Zügellos. Dominique Manotti
»Jetzt?«
»So schnell wie möglich.«
»Schicken Sie mir einen Wagen, Avenue Jean-Moulin 36, 14. Arrondissement. In einer halben Stunde.«
»Geht klar. Und danke.«
Das Aufstehen gestaltet sich eher schwierig, er tastet sich durchs Dunkel, um Rudi nicht zu stören. Im Badezimmer, endlich wieder mit sich allein: zuerst lang duschen, heiß, dann kalt, Wasserstrahl auf volle Kraft, jeder Muskel wird ihm schmerzhaft bewusst. Dann, nackt vor dem Spiegel, gründliche Rasur, nass, wegen des Gefühls von Metall auf der Haut, wegen des Vergnügens, die vertrauten Gesichtszüge einen nach dem anderen unter dem Schaum hervorkommen zu sehen, wegen des brennenden Aftershaves. So ist es besser. Abstecher zum Kleiderschrank und eilig anziehen. Da ich nicht weiß, was mich erwartet, irgendwas Unverbindliches, Lederjacke, Canvashose, dann verlässt Daquin das Haus. Die mit Efeu überwucherten Häuser in der Passage ›Villa des Artistes‹ machen die Nacht noch schwärzer und stiller. Hinter dem Durchgang auf der Avenue Jean-Moulin erwartet ihn schon ein Wagen mit einem uniformierten Polizisten am Steuer.
Der Kommissar marschiert vor dem Kommissariat auf dem Gehweg auf und ab.
»Also, worum geht’s?«
»Wir haben im Bois de Boulogne eine Routinerazzia durchgeführt, meine Männer haben das übliche Kontingent an Transvestiten eingesammelt. Und außerdem in einem Gebüsch einen halbnackten jungen Mann. Ein Freier. Und in den Taschen seiner Jacke, die an einem Baum hing, sechs Briefchen Kokain. Wir nehmen ihn mit aufs Revier, wo er ein Mordsspektakel veranstaltet und verlangt, dass wir seinen Vater benachrichtigen, Christian Deluc, Berater im Élysée. Ich hätte ihn ja gleich wieder nach Hause geschickt, ich habe hier im Viertel auch ohne zusätzliche Schwierigkeiten genug zu tun. Er hat sich aber bei den Transen derart unbeliebt gemacht, dass sie jetzt einen Pik auf ihn haben und drohen, es der Presse zu stecken, wenn er einfach freigelassen wird. Können Sie sich den Skandal vorstellen? Aber schließlich ist für Kokain ja das Drogendezernat zuständig. Und die vom Bereitschaftsdienst schienen der Meinung zu sein, dass Sie die Sache am ehesten ohne Aufsehen regeln können.«
»Ist er minderjährig?«
»Nein. Gerade achtzehn geworden.«
»Haben Sie seinen Vater benachrichtigt?«
»Nein, wir haben auf Sie gewartet.«
»Dann tun Sie es nicht. Stellen Sie zwei Ihrer Männer ab, um mir bei einer Leibesvisitation zu helfen, und treiben Sie ein Paar Gummihandschuhe für uns auf.«
Daquin betritt das Kommissariat. Hinten im Bereitschaftsraum drei Zellen. In den beiden ersten ein Dutzend Transvestiten in Arbeitskleidung. Sie hämmern gegen die Gitter, beschimpfen die Polizisten, brüllen herum und singen. Mit gewollt schwerfälligem Gang und undurchdringlichem Blick tritt Daquin vor die Zellen. Schlägt mit der Hand an eins der Gitter.
»Ist jetzt mal Schluss mit dem Radau, Mädels? Lasst mich in Ruhe arbeiten.«
Es wird etwas stiller.
Daquin lässt sich die dritte Zelle aufsperren, holt einen mürrischen schmalen jungen Mann heraus, weist ihn zur Tür des Büros gleich gegenüber und folgt ihm mit den beiden Helfern, die ihm der Chef des Kommissariats zugeteilt hat.
»Lassen Sie die Tür offen, die jungen Damen möchten dem Schauspiel beiwohnen.«
Ein Polizist an der Schreibmaschine. Der andere sitzt auf der Schreibtischkante, Daquin steht.
»Dein Name?«
»Ich verbiete Ihnen, mich zu duzen.«
Daquin fegt ihm die Beine weg, drückt ihm eine Hand ins Genick. Der Junge landet auf den Knien, Daquin schlägt seine Stirn nicht allzu kräftig auf die Schreibtischkante. Die Haut reißt auf. Blutstropfen zerplatzen auf dem Fußboden.
»Hör zu, Idiot«, mit einer Hand hält er den Kopf zu Boden gedrückt, »du kapierst nicht, was Sache ist. Du hast nicht Catherine Deneuve gebumst. Du hast keine Milliarden geklaut. Du hast Transvestiten im Bois de Boulogne Briefchen mit gestrecktem Kokain verkauft, vermutlich gegen ein paar Gratisnummern. Papa kann nichts für dich tun, deine Geschichte ist zu schmuddelig, als dass er sie in den Salons des Élysée erzählen könnte. Klar?«
Daquin packt ihn am Kragen, stellt ihn wieder aufrecht hin und tritt ein Stück zurück. »Und jetzt dein Name.«
»Olivier Deluc.« Blut rinnt aus der Nase, berührt den Mundwinkel, er fährt mit der Zunge darüber, um es zu schmecken.
»Geburtsdatum und -ort, Adresse.«
Er gibt die gewünschten Auskünfte.
»Zieh dich aus.«
Der andere sieht ihn mit offenem Mund an.
Daquin geht auf ihn zu. »Bist du taub?«
Mit zögerlichen Bewegungen beginnt er sich auszuziehen. Den Geschmack von Blut im Mund.
»Schneller. Auch die Unterhose.«
Er ist jetzt nackt. Daquin zu dem Polizisten auf der Schreibtischkante: »Leibesvisitation, ziehen Sie die Handschuhe an.« Zu dem Jungen: »Mund auf.«
»Das können Sie nicht machen.«
»Nein?«
Daquin stellt sich hinter ihn, drückt ihm von beiden Seiten aufs Kiefergelenk und hält gleichzeitig seinen Kopf in Position. Durchdringender Schmerz in Ober- und Unterkiefer, der Mund geht auf. Der Polizist fährt mit einem Finger zwischen Zahnfleisch und Lippen und unter der Zunge entlang. Nichts.
Daquin löst den Griff und diktiert dem Polizisten hinter der Schreibmaschine: »Wir haben eine Leibesvisitation durchgeführt …« Zu dem Jungen: »Jetzt beug dich vor, Hände auf den Schreibtisch, Beine auseinander.« Derselbe Polizist, immer noch mit Handschuhen, untersucht den After. »Huste. Bestens.« Zum Polizisten an der Schreibmaschine: »… und nichts gefunden. Der Verdächtige war also bei seiner Festnahme im Besitz von sechs Briefchen Kokain.«
Das Blut läuft den Hals hinab, auf die Schulter. Mit tränennassen Augen streckt der Junge die Hand nach seiner Hose aus. Daquin fährt schroff dazwischen.
»Du ziehst dich an, wenn ich es dir sage. Vorher verrätst du mir den Namen deines Lieferanten. Sagst du ihn mir, betrachte ich dich als Konsumenten. Andernfalls als Dealer. Sechs Briefchen sind dafür mehr als genug. Soll ich dir den Unterschied erklären?« Der Junge schüttelt schniefend den Kopf. »Außerdem bereitet es eine gewisse Lust, jemanden bei den Bullen zu verpfeifen, es wird dir gefallen. Los jetzt, wir hören.«
Er murmelt etwas.
»Lauter, ich hab nichts verstanden, und die jungen Damen, die dir zusehen, auch nicht.«
»Senanche. Er ist Stallbursche bei Meirens, einem Rennstall in Chantilly.«
»Wie finde ich ihn?«
»Ein runzliger kleiner Alter, der sich jeden Morgen gegen sechs, wenn die Jockeys kommen, vor den Ställen rumtreibt.«
»Hat er viele Kunden?«
Blick nach links, Blick nach rechts, immer noch nackt, es hinter sich bringen. »Etwa ein Dutzend, denke ich.«
»Wie hast du ihn kennengelernt?«
»Manchmal reite ich morgens Pferde zum Training.«
»Du kannst dich wieder anziehen. Unterschreib deine Aussage, bevor du gehst. Und lass dich hier im Viertel nicht mehr blicken.«
Daquin zieht beim Hinausgehen die Bürotür hinter sich zu. Die Transvestiten applaudieren ihm stürmisch. Eine hinreißend schöne, muskulöse Schultern und schwindelerregendes Dekolleté, lange Beine auf hohen Absätzen: »Wenn Sie zu mir kommen, Commissaire, mach ich’s Ihnen gratis.«
Daquin streicht auf Höhe ihres Gesichts mit der Hand übers Gitter und lächelt sie an. »Bist ’ne viel zu schöne Frau für mich.«
In dem Wagen, der ihn nach