Der Hund schüttelte sich, so dass die Wassertropfen bis auf das Stullenpaket neben dem Rucksack flogen. Von seinem Oberschenkel bis quer über die Brust war ein blutverschmierter Riß im Fell zu sehen. Er saß kerzengerade vor Hans und hatte die rechte Vorderpfote angewinkelt angehoben. Er wollte wohl damit andeuten, dass diese Pfote auch nicht in Ordnung war. Mit treuen aber wie es Hans schien mit flehenden Augen sah er unverwandt Hans an.
Der streckte die Hand nach ihm aus und erschrocken prellte der Hund zurück. In genügender Fluchtentfernung blieb er stehen und wusste offenbar auch nicht weiter. Sollte er sich zurückziehen oder konnte er Vertrauen haben und wieder näher herankommen?
Ein Stück Brot von der mitgebrachten Stulle abgebrochen und in der Hand von Hans ließ Ihn vorsichtig wieder näher kommen. Nach unendlich langem Zögern nahm er das Brot und wedelte mit seinem buschigen Schwanz. Ein gutes Zeichen. Langsam kam er fast auf dem Bauch kriechend näher. Er hatte Hunger, ein zweites Stück Brot verschlang er gierig. Nach dem vierten Brotbissen ließ er sich anfassen und streicheln. Vorsichtig fuhr Hans mit seinen Fingern über die Wunde im Brustbereich des Hundes. Auch das ließ er sich gefallen und leckte aus Dankbarkeit die streichelnde Hand.
Was hast Du nur gemacht, warum bist du so nass? Aber der Hund konnte nicht antworten, obwohl es so schien, als könnte er verstehen, was der Mensch vor ihm sagte. Später stellte sich heraus, dass der ganze Wurf im Wehlenteich ertränkt werden sollte, weil ein Bauer aus dem Nachbarort diese Hunde nicht haben wollte. Aber zu diesem Zeitpunkt wusste das Hans noch nicht. Liebevoll strich er über den nassen Hund und der rückte näher an ihn heran. Er nahm Körperkontakt mit Hans auf, das heißt er kuschelte sich an seinen Oberschenkel.
Hans wollte ihn in den Rucksack stecken, aber in panischer Angst befreite sich der Hund wieder aus den Händen des Menschen und war drauf und dran, nicht nur von Hans abzurücken sondern auch das Weite zu suchen. Er zitterte am ganzen Körper. Erst ein paar leise und beruhigende Worte und der Rest der Stulle beruhigten ihn und er kam wieder näher.
Weil er immer noch zitterte, zog Hans seine Jacke aus und deckte ihn damit zu. Ausführlich beschnupperte der kleine Hund die Jacke, dann rollte er sich zusammen und schloss die Augen. Nach den Aufregungen und Strapazen des Tages fühlte er sich hier endlich sicher und konnte beruhigt einschlafen. Mit dem Menschen, der ihn fütterte, verband ihn eine Zuneigung, die auf Gegenseitigkeit beruhte und aus der eine echte Freundschaft werden sollte.
Doch dazu mussten erst noch einige Klippen überwunden werden. Hans grübelte. Wie sollte er der Mutter klar machen, dass er den kleinen Hund behalten und um nichts in der Welt wieder hergeben wollte. Wie würde der Liebling der Mutter, ihr Kater Felix, den neuen Hausgenossen begrüßen? Die nächste Stunde würde Klarheit bringen, wenn er den Spitz zu Hause vorstellte.
Wie sollte der überhaupt heißen? Er betrachtete das weiße zottige Etwas, das sich neben ihm in seine Jacke eingekuschelt hatte. Nass und schmutzig wie ein Putztuch.
„Putz werde ich dich nennen, mein Kleiner. Putz ist ein schöner und treffender Name für Dich. Aber, wie bekomme ich dich wach?“
Als Antwort auf diese leise gesprochenen Worte räkelte Putz sich und rückte näher an Hans heran.
„Nein, so geht das nicht. Wir müssen aufstehen, nach Hause gehen und dich der Mutter und unserem Kater Felix vorstellen. Benimm dich anständig und mache ein freundliches Gesicht, damit du gnädig aufgenommen wirst“, ermunterte Hans den Hund, meinte aber eigentlich sich selber.
Putz blinzelte, räkelte sich und stand auf.
„Du bist ein schlauer Hund, hast also alles verstanden.“
Wie zur Bestätigung wedelte Putz erneut mit dem Schwanz und bedeutete damit, dass er für den Heimweg bereit war. Als wäre es schon immer so gewesen, trottete Putz in Schrittlänge hinterher, blieb nirgends stehen und war bemüht, den Kontakt zu seinem neuen Herrn nicht zu verlieren.
Zu Hause angekommen, sah Hans seine Mutter in der Küche werkeln und hörte sie schimpfen: „Ich dachte du bist unterwegs eingeschlafen!“ In diesem Augenblick sah sie den kleinen Hund, der hinter den Beinen ihres Sohnes wie ein Spitzbube hervorlugte.
„Was soll denn das, wer ist das denn?“, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen.
„Das ist Putz“, antwortete Hans und erzählte die Geschichte. Auch die vom Sperling und seiner Traurigkeit und wie er von Putz getröstet wurde. Er schnitt ein bisschen