Hekate. Thomas Lautwein
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Es steht außer Zweifel, dass im Mittelpunkt der Mysterien von Eleusis die Fruchtbarkeit der Erde stand, dass dabei Schweine geopfert wurden und den Epopten eine geschnittene Ähre gezeigt wurde. Auf dem Höhepunkt der Einweihung rief der Hierophant: „Einen heiligen Sohn hat die Herrin geboren, Brimo den Brimos.“74 D. h. das Mysterium einer heiligen Geburt hat sich ereignet, die Göttin hat in der Unterwelt einen Sohn geboren und sich damit als Lebensgeberin erwiesen, die durch Töten und Tod hindurch den Kreislauf der Natur in Gang hält. Nun ist Brimo eine alte thessalische Erdgöttin, die oft mit Hekate und Persephone gleichgesetzt wird; und auch die kleinasiatische Muttergöttin (Magna Mater, Meter) wurde allgemein als Erdgöttin verstanden und insofern mit Demeter identifiziert. Wir sehen also, dass Demeter, Persephone und Hekate im Demeter-Hymnus geradezu eine Trinität von Erdgöttinnen bilden, der die Himmelsgottheiten (Helios, Zeus) als eine ganz andere Götterkategorie gegenüberstehen.
Neun Tage irrt Demeter auf der Suche nach ihrer Tochter mit Fackeln umher. Am zehnten Tag begegnet sie Hekate, die sich ebenfalls mit einer Fackel auf die Suche nach ihr gemacht hat. Gemeinsam machen sie sich auf zu Helios, der ihnen enthüllt, dass Hades der Räuber ist (im Gegensatz zu Hekate, die den Raub nur hörte, hat Helios die Szene auch gesehen, als er am Himmel dahinzog). Diese unruhige, angstvolle Suche nach der Verschwundenen wurde von den Neophythen im Vorbereitungsteil der Mysterien rituell nachgespielt (Vers 48 - 64):
Ganze neun Tage durchstreifte die machtvolle Deo den Erdkreis,
flammende Fackeln in ihren Händen; vom Kummer gepeinigt,
rührte sie weder Ambrosia an noch köstlichen Nektar,
tauchte auch ihren Körper nicht mehr ins Wasser zum Bade.
Als ihr am zehnten Tage die leuchtende Eos emporstieg,
kam ihr Hekate, in den Händen die Fackel, entgegen,
richtete gleich das Wort an sie und stellte die Frage:
„Hohe Demeter, Göttin der Reife und herrlicher Gaben,
wer von den himmlischen Göttern oder wer von den Menschen
raubte Persephone dir und schlug dich mit bohrendem Kummer?
Schreien hörte ich sie, doch erkannte nicht den Entführer.
Damit enthülle ich kurz dir den Hergang, soweit ich ihn kenne.“
So sprach Hekate. Keinerlei Antwort erteilte die Tochter
Rheias, der lockengeschmückten, sondern an Hekates Seite
stürmte sogleich sie fort, in den Händen die flammenden Fackeln.
Helios suchten sie auf, der acht gibt auf Götter und Menschen,
traten vor sein Gespann.75
Zum dritten Mal erscheint Hekate nach der Wiedervereinigung von Demeter und Persephone (v. 438). Sie wird als Dritte in den innigen Bund von Mutter und Tochter aufgenommen und zur festen Begleiterin der Persephone gemacht (C. G. Jung fühlt sich von Hekate als Helferin der Demeter an die Rolle des Anubis im Osiris-Mythos erinnert). Hekate erweist sich schließlich als zartfühlende, Anteil nehmende Freundin, die mit den beiden Getreide-Göttinnen eng verbunden ist und mit ihnen eine chthonische Trinität bildet:
So bereiteten sie, in herzlicher Eintracht, den ganzen
Tag einander aus inniger Liebe vielerlei Freuden
und erholten sich allmählich vom lastenden Kummer.
Jeder der beiden gab und empfing Beweise des Frohsinns.
Hekate nahte den beiden, die Göttin im schimmernden Kopftuch,
und umarmte herzlich die Tochter der hohen Demeter.
Seitdem wirkte die Herrin für sie als treue Genossin.76
Der letzte Vers lautet wörtlich: „Seit dieser Zeit war Hekate die Dienerin (πρόπολος, própolos) und Begleiterin (όπάων, opaôn) der Persephone.“
Der Hymnus deutet mit diesen beiden Begriffen an, dass Hekate im Mythos und im Ritual der Einweihung eine entscheidende Rolle bei der „Höllenfahrt“ und der „Auferstehung“ der Kore zukommt. Sie ist die schützende Begleiterin der Proserpina, die den Übergang in die chthonische Welt vermittelt, und dies nicht nur einmal, sondern alljährlich. Wenn wir uns noch einmal Hekates Ort zu Beginn des Hymnus vergegenwärtigen, sehen wir, dass sie wieder die Mittlerin zwischen Ober- und Unterwelt ist. Sie ist gegenwärtig, als die Kore in die Unterwelt hinabsteigt und ebenso, als sie wiedergeboren wird. Daher wird Hekate auf Vasenbildern häufig neben Persephone dargestellt (Beispiele von antiken Vasen findet man auf der Homepage www.theoi.com).77 Hekate ist die Vermittlerin, die Göttin des Übergangs von Leben zu Tod und Tod zu Leben, von Unterwelt und Oberwelt. Ich frage mich, ob die dreigestaltige Darstellung der Hekate nicht sogar als die Dreifaltigkeit von Demeter, Hekate und Persephone gedeutet werden könnte, wobei Hekate die geheime Verbindung zwischen Demeter und Persephone wäre, der schwarze Engel, der die Verbindung zwischen oben und unten bewacht, wie der Psychologe James Hillman meint:
Von Hekate heißt es, sie habe die ganze Zeit dabeigestanden und zugehört oder zugesehen. Es gibt offensichtlich eine Perspektive, von der aus der Kampf der Seele wahrgenommen werden kann ohne die Angst der Persephone oder das Unglück der Demeter. Auch in uns lebt ein schwarzer Engel (Hekate hieß auch angelos), ein Bewusstsein (sie hatte auch den Namen phospheros), das im Dunkeln leuchtet und solche Ereignisse wahrnimmt, weil es ihrer schon vor aller Erfahrung gewahr ist. Dieser Teil hat eine a priorische Verbindung mit der Unterwelt durch schnuppernde Hunde und Keiferei, Mondfinsternisse, Geister, Abfälle und Gifte. Ein Teil von uns wird nicht nach unten gezogen, sondern lebt immer dort, wie Hekate teilweise eine Göttin der Unterwelt ist. Von diesem Aussichtspunkt können wir unsere eigenen Katastrophen mit einer dunklen Weisheit beobachten, die kaum etwas anderes erwartet.78
Hekate wird im Demeter-Hymnus zweimal „mit glänzendem (gesalbtem?) Kopfband geschmückt“ (λιπαροκρήδεμνος, liparokrêdemnos) genannt. Die deutschen Übersetzungen von Eduard Mörike (1840) und Weiher (1961) geben dieses seltene Adjektiv, mit dem Homer in der Ilias (18,382) die Charis bezeichnet, ungenau mit „weißverschleiert“ wieder. Erst Dietrich Ebener (1976) übersetzt korrekt mit „schimmerndes Kopftuch“. Die Bedeutung dieses Beinamens ist rätselhaft, er muss einen esoterischen Sinn gehabt haben, der sich nur dem Eingeweihten erschloss. Das Anlegen von Kopfbinden kommt jedoch häufig bei Einweihungsriten (z. B. bei tantrischen Einweihungen) vor und steht meist für das Nicht-Sehen des Ungeweihten; sobald der Neophyt in die Geheimnisse eingeweiht wurde („Eintritt ins Mandala“), darf er die Kopfbinde abnehmen (daher verhüllt auch der Held bei Achilleus Tatios, III,18 sein Gesicht, als seine Geliebte von einem Ägypter mit Hilfe der Hekate wiederbelebt wird). Insbesondere bei der Einweihung in die Mysterien der unterweltlichen Götter musste man sich den Kopf verhüllen, so z. B. bei den Mysterien der „unterweltlichen Persephone“ in Agrai (Hippolytus, Refutatio, 5,8,43). Auf einem Marmorrelief aus dem 1. Jahrhundert n. Z. im Nationalmuseum von Neapel, das eine Einweihungsszene zeigt, ist deutlich zu erkennen, dass der Kopf des Mysten mit einem Tuch verhüllt ist, während eine weibliche Gestalt links von ihm zwei umgedrehte Fackeln hält und ein Priester mit Kopfbinde eine Flüssigkeit ins Feuer gießt.79 Sogar Goethe plante ursprünglich für den zweiten Teil des „Faust“ eine Szene, in der Faust in der Unterwelt der „verhüllten Persephone“ gegenüber treten sollte.
Dass Hekates Kopfband „glänzend“ ist, passt wieder sehr gut zu ihrem Charakter als Licht-Gottheit. Merkwürdig