Zügellos. Dominique Manotti

Zügellos - Dominique  Manotti


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… Wer weiß? Ich werde darauf zurückkommen. Dann plötzlich: »Fahren Sie über Montrouge, ich kenne da eine Bäckerei, die sonntags um diese Zeit geöffnet hat, ich will Croissants kaufen.«

      Die automatischen Schiebetüren öffnen sich quietschend. Daquin betritt die vertraute Welt des Krankenhauses. Lenglet wurde wieder eingeliefert. Und diesmal, sagt er, zum letzten Mal. Lenglet, der unverbrüchliche Freund seit Jugendtagen. Die gleiche Auflehnung gegen die Familie, die gleichen sexuellen Erfahrungen, die gleichen intellektuellen Vorlieben, das gleiche Studium. Danach Diplomaten- und Geheimdienstlaufbahn, während Daquin sich für die Polizei entschied. Aus den gleichen Gründen. Bei ihren zufälligen Begegnungen stets Komplizenschaft und Kooperation, ein ständiger Drahtseilakt zwar, weil die Interessen eben nicht die gleichen waren, aber auch klug, anregend, unverzichtbar. Verurteilt zu einem Leben ohne dich, mein Doppelgänger, mein Zwilling.

      Beim Gang durch den Flur kurzer Austausch mit der Krankenschwester: So schlimm diesmal? Sie nickt. Daquin erinnert sich an seinen Lachanfall, als er das erste Mal vom »Schwulenkrebs« hörte. Schnell gefolgt vom Wissenwollen und dem unverrückbaren Entschluss, sich in der Lust niemals vom Tod faszinieren zu lassen. Aus purer Provokation am Leben zu bleiben. Er betritt das Krankenzimmer. Lenglet liegt da, verloren im Weiß, Augen geschlossen, eingefallenes, entstelltes Gesicht. Daquin hat wieder seine Kindheit vor Augen, seine Mutter, langsamer systematischer Selbstmord durch Alkohol und Medikamente. Sein Vater sieht ihr dabei zu. Eiskalt. Erleichtert. Ein vorprogrammierter, in Kauf genommener Tod. Ich, niemals. Daquin beugt sich übers Bett. Ich verzeih dir nicht, dass du stirbst. Und dass du dir diesen Tod ausgesucht hast.

      Lenglet öffnet die Augen, sieht ihn an. Er spricht mit atemloser Stimme, mit einem wackligen Lächeln, einer gewissen Selbstironie. »Angst, Théo?«

      Daquin betrachtet die fast durchscheinenden eleganten Hände. Natürlich habe ich Angst. Du machst mir Angst. Thema wechseln.

      »Ich bin müde. Der Druck auf das Drogendezernat ist groß. Amerikanische wie französische Politiker halten hysterische Reden, in denen sie die Drogenhändler als Staatsfeind Nr. 1 unserer Zivilisation ausmachen …«

      »Es muss doch ein Ersatz für die kommunistische Bedrohung her, die sich gerade in Luft auflöst.«

      »Unsere Chefs wurden gefeuert und durch sogenannte Vertrauensleute ersetzt. Da sie kaum Erfahrung haben, hat die DEA ein paar Agenten geschickt, die ihnen erklären sollen, wie sie’s anpacken müssen. Und ich habe mir die Nacht im Kommissariat des 16. um die Ohren geschlagen und Kindermädchen gespielt für einen Bengel, der kokst, um seinen Vater zu ärgern, der Sohn eines gewissen Deluc, Berater im Élysée …«

      »Christian Deluc?«

      Lenglet hat die Augen geschlossen, sagt lange nichts. Im Zimmer herrscht Stille. Daquin lauscht Lenglets Atemzügen.

      Die Augen immer noch geschlossen, fährt er fort: »Den habe ich tatsächlich mal kennengelernt. ’72 oder ’73 in Beirut. Er war damals militanter Linksradikaler und kam die palästinensischen Ausbildungslager besichtigen.« Eine lange Pause. »Keiner von der ernsthaften deutschen Sorte. Mehr die Sorte französischer Polittourist. Wir behielten ihn trotzdem im Auge. Keine sehr sympathische Figur.« Er denkt einen Moment nach. »Verklemmt. Ein verklemmter Perverser Marke protestantisch-pädophiler Fundamentalist.« Lenglet verstummt, öffnet die Augen und lächelt Daquin an. »Du bist der einzige Mann, den ich kenne, der ruhig zuhören kann.«

      »Das ist eine Bullentugend.«

      »Kann sein, weiß ich nicht.« Lenglet schließt wieder die Augen. »Delucs Gruppe hat sich schließlich aufgelöst, während er in Beirut war. Er saß in der französischen Botschaft fest und freundete sich mit einem komischen Kerl an. Ein Fremdenlegionär, glaube ich, der zum Sicherheitsdienst der Botschaft gehörte und dessen eigentliche Aufgabe darin bestand, Frankreichs hohen Gästen Frauen, Männer oder Kinder fürs Bett zu besorgen.« Er ruht sich einen Moment aus. »Wir nannten ihn ›le Chambellan‹, den Kammerherrn. Dank der in Beirut geknüpften Kontakte soll er nach seiner Rückkehr nach Paris ein Vermögen gemacht haben.«

      »Und Deluc hat Karriere bei den Sozialisten gemacht.«

      »Der Name des Kammerherrn fällt mir partout nicht ein.« Erneut Stille. »Ich bin erschöpft, Théo. Meine Neugier ist erloschen. Nur die Erinnerung bereitet mir noch Freude.«

      Als Lenglets Liebhaber in Begleitung zweier Verflossener hereinkommt, verlässt Daquin das Zimmer und die Klinik. Zusammenkünfte von Lovern, Exlovern und deren Exlovern kann er von jeher nicht leiden, schon gar nicht an einem Totenbett, an Lenglets Totenbett. Er geht langsam zu Fuß nach Hause. Ein drückend-schwüler Abend. Rudi kann er heute unmöglich treffen. Nicht mal Lust, was Richtiges zu essen. Ich improvisiere mit dem, was der Kühlschrank hergibt.

      Rückkehr in die Villa des Artistes, ein kühles, ruhiges Refugium weitab vom Zentrum. Das Häuschen besteht aus einem großen Raum im Erdgeschoss, Glasfassade mit weißen Stoffrollos. Zwei dicke Sessel und eine Ledercouch, Wände und Möbel aus Holz, Stereoanlage, beeindruckende CD-Sammlung, und im rückwärtigen Teil hinter einem Tresen eine sehr gut ausgestattete, in Altgelbtönen geflieste Küche. Im Zwischengeschoss das Schlafzimmer, nichts als ein sehr großes Bett und wändefüllende Regale, überladen mit mehrreihig gestellten Büchern. Vom Schlafzimmer gehen die Garderobe, gut bestückte Mahagonischränke und -schubladen, und das Badezimmer ab, weiße Fliesen, große Wanne und Dusche mit Massagestrahl.

      Niemand zu Hause. Daquin legt sich auf die Couch und lässt die Gedanken schweifen. Eine ganze Weile. Lenglets Todeskampf hält das Verlangen auf Abstand, verleiht ihm einen Anstrich von Wehmut.

      Es war in Harry’s Bar in Venedig, Arrigo Cipriani stand wie aus dem Ei gepellt an ihrem Tisch und pries in gewähltem Italienisch die Butternudeln, während er Rudi ansah, der ihm mit zur Seite geneigtem Kopf und irgendwie besorgter Anspannung gebannt lauschte, ohne ihn zu verstehen. Es war Nacht über der Lagune. Plötzlich packte ihn ein wahnsinniges Verlangen, raubte ihm den Atem. Ihn hier nehmen, jetzt gleich … Sie tauschten Blicke. Sie aßen wortlos zu Ende und vögelten die ganze Nacht … Das war letztes Jahr.

      Butternudeln. Daquin durchsucht die Küchenschränke. Wasser in einem großen Edelstahltopf zum Kochen bringen. Butter in einem Gefäß über dem Topf schmelzen lassen. Wenn die Butter geschmolzen ist, die Nudeln ins kochende Wasser geben. Sehr gute Nudeln. Die Nudeln von Cipriani. Weder standardgetrocknet noch frisch, einmalig. Kochzeit: zwei Minuten. Topfinhalt in ein Sieb abschütten, Nudeln gut abtropfen lassen. Einen Teil der geschmolzenen Butter in den Topf geben, dann die Hälfte der Nudeln, wieder geschmolzene Butter plus Parmesan, schließlich den Rest Nudeln, Butter und Käse. Alles kräftig mischen. Das Ganze auf einen Teller füllen. Sofort servieren. Zu den Butternudeln Quellwasser trinken. Ein kulinarisches Meisterwerk.

      Wenn nichts Besseres da ist.

      Treffen der Kommissare vom Drogendezernat im Büro des neuen Direktors. Daquin ist mit Dubanchet auf dem Weg dorthin, sie kennen sich seit ihrem Ausbildungsjahr in Saint-Cyr-au-Mont-d’Or, haben bereits etliche Male zusammengearbeitet und verstehen sich ohne viele Worte.

      »Und der neue Chef? Hast du ihn schon kennengelernt?« Verzieht das Gesicht. »Vorsichtig sein … Kommen lassen.« Sie treten ein. Der Direktor geht auf sie zu, drückt ihnen lächelnd die Hand. Schlank, dunkler Anzug, glatt gekämmtes Haar, mit seinem kultivierten Auftreten wirkt er eher wie ein Präfekt als wie ein Polizist. Er hat zwar Stallgeruch, aber sein beruflicher Aufstieg vollzog sich im Wesentlichen in den Ministerialkabinetten.

      Die fünf oder sechs Kommissare, die sich in dem Büro einfinden, nicken sich zur Begrüßung nur stumm zu. Der Direktor äußert in ein paar Sätzen seine Freude darüber, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Hinter seinem Lächeln spürt Daquin fast greifbar das, was er nicht sagt. Der Mann ist auf der Hut. Und die Sitzung beginnt.

      Sofort steht das Kokain im Zentrum des Gesprächs. »Sprunghafter Anstieg des Konsums in Europa,


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