Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August

Auf der anderen Seite der Schwelle - Raimund August


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durften. Die Anstaltsleitung fühlte sich offensichtlich durch die Westprodukte provoziert meinten die Gefangenen und das schien der Wahrheit nahe zu kommen, wenn man daran dachte wie absichtlich zerstörerisch die Wachtmeister mit dem Inhalt dieser Päckchen bei der Ausgabe stets umgegangen waren.

      Willkürliche Verlegungen in immer wieder andere Zellen hatten die Gefangenen über sich ergehen zu lassen. Damit wurde eine ständige Durchmischung der Häftlinge erst einmal der obersten Station erreicht, wobei es sich dort ausschließlich um Langstrafer handelte, die sich nicht zu sehr an einen zu vertrauten Umgang miteinander gewöhnen sollten.

      Wie Sebastian von anderen erfuhr, die schon einige Jahre den Zellenbau bevölkerten, hatten sie je nach Länge ihrer Strafe einige Jahre in diesen Zellen zu verbringen, ehe sie zur Arbeit in anstaltseigene Werkstätten, etwa Polsterei oder Noppe verlegt wurden. Das sei dann, hörten sie, auch mit einem Umzug nach Haus1 verbunden. Es gäbe dort große Zellen die mit drei- und vierstöckigen Betten für etwa fünfzehn bis zwanzig Gefangene ausgerüstet seien. Aber bis dahin, sagten die beiden sich, lägen ja noch Jahre im Zellenbau vor ihnen.

       Kapitel 12

      „Strafgefangene Sebaldt und Kunzmann Sachen packen!“, hieß es eines Tages nach der morgendlichen Freistunde, wozu der Stationskalfaktor mit der Faust mehrmals gegen die Türe hämmerte. Die Ankündigung einer Verlegung brachte immer eine Verunsicherung der Betroffenen mit sich, denn es konnte sich dabei um den Umzug in eine andere Zelle handeln, aber auch um den Transport in eine andere Anstalt.

      Als dann das Schloss krachte und die Tür aufgestoßen wurde stand dort der Wachtmeister und winkte mit dem langen Schlüssel: „Kommen Sie!“

      Die beiden traten, ihre Deckenbündel in den Armen, auf den Flur.

      „Gehen Sie“, sagte der Wachtmeister mit einer Handbewegung.

      Wohin? Diese bange Frage bewegte die beiden. Wenn es jetzt durch die Gittertür zu den Treppen geht, wird es spannend … sagte Sebastian sich.

      „Gehen Sie da rechts rüber“, hörten sie erleichtert den Wachtmeister hinter sich.

      Rechts rüber, sagte Sebastian sich, ja natürlich, die Brücke über den Lichtschacht … die gegenüberliegende Seite, also kein Transport.

      Und dann schloss der Wachtmeister auch schon eine Türe auf.

      Sebastian hörte einen jüngeren Mann Meldung machen. Als beide schließlich die Zelle betraten, begrüßten sie den Jüngeren und sahen einen älteren auf dem Kübel hocken. Sie begrüßten auch den.

      „Das sind bei mir die Hämorrhoiden …“: erklärte der Alte mit entschuldigendem Lächeln diesen Kübelgang außer der Reihe.

      Es grenze schon an ein Wunder, meinten die beiden Freunde, dass man sie immer noch zusammen in einer Zelle unterbrachte und sie fragten sich schon, ob damit nicht etwas bezweckt werden sollte. Über Einzelheiten ihrer Tätigkeit für den westdeutschen Nachrichtendienst sprachen sie nie miteinander. Das taten auch andere politische Langstrafer nicht. Als sie ihre Sachen in die Regalfächer geräumt und die Decken jeweils zusammengelegt auf die Strohsäcke platziert hatten, gingen sie zum Fenster und sahen hinaus. „ Die genaue Gegenrichtung unserer bisherigen Aussicht“, sagte Sebastian.

      „Na klar“, bestätigte Totila, „da unten ist unser Freistundenhof.“

      Und beide richteten ihre Blicke dann über die Mauer hinweg in weitläufige Gärten mit massiven Lauben und ganz im Hintergrund mehrstöckige Mietshäuser.

      „Der Scheinwerfer des Wachturms dort“, sagte Totila, „wird uns nachts die Zelle erhellen.“

      „Sind wir ja gewöhnt“, antwortete Sebastian.

      Von den beiden, dem Älteren und dem Jüngeren in der Zelle erfuhren sie, dass beide wegen des 17. Juni verurteilt worden waren: Der Ältere zu zwölf und der Jüngere zu acht Jahren.

      „Das sind ja ziemlich hohe Strafen“, stellte Sebastian fest. „Was habt ihr denn da gemacht?“

      Der Alte lachte. „Geredet“, sagte er. „Ich fuhr eine elektrische Grubenbahn und kannte viele in der Senftenberger Grube.“

      „Senftenberg?“, fragte Sebastian überrascht, „wir beide“, dazu tippte er Totila auf die Schulter, „sind aus Großräschen.“

      „Na sieh’ an“, sagte der Lokführer.

      „Aber in Großräschen war gar nichts los“, warf Sebastian ein.

      „Um so mehr in Senftenberg“, sagte der Alte. „ Als wir das vom Aufmarsch und den Forderungen der Bauarbeiter in Berlin im Radio gehört hatten, machten auch wir mobil. Ich kam viel herum und habe die Leute zusammengetrommelt. Und der Markscheider hier“, und er wies mit einer kurzen Kopfbewegung auf den Jüngeren in der Zelle, „also der Siegfried, der hat zu den Leuten geredet.

      Und ich hab’ dann auch noch ein paar Worte von mir gegeben.“ Er lachte wieder. „Ich hab’ ja noch nie zu so vielen Leuten gesprochen.“

      „In Senftenberg war schon allerhand los“, bestätigte Siegfried, der Markscheider.

      „Wir beide hier, wir waren ja nicht die einzigen, die was gesagt hatten. Und natürlich gab’s auch genug Stasi-Spitzel unter den Bergarbeitern, die dann als die Russen alles umstellt hatten, aus ihren Löchern gekrochen kamen. Einige von uns wurden noch am selben Tag abgeholt, in diese Stasivilla gebracht und dann gleich nach Cottbus in die Spreestraße.“

      „Diese hübsche Villa in Senftenberg hab’ ich auch kennengelernt und diesen grobklotzigen Obersten dort.“

      Siegfried, der Markscheider lachte. „Der sah aus wie ’n Russe, kam durch ’ne Tür rein, sah uns bloß an und verschwand gleich wieder.“

      „Der hatte wahrscheinlich wie viele damals ’ne Scheißangst. Ohne den Iwan mit seinen Panzern wärs auch zu Ende gewesen mit der geborgten Bonzenherrlichkeit …“

      „Das kann man wohl sagen“, bestätigte der Grubenbahn-Lokführer kopfnickend.

      Nee, das sind keine Spitzel, sagte Sebastian sich und Totila stimmte dem ohne Worte zu.

      Es gab im Zellenhaus immerhin diese wöchentlichen Rasiertermine. Sebastian und Totila hätten sie nicht unbedingt wöchentlich in Anspruch nehmen müssen.

      Bei ihnen hätte es auch alle 14 Tage gereicht, doch Abwechslung erschien schon wichtig bei den Tagen dort, die sich oft so öde gleichförmig dahinquälten, als stehe die Zeit still.

      So auch an diesem grauen Herbsttag, als der Kalfaktor an die Tür klopfte und : „Rasieren?“, fragte, alle Vier „ja“, sagten und der Kalfaktor sich die Namen auf einem Zettel notierte.

      Am Nachmittag holte ein Schließer sie ab und führte sie nach unten in eine Zelle im ersten Stock, die bis auf zwei Hocker und einen Tisch keine weitere Einrichtung aufwies. Jeder Häftling kannte diese Zelle ja inzwischen. Auf dem Tisch befand sich wie immer eine emaillierte Wasserkanne nebst kleiner Schüssel mit Pinsel und Rasierseife. In der Ecke neben der Tür stand ein Abwassereimer. Sebastian wunderte sich, als der Einseifer, der in der Schüssel den Rasierschaum schlug und mit dem er bisher allenfalls über das Wetter gesprochen hatte, ihn auf einmal nach seiner Strafe fragte.

      „Artikel 6, Kontrollratsdirektive 38“, sagte er. „Zehn Jahre“, fügte er hinzu, als er nach der Höhe der Strafe gefragt wurde.

      „Ein ganz schöner Hammer“, sagte der Einseifer, während er mit dem Pinsel rührend den Schaum in dem Schüsselchen in die richtige Konsistenz brachte.

      „Wie alt bist du denn?“, fragte er, während er mit Schaum und Pinsel Sebastians Kinn bearbeitete.

      „Achtzehn“, antwortete der, leicht verwundert über das plötzliche Interesse.

      „Wenn de raus kommst biste 28“, gab der Einseifer gnadenlos zu bedenken.

      „Das


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