Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
empörte der einstige Staatsanwalt sich und richtete sich dazu auf seinem Hocker gerade auf, „das sind unhaltbare Unterstellungen.“
Der Journalist lächelte. „Na ja, die Antifaschismuskeule … aber hier gibt’s doch überall auch alte Nazis, das ist nicht zu bestreiten, nur werden die eben verheimlicht. Und eure Planwirtschaft, also da kann doch jeder Trottel mitmischen. Das mutiert zum bloßen Glasperlenspiel und hat mit der Realität kaum noch zu tun.“
Mit seinen Bemerkungen hatte der Journalist aus West-Berlin sich schon recht weit aus dem Fenster gelehnt. Sebastian und Totila wechselten miteinander fragende Blicke. Was war mit diesem Oberstaatsanwalt, der sich immer noch als Genosse gerierte. Sebastian versuchte sich in dessen Lage zu versetzen: Da fällt ein Oberstaatsanwalt, also ein in weit herausgehobener Stellung am Obersten Gericht der DDR agierender Genosse, wegen eines kriminellen Vergehens ganz tief hinab in eine Zuchthauszelle voller politischer Gegner, also Leuten, deren Bestrafung er einst im Namen des Volkes gefordert hatte. Rasch begriff er dann aber nach einem kurzen Schock, dass ihm hier von geknebelten Gegnern keine Gefahr drohen würde. Die gezielten Provokationen dieses ‚Westberliner Zeitungsschmierers‘ allerdings drängten ihn in eine politische Ecke, aus der er gerade ganz tief gefallen war. Peinlichkeit kannte er nicht. Solche ihm ziemlich unangenehmen Zellengenossen aber würden nun wohl auch künftig sein täglicher Umgang sein, ein Umgang, den er auf alle Fälle aber würde akzeptieren müssen, wofür er schon sorgen wollte. Und so legte sich dieser Lipka bereits ganz früh eine Haltung zurecht, mit der er bis zu einer Befreiung durch befreundete Genossen, woran er fest glaubte, zu überdauern hoffte. Eine Gemeinsamkeit mit diesen Verbrechern hier würde es für ihn jedenfalls nicht geben.
Dieser einstige Oberstaatsanwalt hatte seine Genossen und damit zugleich den Staat und das Volk bestohlen und so zumindest intern das Ansehen eines Staates beschädigt, als dessen Anwalt er stets aufgetreten war. Die DDR-Bewohner draußen erfuhren von solchem Umgang der Genossen unter sich natürlich nichts.
Was aber dieser Westberliner da sagte, diese Gleichsetzung der antifaschistischen Arbeiter und Bauernmacht mit dem Faschismus selbst, das hieß Verächtlichmachung, meinte Lipka, war Boykotthetze und Staatsverleumdung … Unsicherheit und Furcht, die ihn ganz zu Anfang in dieser Zelle noch beunruhigt hatten, waren längst gewichen. Schließlich lebte er noch immer in der DDR, auch hier im Zuchthaus. So dürfe man über diesen Staat jedenfalls nicht reden, der immer noch sein Staat sei, sagte er sich. Doch eine andere Wahl hatte er ja längst nicht mehr. Eine Erkenntnis, die er möglichst beiseite schob.
„Du als früherer Staatsanwalt“, ließ der Journalist sich wieder hören, „was hast du denn nun wirklich ausgefressen, dass deine Genossen dir zwölf Jahre übergebraten haben?“
„Darüber rede ich nicht. Das geht nur mich was an. Außerdem“, erklärte Lipka, „werde ich nicht lange hier bleiben.“
„Wie soll das gehen? Deine Revision hatte keinen Erfolg.“
Lipka winkte ab. „Ich habe auch Freunde an den richtigen Stellen …“ „Rausholen könnten die dich bloß, wenn du unschuldig wärst“, unterbrach der Journalist den einstigen Staatsanwalt. „Deine Strafsache ist ja nichts Politisches wie wir gehört haben. Und wenn du schuldig bist, aber bald wieder rauskommen würdest, durch einflussreiche Genossen wie du sagst, dann wäre das schon Korruption und die gibt’s ja, das ist bestimmt deine feste Meinung, in der DDR nicht.“
Lipka schüttelte den Kopf. „Es gibt da übergeordnete Prinzipien“, erklärte er, „da ist das kein Problem.“
„Na ja, auch das sind Schwarze Kassen“, gab der Journalist zu bedenken, „und ob sie die für dich anzapfen?“ Er hob die Schultern und schüttelte den Kopf.
„Kommt wohl darauf an“, sagte er, „wie viel du weißt vom Dreck an manchen Stecken. Doch nur als Oberstaatsanwalt und sei’s am Obersten Gericht, glaube ich, bist du nicht wichtig genug. Ich weiß es natürlich nicht.“ Achselzuckend wandte er sich ab und trat zum Fenster, „aber ich sehe das so“, fügte er noch hinzu.
„Du wartest auf Freunde wie wir auf eine Amnestie“, wandte Totila sich an den einstigen Oberstaatsanwalt, „aber kommen wird beides nicht.“
„Unsinn“, empörte Lipka sich. „Ich habe Freunde, durchaus einflussreiche Freunde. Und einige sind mir noch was schuldig. Ich warte jedenfalls nicht auf eine Amnestie.“
Auch er wurde eines Tages aus der Zelle verlegt.
„Sollen auch andere noch ihren Spaß an dem haben“, kommentierte der Journalist diese Verlegung.
Als eine positive Besonderheit erwies es sich, dass die Ausscheidungen von nur drei Leuten den Kübel längst nicht mehr so randvoll werden ließen. Dennoch musste die Prozedur: alle schnell noch auf den Kübel früh am Morgen und abends der Reihe nach hintereinander, abgestimmt erfolgen, denn jedes Mal vor der Freistunde und vor dem Einschluss am Abend, krachten immer sehr rasch die Schlösser und Riegel der Türen hintereinander den Gang hinauf: „Dalli dalli!“ Kübel raus, Kübel rein.
Nach Wochen eines eher gemischten Wetters war es draußen noch einmal richtig heiß geworden, der ewig gleiche Ablauf Tag für Tag … mindestens dreißig Grad schätzten die Gefangenen und das wirkte sich vor allem unter’m Flachdach in der obersten Station, auf das die Sonne brannte, verheerend aus. Die wieder einmal neueste Anordnung lautete: Es sei bei Arreststrafe verboten die Jacken aufzuknöpfen, geschweige denn sich ihrer zu entledigen und die Fensterklappen zu öffnen. Das erwies sich in den überbelegten Zellen, zumal mit den Chlor und Urin ausdünstenden Kübeln in der Ecke als Katastrophe, als eine abgefeimte Art von Folter, meinten die Gefangenen.
Die Minderheit der Kriminellen gab den Politischen die Schuld an diesen drastischen Auflagen. Die Zelleninsassen drängten sich dann abwechselnd gegen die Türspalten, um vom Gang her die dort vergleichsweise frischere Luft zu atmen.
Und immer wieder mal klapperte der Deckel des Spions draußen an der Tür.
Jedem war natürlich klar, dass dort Schließer wieder mal auf der Jagd nach Arrestkandidaten waren. Sinnlos, sich wegen so einer Schikane zwei Wochen in den Arrest bei Wasser und Brot schicken zu lassen. Die machten sich wahrscheinlich auch wieder mal nur einen Spaß daraus, etwa mit Wetten: Wer erwischt die meisten. So ähnlich dachten sicherlich viele der Gefangenen und so blieb eine nennenswerte Jagdstrecke wohl aus. Von den Kalfaktoren jedenfalls war nach dieser spontanen Aktion der Schließer nichts von Arrestierungserfolgen zu hören. Als nach etwa acht Tagen die Temperaturen draußen etwas nachließen, durften Jacken aufgeknöpft und Fensterklappen wieder geöffnet werden.
Kapitel 10
So ging der Sommer dahin, die lange Regenperiode war vorübergegangen, auch die darauf folgende späte Hitzewelle hatte nachgelassen, als eines Tages in die Nachmittagsstille hinein Schmerzensschreie durch den Bau hallten. Als die Schreie sich wiederholten klopfte Sebastian mehrmals gegen die Türe, bis endlich der Stationskalfaktor auf dem Gang sich meldete.
„Überall klopft es“, sagte er, „ich kann mich doch nicht zerteilen. Die Schreie, ja, da braucht dringend einer ein spezielles Medikament … Ich weiß auch nicht welches, aber schon seit Tagen.“
Die Schreie kamen aus einer der unteren Stationen, denn von dort brach dann auch der lärmende Protest der Gefangenen los, die auf die Betten geklettert waren, mit ihren Blechschüsseln gegen die Gitter schlugen und „Mörder! Mörder!!“, nach draußen schrien, über die Mauern hinweg in die Stadt hinein. Das griff blitzartig auf alle Stationen, auch auf die obersten über, sodass letztlich der ganze Zellenbau dröhnte, da auch noch gegen die eisenblechbeschlagenen Türen gehämmert wurde. Wie später zu erfahren gewesen war, ging es wirklich um irgendein lebenswichtiges Medikament für einen akut erkrankten Gefangenen. Während dieses Höllenlärms liefen alle Schließer über die Gänge, um durch die Spione in den Zellentüren die Protestierer zu ermitteln.
Danach waren alle Arrestzellen im Keller belegt: Verächtlichmachung des Staates, Boykotthetze wegen der Mörder-Mörder-Rufe und Anstiftung zum Aufruhr.
Einigen