Das Auge des Panthers. Katrin Ulbrich
Poltern.
«Dieses Thema ist noch nicht beendet, Albert!»
«Und ob es das ist! Ich werde den Zirkus nicht aufs Spiel setzen, nur weil du von mir verlangst, den Hilfskräften mehr zu bezahlen.»
«Aber sie verdienen kaum genug, um satt zu werden!»
«Für Schnaps scheint das Geld aber zu reichen. Hast du nicht bemerkt, dass die Hälfte von denen abends betrunken ist?»
«Du übertreibst mal wieder. Wenn du ihnen ihre Tätigkeit nicht endlich angemessen honorierst, werden sie die Arbeit niederlegen. Willst du das vielleicht?»
«Drohst du mir etwa, Erich? Willst du die Arbeiter womöglich dazu anstiften?»
Ein dumpfer Schlag folgte. Dann stürmte ein hagerer Mann aus dem Wohnwagen, gefolgt von einem zweiten, der gut doppelt so schwer war wie er. Die beiden Männer waren einander wie aus dem Gesicht geschnitten. Beide hatten dichtes dunkles Haar, buschige Schnurrbärte und stechende graue Augen. Sie ähnelten einander wie Brüder – abgesehen von ihrer Statur.
Der Stattlichere der beiden war der Zirkusdirektor in seinem glitzernden Jackett, das sich über seinem beachtlichen Bauch spannte. Sein Kontrahent trug eine abgewetzte blaue Arbeitshose, die an den Knien mehrfach geflickt war. Und dazu Stiefel, die schon fast auseinanderfielen. Er rieb sich mit finsterer Miene den Kiefer.
Hatten sich die Männer etwa geprügelt? Keiner von beiden würdigte Katzmann eines Blickes. Stattdessen verschwanden sie im Seiteneingang des Zirkuszeltes. Der Reporter wandte sich kopfschüttelnd um und setzte seine Suche nach einer Möglichkeit fort, Wasser zu lassen Nachdem er sich kurzentschlossen an einem der Wohnwagen erleichtert hatte, kehrte er ins Zelt zurück. Gerade noch rechtzeitig, um die Dressurpferde zu erleben.
Danach betrat der Direktor wieder die Manege. Die Auseinandersetzung von eben war ihm nicht anzusehen, stattdessen breitete er die Arme aus und rief enthusiastisch: «Und nun erleben Sie eine echte Sensation: eine junge Frau auf dem Drahtseil! Völlig schwerelos scheint sie darüber zu tanzen. Aber bedenken Sie wohl, meine sehr verehrten Damen und Herren, ein Sturz aus einer solchen Höhe hätte fatale Folgen. Und hier ist sie nun!»
Der Scheinwerfer schwenkte zum Vorhang. Trommelwirbel setzte ein. Doch sekundenlang geschah nichts. Die Zeit dehnte sich. Das Publikum wurde unruhig. Stimmen raunten. Hier und da wurde Gelächter laut.
Der Direktor tupfte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dann wandte er sich wieder an seine Zuschauer.
«Wie es aussieht, hat sich unsere Nelly auf dem Weg ins Zelt verlaufen. Vielleicht hätte ich ihr ein Seil aufspannen sollen.»
Das Publikum lachte. Man hielt seine Worte für einen Teil der Vorstellung, aber Katzmann war sich da nicht so sicher. In den grauen Augen des Direktors stand Sorge, als er nun eine andere Nummer ankündigte und dann auffallend schnell die Manege verließ.
Hatte es hinter dem Vorhang etwa eine Panne gegeben?
FÜNF
DIE BAR Zum Roten Fuchs war im Keller eines Ziegelhauses untergebracht, unweit vom Zirkusgelände. Das Haus stand an der Planitzstraße, schräg gegenüber von den Kasernen und dem Lazarett. Die Straßenbahnlinie 2 verkehrte von Schönau, den Wanderer-Werken und der Innenstadt bis hierher. Eine Haltestelle befand sich unmittelbar vor dem Roten Fuchs.
Rauch und Stimmengewirr beherrschten das holzvertäfelte Lokal. Die Bar war an diesem Abend brechend voll. Auf einer kleinen Bühne im Hintergrund hauchte eine Sängerin mit rauchiger Stimme I wanna be loved by you . Ihr rückenfreies Kleid war aus silbrigem Stoff, der sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte. Eine glitzernde Stoffrose lenkte den Blick auf ihr üppiges Dekolleté, und ihr rot geschminkter Mund war eine einzige Einladung.
«Donnerwetter!», entfuhr es Katzmann, als er die Bar betrat.
«Dein Geschäft brummt, was?»
«Das kann man sagen», gab Max Wachtler zurück. «Irgendwo müssen die Männer schließlich entspannen. Und wo kann man das besser als hier?» Er gab dem Barmann hinter dem Tresen ein Zeichen. «Bring uns zwei Whisky, Tom. Aber von dem guten!»
Sie schoben sich durch die Menge und fanden noch zwei freie Hocker.
Als die Getränke vor ihnen standen, hob der Barbesitzer sein Glas. «Eis bekommt einem Mann immer noch am besten, wenn es in einem Whisky schwimmt», murmelte er. Dann kippte er das Glas und knallte es zurück auf den Tresen.
Katzmann hielt sich zurück. «Für mich bitte nur einen Tomatensaft. Ich möchte morgen früh nicht schon wieder mit einem schweren Kopf aufwachen.»
«Bist du sicher?»
«Ganz sicher.»
«Na gut.» Sein Freund leerte das zweite Glas mit einem langen Zug. «Man soll ja nichts verkommen lassen … Moment mal, was serviert Gina denn den Gästen dort drüben? Soll das ein Spiegelei oder Holzkohle sein? Himmel noch mal, hat der Koch das Essen schon wieder anbrennen lassen! Entschuldige mich, Konrad, ich muss ein ernstes Wort mit ihm reden.»
«Geh ruhig, ich amüsiere mich schon.» Katzmann drehte sich so, dass er die Sängerin sehen konnte. Reizend!, dachte er und spürte, wie sich die alte Abenteuerlust in ihm regte. Früher hatte er nichts anbrennen lassen und ein großes Herz für alle Frauen gehabt. Seitdem er mit Frieda zusammen war, lebte er ruhiger. Doch hin und wieder packte es ihn, und dann hätte er am liebsten …
Plötzlich rempelte ihn jemand von hinten an, so dass etwas Tomatensaft auf sein Hemd kleckerte. Derart unsanft aus seinen Gedanken gerissen, fuhr er herum und funkelte den Übeltäter böse an. «Passen Sie doch auf! Was fällt …»
Der Rest seines Fluchs erstarb auf seinen Lippen, als er die zierliche Frau sah, die ihn angestoßen hatte. Die Flut üppiger roter Locken, die ihr über den Rücken fiel, und die weichen, vollen Lippen hatten sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war die Assistentin des Pantherdompteurs! Sie hatte sich einen langen schwarzen Mantel über ihr glitzerndes Kostüm gezogen, der ihre Gestalt fast völlig verhüllte. Dennoch konnte kein Zweifel bestehen: Sie war es! Mit ihren großen grünen Augen und dem feingeschnittenen Gesicht war sie eine wahre Schönheit.
Das entging auch den anderen Männern in der Bar nicht. Einige von ihnen schienen ebenfalls schon eine Vorstellung des Circus Rosario besucht zu haben. Ein Mann zwirbelte aufgekratzt seinen Schnurrbart zwischen den Fingern und rief mit schwerer Zunge: «Wen haben wir denn da? Wenn das nicht eine echte Raubkatze ist!»
Heiseres Gelächter antwortete ihm.
Die Rothaarige wurde eine Spur blasser und schlang ihren Mantel fester um sich. Dabei schaute sie sich suchend um.
«Brauchst du Hilfe, Püppchen?», krächzte der Bärtige und grinste breit. «Komm her, ich helfe dir gern!»
«Ich suche meine Freundin. Haben Sie sie vielleicht gesehen? Sie ist blond, ziemlich dünn und etwa so alt wie ich. Ihr Name ist Nelly.»
«Nein, sie war leider nicht hier. Warum suchst du nicht später weiter und leistest mir erst einmal Gesellschaft?»
«Das geht nicht. Ich muss Nelly unbedingt finden …»
«Vergiss deine Freundin. Was du brauchst, ist ein echter Kerl!» Der Bärtige schaute sich nach allen Seiten um und erntete beifälliges Gelächter.
«Das stimmt wohl», erwiderte die Dompteuse. Etwas an ihrer Haltung veränderte sich. Sie reckte das Kinn vor und schaute ihrem Gegenüber beherzt in die Augen. «Nur leider sehe ich hier keine echten Kerle. Nur einen Haufen Trunkenbolde.»
Die Mienen der Umstehenden verdüsterten sich. Die Spannung in der Bar wurde beinahe greifbar.
Nur der Bärtige behielt sein lüsternes Grinsen bei. «Ah, das Raubkätzchen fährt seine Krallen aus. So habe ich es am liebsten. Komm her, mein Kätzchen, lass mich sehen, ob du so heißblütig bist, wie du aussiehst …» Er griff nach ihr, fuhr jedoch im nächsten Moment zurück. Sein Grinsen war auf einmal wie weggewischt.
«Autsch!