Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


Скачать книгу
tauschte er seine Besucheruniform wieder gegen seine abgewetzten Klamotten. Die Vorstellung ist vorüber, sagte er sich. Irgendwie empfand er das auch als Erleichterung. Diese von Zensoren streng belauerten Vorführungen begriff er als entwürdigend. Seine Mutter würde das vielleicht nicht so sehen.

      Aber dann hatte ihn bereits seine Zelle wieder. Als er in seinen alten Klamotten durch die geöffnete Türe trat, stand ihm das gewohnte Geruchsgemisch wie eine Wand entgegen.

      Wenige Tage später hieß es für den Abteilungsleiter aus dem Berliner Ministerium für Verkehr: „Sachen packen!“ Ungewissheit durchzog die Zelle. Ganz gleich wen es traf, diese Unsicherheit ergriff mehr oder weniger jeden und sie konnte ja jeden von ihnen auch jeden Tag treffen. Das blieb allen stets bewusst.

       Kapitel 9

      Nach einigen Tagen zu dritt in der Zelle, krachten eines Nachmittags wieder mal Schloss und Riegel und durch die aufgesperrte Türe trat mit seinem Bündel, das er an sich gepresst hielt, ein Neuzugang: Ein relativ großer, blasser, dicklicher Mann in mittleren Jahren, der mit einer weiten Stirnglatze und leichten Hängebacken älter aussah, als er es möglicherweise wirklich war. Er schwitzte, sein rundes Gesicht glänzte feucht und er wuchtete sein Bündel scheppernd auf das obere freie Bett und wandte sich dann den anderen in der Zelle zu: „Lipka“, sagte er, „Franz Lipka“, und hielt den dreien nacheinander seine leicht schweißige Hand hin, eine kleine, weiße leicht fettgepolsterte Hand.

      Eine Frauenhand, dachte Sebastian als er sie in seiner Hand fühlte und seinen Namen dazu nannte.

      Dann sah der Neue, Franz Lipka, sich um, wischte sich mit dem weißen Handrücken über eine weite, feuchte, leicht gerötete Stirn und beäugte misstrauisch den Kübel im rostigen Gestell in der Ecke neben der Tür.

      „Was haste denn mitgebracht?“, ließ schließlich der West-Berliner Journalist sich hören. Alle drei standen noch in der Nähe des Fensters und Lipka vor der Tür, neben Kübel und Heizungskörper.

      „Was denn mitgebracht?“, fragte er, guckte dazu unsicher und zwinkerte etwas.

      „Na was sie dir aufgebrummt haben, wie viele Jahre?“

      „Zwölf“, sagte er nach kurzem Zögern und das klang ein wenig abweisend.

      „Na ja, das geht ja schon“, erklärte der Journalist aus West-Berlin.

      Dann konnte Lipka erst mal in Ruhe sein Bett machen, das hieß lediglich die schmierige Decke am Fußende auf dem bucklig gestopften Strohsack zusammen zu legen. Laken und Kopfkissen gab es ja nicht. Dann galt es noch Schüssel, Becher, Löffel, Zahnbürste und Seife ins Regalfach zu räumen.

      Schließlich wurde ihm gesagt, er möge seine Botten ausziehen, das poltere sonst auf dem Dielenboden zu sehr.

      Als sie am nächsten Tag von der Freistunde zurück kamen, winkte der Stationskalfaktor den Journalisten und Sebastian, bevor sie eingeschlossen wurden, eilig beiseite.

      „Euer Neuzugang“, sagte er dann und wies mit einer Kopfbewegung auf den großen dicklichen Mann, der mit hängenden Armen wartend vor der Zellentür stand, „war Oberstaatsanwalt am Obersten Gericht der DDR in Berlin. 12 Jahre wegen Vergehens am Volkseigentum oder so ähnlich. Kein Politischer. Hat sich nach einer Wohnungsdurchsuchung ’ne beschlagnahmte wertvolle Briefmarkensammlung unter ’n Nagel gerissen und das fanden seine Genossen wohl gar nicht so schön.“

      „Und uns hat er gestern auf Nachfrage gesagt, er sei Magistratsangestellter gewesen. Was wirklich dahinter steckt …?“ Sebastian hob die Schultern.

      „Na das kann ja noch spannend bei euch werden“, sagte der Kalfaktor und huschte davon, als der Schließer sich auch ihrer Zelle näherte.

      Das ist ja ’n Ding, überlegte Sebastian, betrat seine Zelle zusammen mit diesem Lipka, dem vorgeblichen Berliner Magistratsangestellten und betrachtete sich den mit einem kurzen Blick von der Seite. Dieses große ungelenke Dickerchen, ein leibhaftiger Oberstaatsanwalt des Obersten Gerichts der DDR? Und jetzt sitzt der Kerl selbst hier im Knast? Das ist richtig komisch. Eben bin ich noch von solchen Genossen als Kriegstreiber verurteilt worden, und nun hockt so einer in meiner Zelle … Lipka wurde schließlich gefragt, was für ein Magistratsangestellter er denn gewesen sei?

      „Gerichtsangestellter“, sagte er.

      „Gericht?“, fragten die in der Zelle. Was für ein Gericht und was er da gemacht hätte?

      Aus den grinsenden Gesichtern schloss Lipka, dass alle Bescheid wussten und ein Versteckspiel ihn nur lächerlich würde aussehen lassen. Doch die würden ihn schon nicht zerreißen und so sagte er lapidar: „Staatsanwalt. Ich war Staatsanwalt.“

      „Oberstaatsanwalt“, sagte der West-Berliner Journalist, „das ist bekannt.“ Dann stand er auf und sah herab auf den Franz Lipka, den dicklichen Mann mit den Hängebacken, der auf einem Hocker in der Ecke saß, in dieser schäbigen zu engen Uniform mit zu kurzen Ärmeln. „Also Oberstaatsanwalt warst du“, sagte er, „am Obersten Gericht der DDR.“

      Lipka nickte.

      „Schlimm genug! Wie viel Todesstrafen für Politische hast du denn beantragt?“

      „Für Politische war ich gar nicht zuständig“, beeilte Lipka sich zu versichern.

      „Aber politische Häftlinge gibt’s bei euch offiziell doch gar nicht. Für euch sind wir alle hier, „und er fuhr dazu mit der Hand durch die Zelle, „ausnahmslos Kriminelle.“

      Lipka schüttelte den Kopf. „Ich war auf Wirtschaftsstraftaten spezialisiert“, sagte er.

      „Auch da ist ja vieles politisch“, konterte der Journalist. „Ich denke nur an die Aktion ‚Ungeziefer‘, so hießen bei euch doch die Hotelbesitzer an der Ostsee, Ungeziefer, das ausgetilgt gehört. Menschen die ihr mit miesen Steuertricks kriminalisiert habt, um sie zu enteignen und verschwinden zu lassen. Hast du dabei mitgemacht, warst du beteiligt?“

      Lipka schüttelte energisch verneinend den Kopf. „Damit war das Oberste Gericht nicht befasst“, sagte er. „Dafür war ausschließlich das Bezirksgericht Rostock zuständig.“

      „Wenn’s darauf ankommt seid ihr alle für nichts zuständig gewesen. Das war auch schon vor fünfundvierzig so, alle gehorchten nur Anordnungen und Befehlen. Du doch auch“, wandte der Journalist sich an den Staatsanwalt, „wenn nicht unter Hitler, dann jedenfalls unterm Spitzbart.“

      Der schien sich vom ersten Erschrecken recht rasch erholt zu haben. „Natürlich gab’s Gesetze und Anordnungen wie in jedem Staat.“

      „Die gab’s bei Hitler auch“, konterte der Journalist.

      „Die DDR betreibt im Gegensatz zur BRD eine durch und durch antifaschistische Politik“, entgegnete Lipka mit Empörung in der Stimme.

      „Wieso im Gegensatz zur Bundesrepublik?“ Der Journalist war dabei die wenigen Schritte im schmalen Gang zwischen den Betten bereits einige Male hin und her gelaufen, blieb dann aber mit Absicht ganz dicht vor Franz Lipka stehen, der dort auf seinem Hocker saß und blickte auf ihn hinab.

      „Na die ganzen alten Nazis in Behörden und Ministerien der BRD“, antwortete der, „wie zum Beispiel der Globke …“

      Der West-Berliner Journalist lachte. „Also wenn euch nichts weiter einfällt, dann kommt ihr immer mit dem Globke. Natürlich gibt es in dieser Hinsicht auch einige dunkle Flecken in der Bundesrepublik, Das ist aber so, wenn man nicht im Paradies lebt, wie ihr hier in euerem Arbeiter- und Bauernparadies“, sagte er grinsend. „Die einfache Erklärung aber ist“, fuhr er fort, „alle Spezialisten, vor allem die in den diversen Verwaltungen, waren seinerzeit entweder emigriert, saßen in der Kriegsgefangenschaft oder waren eben mehr oder weniger exponiert in der NSDAP gewesen. Zum Aufbau neuer staatlicher Strukturen wurden halt möglichst schnell Fachleute gebraucht und die Auswahl war nicht riesengroß.


Скачать книгу