Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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fragte Totila, „da stimmt doch was am Herzen nicht.“

      „Ja gut, aber wenn’s hier schon seit Monaten bloß heißes Wasser zu Mittag gibt …“ Schließlich saßen alle gedrängt um den Tisch und löffelten das inzwischen abgekühlte lumige Wasser aus den Aluminiumschüsseln. Hin und wieder fand sich auch ein verkochter Weißkohlstrunk darin.

      „Schmeckt nach nischt die Plirre, ohne Salz wie Abwaschwasser. Wenn man wenigstens ’n bisschen Salz hätte …“

      „Salz speichert Wasser“, entgegnete einer.

      „Aber ohne Salz geht man auch kaputt“, warf Totila ein.

      Die beiden zu ihrem eigenen Erstaunen noch immer in einer Zelle vereinten Freunde, kamen gar nicht dazu sich die Namen der jeweiligen Zellengenossen nachhaltig zu merken, da inzwischen alle paar Tage Verlegungen stattfanden und man Menschen und Namen oft kaum noch zusammenbringen konnte.

      Nicht zuletzt auch, weil die Revision mancher Zelleninsassen abgelehnt oder auch gar nicht erst eingelegt worden war und sie deshalb in Normalzellen verlegt werden mussten. Und mit fast allen der Häftlinge, mit denen man für kurze Zeit eine Zelle geteilt hatte, traf man nie wieder zusammen. Doch auch der Nachschub frisch Verurteilter, darunter viele Artikel 6er mit hohen Strafen, riß nicht ab und füllte leere Betten in den Zellen sehr schnell wieder auf, sodass diese kaum einen Tag unbelegt blieben.

      Eines Tages lief der Stationskalfaktor draußen auf dem Gang entlang und klopfte gegen die Zellentüren. „Es gibt neues Stroh“, rief er dabei. „Alle Strohsäcke in den Lichtschacht werfen!“ Dann erklang auch schon das Krachen der Schlösser und Klirren der Riegel auf allen vier Stationen fast gleichzeitig und kam näher, bis auch ihre Zellentüre aufflog. Die häckselgefüllten Strohsäcke hatten die Zelleninsassen bereits aufgestapelt und warfen sie dann in hohem Bogen über das Eisengeländer in den Lichtschacht, aus dem man die Fangnetze genommen hatte. Von dort ganz unten stiegen dann dichte Staubwolken auf.

      Die Zellen der obersten Station waren ja niedriger und die Fenster lagen deshalb tiefer, sodass man gut über die Mauer blicken konnte. Sebastian stand dort, sagte: „Da kommt das Stroh“, und wies mit der Hand durch die Gitterstäbe auf einen mit Strohballen hochbeladenen LKW, der von ganz hinten über die lange Auffahrt gemächlich herangerollt kam.

      Alle traten ans Fenster und beobachteten das Auto, aber auch die Vorgänge direkt unten im Hof, in den Häftlinge die alten Strohsäcke schleppten. Andere entleerten sie eilig in einen bereitstehenden Hänger. Auch wenn an diesem Tag kaum ein Wind ging, reichte ein leichter Luftzug aber schon aus, um Wolken von Staub ganz sachte in die Höhe zu treiben. Der LKW mit den Strohballen passte augenscheinlich nicht in die Durchfahrt, das konnten sie von dort oben aus noch erkennen, weil auch die Ballen einzeln oder zu zweit auf Karren von Häftlingen in den Hof gebracht werden mussten. Dann schlossen sie des feinen Heckselstaubs wegen die Fensterklappe.

      Schließlich wurden die von Häftlingen neu gestopften Säcke ganz unten im Lichtschacht gestapelt und Zelle für Zelle holten deren Insassen sich diese voluminös gewordenen Strohsäcke dann ab.

      „Ganz toll“, sagte Sebastian und grinste, als jeder seine Schlafstatt von ganz unten hoch in die Zelle geschleppt hatte „jetzt müssen wir nicht mehr auf bloßen Latten pennen. Der humane Strafvollzug … das sagen die doch immer …“ „Da können wir wirklich nicht meckern“, stimmte ein anderer ironisch zu.

      Nach kurzer Zeit roch die Zelle, in der es sonst immer nach Schweiß, Chlor und Urin stank, nach frischem Stroh. „Wie eine Scheune an heißen Sommertagen“, schwärmte Totila und sog die Luft tief ein.

      Er werde sicher von wogenden Getreidefeldern träumen, erklärte Sebastian dazu.

      In den Zellen selbst hatte man nur wenig vom sanften Ineinandergreifen der Jahreszeiten draußen bemerken können. Doch mit dem Blick durch’s Klappfenster aus der obersten Etage des Zellenbaus, zeigten sich doch schon allererste Anzeichen eines frühen Herbstes. Das Gras im Freistundenhof war zwar noch grün wie eh und je, doch in den Obstbäumen der Kleingärten färbten sich einzelne Blätter und kleinere Zweige bereits bunt. Auch im dichten Laub der alten Kastanien, deren Blütenkerzen Sebastian im Frühling so bewundert hatte, zeigten sich bereits einzelne gelbe Blattfächer. Ende August stand die Sonne, wenn sie denn zu sehen war, noch hoch am Himmel und dennoch überzog etwas wie eine Abschiedsstimmung das Land oder nistete auch nur im Empfinden der Menschen, die das so wahrnahmen.

      Zählung und Einschluss um 20 Uhr: Wieder krachten Schlösser und klirrten Riegel. Den leeren Kübel rein für die Nacht und die Gefangenen konnten nach dem Einschluss auf den Betten liegen oder auch nicht. Eine kleine Freiheit im sonst streng geregelten Einerlei des Tages. Einige schliefen gleich, andere lagen länger wach. Manchen quälte das Nachdenken über die eigene Lage, andere wieder sorgten sich vor einer noch fernen Zukunft. Beim Einschluss stand um diese Jahreszeit die Sonne noch hoch am Himmel und eine ganz sacht aufsteigende Dämmerung legte sich endlich als Nacht übers Land. Dann zeichneten die eingeschalteten Scheinwerfer der Wachtürme die Gitter des Fensters als Schattenriß an die Zellenwand und verzerrt auch nach oben an die Decke der Zelle, in der alle schliefen und manche auch träumten.

      Sebastian störte der neu gestopfte Strohsack. Er hatte Schwierigkeiten sich dort zurecht zu legen und da er in einem oberen Bett schlief, fürchtete er sich davor des nachts von dort oben herunter zu fallen. Und so orientierte er sich auf der zerbeulten Unterlage mehr in Richtung Wand, in eine wenn auch nicht gerade bequeme Lage. Andere wälzten sich ebenfalls auf ihren Strohsäcken und murrten dabei vor sich hin.

      Irgendwann schlief Sebastian auf seinem buckligen Strohsack aber doch ein und landete in einem Traum: Dort wurde er, die Hände auf dem Rücken gefesselt, über Gänge und an Zellentüren vorbei geführt. Hinter ihm ging einer und Gittertüren öffneten sich von selbst, wenn er sich ihnen näherte. Es ging über Treppen hinab, immer weiter, immer tiefer … Schließlich sah er sich selbst dort gehen, durch einen spärlich beleuchteten Kellergang und sah dann auch den, der hinter ihm ging. Ein verschattetes Gesicht erkannte er als eine schwarze Kapuze. Er wunderte sich, war er denn nicht bei der Stasi? Aber alles war fremd, war anders und solche Kapuzenmänner gab es dort nicht. Wo war er? Schließlich dirigierte man ihn auf eine große schwarze Türe zu.

      „Gehen Sie!“, hörte er eine Stimme hinter sich, als er zögerte … Doch dann öffnete sich diese Türe wieder von selbst. Ganz langsam gab sie den Blick in einen weiß gefliesten Raum frei, keine Fenster, nur helles Kunstlicht.

      „Gehen Sie …!“

      Angst griff plötzlich nach ihm, Angst … Und auf einmal wusste er: Dresden!

      Niemand hatte ihm das gesagt, er wusste es einfach. Er war in Dresden.

      „Das stimmt doch nicht! Nein! Das kann gar nicht sein …“, rief er.

      Dann sah er von oben in diesen Raum, sah sich selbst in der Türe stehen.

      „Sie sind verurteilt!“, bedeutete ihm eine Stimme, die von irgendwoher kam.

      Und dann stand er selbst in diesem Raum und sah das Fallbeil und auch wieder sich selbst wie er darauf zugestoßen wurde, wie er dabei stolperte, sich sträubte … „Zehn Jahre“, gab er zu verstehen, „doch nur zehn Jahre …!“

      „Sie sind verurteilt“, kam wieder diese gleichgültige Stimme.

      Ein Schreck durchfuhr ihn bis ins Herz, als er weiter auf das Fallbeil zugestoßen wurde. Weglaufen? Aber wohin …? Er sah das schräge Messer in seiner Halterung, das Brett mit der Aussparung für den Hals und die Kiste davor …

      Das kann nicht sein, nein, ein Irrtum, ganz bestimmt … Und er hielt sich kaum noch auf den Beinen.

      Einer mit schwarzer Kapuze trat plötzlich hinter der Guillotine hervor, fasste ihn an den gefesselten Händen, griff ihn grob an der Schulter … Dann schreckte er auf aus Schlaf und Traum hoch, Gänsehaut auf Armen und Beinen, immer noch ganz starr, doch er war in seiner Zelle. Der Schattenriß des Gitterfensters an Wand und Zellendecke beruhigte ihn.

      Gesicht und Schulter erwiesen sich als eiskalt. Die Wand wurde ihm klar, natürlich die Wand … Er war im


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