Tierkommunikation mit Gänsehaut. Amelia Kinkade
nahm ihre schlaffe rechte Hand und flüsterte: „Rue, können Sie meine Hand drücken?“ Es gab keine Reaktion. Dann fragte sie: „Rue, können Sie Ihren Fuß bewegen?“ Nichts. Rues rechtes Bein war schlaff, und die Nerven starben langsam ab. Der Arzt hatte noch mehr schlechte Nachrichten: Wenn sie am nächsten Morgen, an dem der Schlauch aus ihrem Hals entfernt würde, nicht sofort sprechen könnte, würde sie vermutlich nie wieder sprechen können.
Meine Tante Rue verdiente sich ihren Lebensunterhalt damit, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen (meist für den Tierschutz) Reden zu halten. Auch war sie Rechtshänderin und hatte mit dieser Hand unzählige Autogramme für Unmengen ihrer Fans geschrieben. Doch vor allem war sie sehr kommunikativ. Sie hatte ihr Leben lang Sprechunterricht genommen und spielte sogar ohne Gage in Theaterstücken. Sprache war ihre große Leidenschaft. Wenn sie die Fähigkeit zu sprechen verlor, würde sie nur noch schriftlich mit ihrer rechten Hand kommunizieren können. Der Verlust ihrer Fähigkeit, zu sprechen und zu schreiben, war absolut undenkbar. Dann könnte sie überhaupt nicht mehr kommunizieren und wäre dazu auch noch zu einem Leben im Rollstuhl verdammt. Das ging gar nicht. Sie hatte weder auf Mark noch auf mich reagiert, als wir Dinge wie „Rue, kannst du mich hören? Drücke meine Hand, wenn du mich hören kannst! Blinzle mit den Augen, wenn du weißt, dass wir hier sind!“ sagten. Nichts funktionierte. Wir waren dabei, den Kampf zu verlieren.
Mitten in der Nacht, nachdem Mark und ich sämtliche Gebete, die uns einfielen, gesprochen hatten und alle Meditationen, die wir kannten, gemacht hatten, ohne dass Rue sich rührte, ging Mark zur Wohnung eines Freundes, um dort ein paar Stunden zu schlafen. Ich überredete die Nachtschwester, mich mit meiner Tante eine Weile allein zu lassen.
Ein liebevolles „Rue, können Sie meine Hand drücken?“ in Babysprache oder „Rue, können Sie den Fuß bewegen?“ im ängstlichen Ton einer Krankenschwester, die meine Tante nicht kannte, funktionierte nicht. Ich kannte sie jedoch. Und es war an der Zeit, etwas zu riskieren.
Wie ich wusste, liebte sie Tiger. Und wie ich wusste, war sie Schauspielerin. Daher hatte ich Munition, die die Schwestern nicht hatten. Ich bat um etwas Klebeband. Damit klebte ich lauter Tigerfotos und Fotos von mir, wie ich neben Tigern ging und mit ihnen schmuste an die Wand. Ich hatte diese Fotos seit meiner Rückkehr von dem betrügerischen Tigertempel überall mit mir herumgetragen. Außerdem hängte ich ein paar Fotos von afrikanischen Löwen, die ich kannte und liebte, und dazu noch ein Foto von Jesus an die Wand. Rue war Atheistin und bevorzugte die Gesellschaft intellektueller New Yorker. Einmal hatte sie zu mir gesagt: „Mimi, was ich am meisten an dir bewundere, ist deine Beziehung zu Gott. So was hatte ich nie.“
Jetzt war die Zeit gekommen, auch das zu ändern. Nun ja, ich bin eine Schauspielerin und Tänzerin, die Tiger liebt, und meine Patientin war eine sterbende Schauspielerin, die auch tanzte und Tiger liebte. Außerdem kam ich gerade aus einem Löwenschutzgebiet in Afrika, wo ich mit einem Schamanen Shape-Shifting praktiziert hatte. Er hatte mir beigebracht, wie man sich in eine Löwin verwandelt. Wenn man den Geist und die körperlichen Eigenschaften eines wilden Tiers annimmt - insbesondere eines Raubtiers -, erweitern sich Geschwindigkeit und Volumen der eigenen Energie um ein Zehnfaches. Und diese Situation rief nach ungewöhnlichen Maßnahmen. Es war drei Uhr morgens, und die Uhr tickte. Wenn Rue in den nächsten Stunden ihren rechten Arm und ihr Bein nicht bewegte, würde sie diese Glieder nie mehr bewegen. Sie war bewusstlos und reagierte auf meine Worte noch nicht einmal mit einem Augenzucken. Ich spürte, wie meine Kehle sich dehnte, während ich ein Knurren unterdrückte. Es ist etwas, was man nicht in der Öffentlichkeit tun sollte - und schon gar nicht in einem Krankenhaus in Manhattan, aus dem sie mich mit Leichtigkeit in die psychiatrische Abteilung hätten abtransportieren können. Doch außer uns beiden war niemand im Zimmer, und daher ließ ich die Kräfte fließen.
Ich schluckte das Geräusch herunter und sammelte die unbändigen Kräfte, die wie ein Wildfeuer in meinem Körper hochstiegen. Dann brachte ich die Verwandlung auf eine noch höhere Stufe, um mich der Frequenz des elegantesten Entwurfs auf Erden anzupassen: der Verkörperung von Grazie, Kraft und Schönheit, dem Hüter des Tors zwischen Leben und Tod - dem Tiger. Ich channelte so viel seiner Kraft in meinen Körper, wie ich nutzen konnte, und tankte sie von den Tigerfotos. Die Bilder hingen auf ihrer Augenhöhe, für den Fall, dass sie wieder aufwachen und die Augen öffnen würde. Ich betete zu meinen Tigerfreunden um Hilfe.
Dann brüllte ich sie wie eine Tigerin an: „Rue, du bist kein Mensch mehr! Du bist eine Tigerin! Du bist eine Tigerin, Rue!“ Ich nahm ihre schlaffe Hand, scharrte wie mit der Pfote und brüllte: „Das ist keine Hand! Das ist eine Pfote! Du wirst sie jetzt ausstrecken und damit kratzen! Du hast jetzt Krallen! Du bist jetzt eine Tigerin, Rue! Streck sie aus und kratze damit! Strecke deine Krallen aus und kratze!“
Plötzlich bewegte sie die rechte Hand und machte die Bewegung einer Katze nach, die ihre Krallen ausstreckt. Es funktionierte tatsächlich! Sie konnte mich hören! Ich beschloss, an ihrem Bein so weiterzumachen. Wie wild schrie ich sie an, krümmte den Rücken und beugte mich wie eine Tigerin, die sich gleich auf ihre Beute stürzt, über sie.
„Rue, das ist kein Bein! Das ist eine Pfote! Wir werden jetzt auf einen Baum klettern! Beuge die Knie und spring! Kletter auf den Baum, Rue! Los, spring schon! Geh in die Hocke, krümm den Rücken und spring! Stoß dich mit dem Bein ab, Tante Rue!“
Und dann kickte sie mit dem rechten Bein in die Luft! Es war nicht nur eine leichte Bewegung, sondern ein starkes, hohes Kicken! Es war das kräftige, hohe Kicken einer Cancan-Tänzerin, und es war ein Moment des Triumphes, den ich nie vergessen werde. Leider war sie noch bewusstlos, daher würde sie sich nie an diesen Augenblick erinnern können. Aber ich machte so weiter, denn jetzt wusste ich, dass sie mich trotzdem hören konnte!
Ich blieb die nächsten Stunden bei ihr und wiederholte immer wieder sehr bestimmt: „Rue, wenn sie dir den Schlauch aus dem Mund nehmen, wirst du perfekt reden! Du wirst perfekt sprechen! Deine Lippen werden sich perfekt bewegen! Deine rechte Seite wird perfekt funktionieren! Du wirst schreiben und Autogramme verteilen können, und du wirst so reden können, als sei nie was gewesen. Gott wird dich wieder vollkommen gesund machen!“
Ich verbrachte die ganze Nacht damit, ihr zu sagen, was sie erwartete, wenn sie am nächsten Morgen aufwachen würde, auch wenn sie mir kein weiteres Zeichen gab, dass sie mich hören konnte. Um sechs Uhr morgens schleppte ich mich zurück in meine deprimierende Wohnung in New Jersey und ließ mich mit meinem dunkelbraunen Perserkater Doc aufs Bett fallen. Dann brach ich zusammen und heulte in sein weiches Fell.
Als Rue am nächsten Morgen aufwachte, nahmen ihr die Ärzte den Schlauch aus dem Mund, und sie konnte sprechen. Sie hatte keinerlei Erinnerungen daran, dass ich in der Nacht davor in ihrem Zimmer gewesen war, doch sie konnte die rechte Hand und den rechten Fuß schon wieder ein wenig bewegen. Nun begann für uns beide eine unangenehme Zeit, in der sie dreiundachtzig Tage im Krankenhaus verbrachte, und ich bei Regen, Schnee und Graupelschauern zwischen dem eiskalten New Jersey und dem noblen Manhattan hin- und herpendelte, teure Taxifahrten nahm und um ein Licht am Ende des Tunnels betete. Doch sie lebte, und Gott hatte mein Gebet erhört.
Der Höhepunkt des Jahres war bittersüß. Eines Tages kam ich elend und erschöpft in ihrem Krankenzimmer an. Die Frau, die ihr ganzes Leben lang überzeugte Atheistin gewesen war, befahl mir, vor dem Jesusbild, das mittlerweile einen festen Platz in ihrem Zimmer hatte, hinzuknien und zu ihm zu beten. Als sie kurz vor Ostern in ihre wunderschöne Wohnung in Manhattan zurückkehren konnte, schmiss sie eine kleine Party für Freunde und Verwandte. Und obwohl sie noch zu schwach war, um mit mir an diesem Sonntag in die Kirche zu gehen, sprach sie vor dem Osteressen ein Tischgebet.
Ihre Tigerseele und ihr neu gefundener Glaube an Gott hatten ihr das Leben gerettet und ihre Gesundheit wiederhergestellt. Dennoch frage ich mich, ob sie in jener Nacht, in der ich sie im Koma vorgefunden hatte, womöglich gestorben wäre, wenn meine Engel mich nicht an ihr Krankenbett geführt hätten. Ein bisschen Liebe kann wahre Wunder bewirken. Und diese Geschichte eröffnet Ärzten, Krankenschwestern und Familienangehörigen einen ganzen Diskurs über Heilung. Wieder einmal geht es um meine Arbeit mit nonverbaler Kommunikation, wenn auch diesmal mit einem Menschen und nicht mit einem Tier, da ich die Sprache der Patientin sprach. Hätte im Krankenbett mein Vater, der Flugzeuge entwirft, gelegen, dann hätte