Zügellos. Dominique Manotti
Mit den Klemmen in der Hand geht er zurück in die Box. Das Pferd hebt den Kopf. Er tätschelt seinen Hals, spricht ihm sanft zu. Vertrauensvoll taucht das Pferd die Nüstern wieder ins Stroh. Eine Klemme ins Innenohr. Das gekitzelte Pferd schüttelt den Kopf.
»Ruhig, mein Feiner, alles ist gut.«
Das Pferd beruhigt sich. Eine Klemme unter den Schwanz, das Pferd zuckt zusammen, dreht irritiert den Kopf zu dem Mann, der den Sitz der Klemme überprüft und hinausgeht. Er drückt einen Schalter am Transformator. Ein gewaltiger Ruck geht durch das Pferd, hebt es vom Boden, irrer Blick, der ganze heillos überstreckte Körper ist schlagartig schweißnass, sackt dann lautlos zusammen, die offenen Augen blicken leer. Der Mann tritt hinzu, überprüft, ob das Pferd tot ist, zieht die Klemmen heraus, wickelt die Kabel ordentlich auf und geht mit seiner Ausrüstung fort.
Sonntag, 9. Juli 1989
Es ist fast 14 Uhr an diesem Sonntag und Romero ist gerade aufgewacht. Mit nacktem Oberkörper und in hautenger schwarz-weißer Unterhose sitzt er auf dem Boden vor dem großen Fenster seiner Wohnung, zwei Zimmer im achten Stock hoch über dem Quai de la Loire, sehr luftig und sehr sonnig, freier Blick auf Montmartre und den nördlichen Pariser Stadtrand. Neben ihm eine junge Frau im Schlabbershirt, das Gesicht hinter buschigen braunen Locken verborgen. Aus großen Gläsern essen sie Mokkaeis in Café frappé und Butterkekse. Von Zeit zu Zeit taucht Romero einen Finger in sein Glas und malt der jungen Frau Mokkaeisstriche aufs Gesicht, die er dann sorgfältig ableckt, was sie zum Lachen bringt.
»Zieh dein T-Shirt aus.«
Das Mädchen kommt der Aufforderung nach. Romero malt mit Eis zwei Kreise um die Warzenhöfe, beugt sich über die kühlen, harten Brustwarzen. Das Telefon klingelt. Er steht murrend auf.
Eine Frauenstimme mit leichtem spanischem Akzent. »Inspecteur Romero?«
Romero verzieht das Gesicht und dreht dem Mädchen den Rücken zu, um sich auf seine Gesprächspartnerin zu konzentrieren. »Ja, Paola, ich bin’s. Was gibt’s?«
»Inspecteur, kommen Sie her, ich muss Ihnen jemanden zeigen, es ist wichtig.« Im Hintergrund hört Romero den Lärm einer Menschenmenge. »Ich bin auf der Rennbahn von Longchamp, in der Wetthalle, Schalter 10.«
»Ich bin in einer halben Stunde da.«
»Machen Sie schnell. Es eilt.«
Er legt auf, dreht sich um. Die junge Frau sitzt immer noch auf dem Boden, an die Wand gelehnt, und rollt ihre Brustwarzen spielerisch zwischen den Fingern. »So einfach kommst du mir nicht davon.«
Er geht auf alle viere und trinkt die salzigen und nach Lavendel duftenden Schweißtropfen, die zwischen ihren Brüsten hinabperlen. »Diese Brüste gehören mir.«
Er drückt die junge Frau auf den Teppich, keine Zeit für Raffinessen, und außerdem mag er’s so, erst packt einen die Leidenschaft, und danach dieses totale Wohlgefühl.
Schnell duschen, kämmen, er zögert, blickt zur Uhr, schon Viertel vor drei, dann eben unrasiert. T-Shirt, Jeans, Turnschuhe. Revolver und Papiere nicht vergessen. Dünne Jacke. Blick in den Spiegel: groß, schlank, dunkler Typ, gutaussehend, zufrieden mit sich, alles bestens.
Das Mädchen hat sich nicht gerührt. Sie liegt vor dem Fenster in einem Fleck Sonne auf dem Bauch und döst vor sich hin. Er streichelt ihre Lenden.
»Ich brauch nicht lang. Wartest du auf mich?«
Keine Antwort.
Romero betritt die große Wetthalle der Rennbahn von Longchamp. Halb vier. Beton, Tristesse, auf dem Boden Zettel. Im Moment ist wenig los, das Publikum lärmt auf den Tribünen. Ein paar einzelne Besucher drücken sich lieber vor den Fernsehschirmen herum, wechseln enttäuscht ein paar Worte. Bei Schalter 10 ist niemand.
Das Rennen ist vorbei, das Publikum flutet die Halle, eilt zu den Schaltern. Stimmengewirr, zerknitterte Zeitungen, Flaschen- und Gläserklirren an der Bar. Romero erkennt den Hintergrundlärm wieder, der sich vorhin bei Paolas Anruf in der Leitung breitmachte.
Aber immer noch keine Paola bei Schalter 10. Von einer unbestimmten Unruhe erfüllt, geht er in der Halle umher. Eine Falle? Unwahrscheinlich. Lehnt sich trotzdem an eine Wand zwecks Absicherung nach hinten, lässt die Jacke offen und den Blick kreisen. Klingeln, Ende der Wettannahme. Die Menge strömt zurück auf die Tribünen, immer noch niemand bei Schalter 10. Rückblende auf das Gesicht mit den Mokkaeisstrichen, die aufgerichteten, leuchtend rosa Brustwarzen. Und ein mulmiges Gefühl. Blick auf die Uhr, 15 Uhr 40. Genau in diesem Moment kommt am anderen Hallenende eine Frau schreiend aus der Toilette gerannt.
Commissaire Daquin betrachtet den Leichnam der jungen Frau, der auf dem Klo sitzt, leicht nach links geneigt am Wasserkasten lehnt. Ihr wurde die Kehle durchgeschnitten. Halsschlagader durchtrennt, klaffende frischrote Wunde, Luftröhre gekappt, Knorpel zersplittert, weißlich auf Tiefrot, ein Goldkettchen mit Kreuz auf dem Wundrand. Das Blut ist in Fontänen herausgeschossen. Spritzer an den Wänden. Ihr Sommerkleid ist steif, verklebt, braunrot. Und über dem offen daliegenden Klump aus Fleisch und Blut, komplett nach hinten gekippt, ein ruhiges Gesicht, Augen geschlossen, Mund halb offen. Ein sehr schönes indianisches Gesicht, hohe Wangenknochen, sehr dunkle Haut, üppiges schwarzes Haar, das bis auf den Boden hängt. Die Blutlache auf den Fliesen hat sich unter der Tür hindurch ausgebreitet.
Die Mordkommission ist an der Arbeit. Gerichtsmediziner, Fotograf, Sachverständige. Eine einzige Zeugin, eine Frau hat beim Make-up-Auffrischen das Blut unter der Klotür hervorrinnen sehen und ist schreiend hinausgerannt. Da war es 15 Uhr 40.
Daquin ist groß, gut eins fünfundachtzig, breitschultrig, massig, wenn nicht gar etwas grobschlächtig, kantiges Gesicht, ebenmäßig, aber nicht ausnehmend schön, braune Augen, ungemein wacher Blick auf alles um ihn herum, starke körperliche Präsenz. Seit der Chef da ist, fühlt Romero, wie der Druck ein wenig nachlässt.
Daquin dreht sich zu ihm um. »Und?«
»Eine meiner Informantinnen. Sie rief mich zu Hause an«, zögert kurz, »gegen halb drei, und hat mich herbestellt, zu Schalter 10, um mir jemanden zu zeigen. Sie meinte, es sei wichtig und dringend. Sie wurde umgebracht, bevor ich hier war.«
»Wo haben Sie sie her?«
»Aus dem Knast in Fleury-Merogis. Als das ganze Theater um das kolumbianische Kokain losging, habe ich mich dort umgesehen, meine Netze ausgeworfen. Sie saß ein, und ihre Mutter auch, man hatte sie beim Mitführen von je hundert Gramm Kokain erwischt, Drogenkuriere, kleine Fische. Sie sprach Französisch, schien auf Zack zu sein …«
»Und außerdem sehr hübsch.«
»Ja, das auch.« Mürrisch. »Ich habe ihre Freilassung organisiert und ihr versprochen, dass sie ihre Mutter wiederkriegt, wenn sie mir Tipps über die Kolumbianer in Paris liefert.« Rückblende: der Körper des Mädchens in der Sonne oben am Quai de la Loire, während die Zeit verstreicht. »Ich bin nicht stolz auf mich.«
Daquin mustert ihn kurz. »Das sehe ich.«
Dann wendet er sich wieder der Leiche zu und untersucht sie eingehend. Der rechte Ärmel hat nichts abbekommen. Daquin beugt sich vor, reibt den Stoff zwischen zwei Fingern. Feinste Seide. Lupft vorsichtig den Kragen. Etikett: Sonia Rykiel. Dreht mit der Fußspitze eine Sandale um, die neben der Kloschüssel liegt: zwei Wildlederriemchen mit Charles Jourdan-Schriftzug. »Und sie sprach gut Französisch?«
»Ja, fließend, gerade mal ein leichter Akzent.«
»Ihr kleiner Fisch kommt mir sehr seltsam vor, zu gut gekleidet für eine arme Kolumbianerin. Romero, Sie lernen es nie. Beim Betrachten ihrer Kleidung erfährt ein Bulle mehr über eine Frau als beim Bewundern ihres Busens.«
»Niemand ist vollkommen, Chef.«
Schweigen.
»Meiner Meinung nach sollten wir dringend ihre Mutter aufsuchen, bevor andere es tun.«
Als sie zur Gefängnisverwaltung von Fleury-Mérogis kommen, erfahren Daquin und Romero, dass Madame Jimenez zwei Tage zuvor auf