Auf der anderen Seite der Schwelle. Raimund August
Sebastian und Totila hatten mit dem West-Berliner Journalisten umgehend nach ihren Aluminiumschüsseln gegriffen, um damit den schrillen Lärm an den Gittern zu unterstützen. Natürlich hatten sie aus ihrem Zellenfenster auch die Mörderrufe nach Kräften wiederholt und so den Chor mit verstärkt. Nur mussten sie dazu nicht auf ein Bett klettern wie in den unteren Stationen und wurden deshalb auch nicht erwischt, weder mit den Schüsseln am Gitter, noch bei ihren Rufen. Auch wussten nun alle in der Zelle genau, dass unter ihnen kein Spitzel sein Unwesen trieb, weil niemand in den Arrest oder gar vor Gericht musste. In Hinsicht auf die Zuverlässigkeit einer Zellenbelegung konnte es sich aber immer nur um eine Momentaufnahme handeln, die sich bei jeder Verlegung und jedem Zugang ändern würde.
Später war über den Kalfaktor zu hören gewesen, dass der erkrankte Gefangene, der den Aufruhr ausgelöst hatte, das zuerst verweigerte Medikament dann doch noch erhalten hatte.
Seit Wochen gab es jeden Mittag statt einer wässrigen Weißkohl- oder Spinatsuppe dick zusammengekochte Bruchnudelpampe mit brauner Mehlsoße. Jeden Tag, wenn die großen aus Armeebeständen ausgemusterten Thermoskübel auf den Treppenabsatz krachten, um dann auf diesem kleinen Karren zum Austeilen der Nahrung von Tür zu Tür den Gang entlang transportiert zu werden, hofften die Gefangenen auf eine Abwechslung, wohl wissend, dass es eine müßige Hoffnung war.
Kartoffeln, hatten Totila und Sebastian gehört, habe es schon seit Anfang März nicht mehr gegeben. Sebastian dachte dabei an zu Hause. Auch dort waren die zugeteilten Einkellerungskartoffeln für die ganze Familie immer schon im April, spätestens im Mai, zu Ende gegangen.
Wenn es auch Tag für Tag die immer gleiche klebrige Bruchnudelpampe gab, zuvor zusammengefegt in einer Cottbuser Nudelfabrik, galt die Nahrungsausgabe allen Gefangenen auch als Zeitmesser, als Uhr … Wer jeden Tag im wesentlichen auf einem Hocker sitzend zu verbringen hatte und das wochen-, monate- und jahrelang, unter extrem beengten und hygienisch mehr als nur fragwürdigen Verhältnissen, für den war das Austeilen der Nahrung eine Zäsur, deren Bedeutung über die pure Ernährung hinausging.
Die Zuteilung eines monatlichen Briefes von zwanzig Zeilen an Angehörige auf einem vorgedruckten DIN A5-Bogen war keine Selbstverständlichkeit, sondern galt als eine an Auflagen geknüpfte Gewährung. Das war auch Sebastian und Totila schon vor ihrem ersten Brief von Kommandoleiter Wollny klar gemacht worden. Jeder Brief durchlief eine Zensur, wurde also in der Strafvollzugsverwaltung gelesen. So durfte etwa über Krankheiten in der Anstalt, vor allem aber auch über eigene Erkrankungen, im Brief nichts erwähnt werden. So was galt als Anstaltsangelegenheit wie auch die Verpflegung, die Unterbringung, die Behandlung, die ganzen Alltäglichkeiten …Wer das in seinem Brief nicht strikt beachtete, durfte ihn, aber dann auch nur ausnahmsweise, noch einmal schreiben. Bei erneuten Beanstandungen, und solche waren leicht zu finden, gab es keinen Brief mehr.
Wieder einmal hockten Sebastian und Totila vor den Zellen an einem Tischchen auf einer der drei Brücken über dem Lichtschacht, um ihren Zwanzig-Zeilen-Brief an die Angehörigen zu verfassen. Auf der Zelle zu schreiben war, aus welchen Gründen auch immer, nicht gestattet.
„Ich weiß einfach nicht was ich hier schreiben soll …“, sagte Sebastian, dazu schob er den Briefbogen von sich.
Auch Totila saß brütend da und drehte den Bleistift zwischen den Fingern. „Wir müssen halt schreiben, dass es uns gut geht …“ „Den Umständen entsprechend“, unterbrach Sebastian.
„Ja klar“, Totila nickte. „Ist ja einerseits logisch, andererseits stellt sich aber auch die Frage, ob sie das durchgehen lassen.“
Sebastian schüttelte den Kopf. „Also den Umständen entsprechend“, sagte er.
„Ich denke, ein langjähriger Zuchthausaufenthalt ist doch wohl ein einleuchtender Umstand. Wir schreiben doch nicht aus einem Genesungsheim.“
„Du hast ja recht, aber den Umständen entsprechend klingt doch irgendwie kritisierend.“
„Ach Quatsch, dann sollen die mir den Brief eben wieder zurückgeben. Ich probiers jedenfalls.“ Totila zuckte mit den Schultern. „Versuchs einfach, wenn du meinst … Wichtig ist aber, dass die sich zu Hause nicht zu große Sorgen machen.“
Sebastian schob die Lippen vor und wiegte den Kopf. „Besonders dick auftragen“, sagte er, „müssen wir deshalb hier aber auch nicht.“
„Brauchen wir ja nicht“, antwortete Totila.
„Ja aber, wenn ich schreibe mir geht es gut, dann ist das keine halbe Zeile.“
Totila schüttelte grinsend den Kopf. „Mann“, sagte er, „lass dir was einfallen, du kennst doch genug Füllwörter und schreibst nicht zum ersten Mal so einen Brief. Frag’ einfach an wie’s den Geschwistern geht oder wohin dein Vater seinen Bienenwagen zur Akazientracht gefahren hat. Ich glaub’ so heißt das doch oder?“, fügte er hinzu und sah Sebastian an.“ Frag auch, was die Oma macht.
Ein richtiger Briefwechsel wird das hier sowieso nie.“ Sebastian nickte: „Ja, Tracht heißt das bei den Bienen. Also wirklich“, sagte er dann, „unter diesen Bedingungen hier? Ich würde am liebsten gar nicht schreiben.“
„Du spinnst total! Du hast doch die andern Briefe auch alle geschrieben und die zehn Zeilen an deine Christa …“
„Richtig. Die wird ja auch denken ich bin so simpel wie ich schreiben muss. Na ja“, gab er nach kurzem Nachdenken schließlich zu, „mir wird schon irgend ein unverdächtiger Unsinn einfallen.“
„Wenn dir nicht bald was einfällt“, mahnte Totila, „ist die Zeit dafür vorbei. Wir haben höchstens noch ’ne Viertelstunde, dann kommen die nächsten die hier schreiben sollen.“
Beide brachten dann aber die erlaubten zwanzig Zeilen doch noch aufs Papier.
Sebastian auch die zehn Zeilen an seine Freundin Christa, die seine Mutter nach Leipzig schicken würde. Wie seine Freundin Christa nun ihrerseits über die ganze Angelegenheit dachte, konnte sie ihm ja auch nicht mitteilen und er nicht, weshalb das alles so gekommen war. Was für ein Briefwechsel! Seine Mutter würde wohl etwas zur Aufklärung beitragen, aber Missverständnisse waren dabei natürlich fast vorprogrammiert.
„Das wimmelt bei mir nur so von Belanglosigkeiten“, murrte Sebastian schließlich und schnippte den Briefbogen von sich.
„Ich denke“, sagte Totila, „wir müssen uns auf das alles hier erst noch richtig einstellen.“
„Soll das heißen, wir müssen gleichgültiger werden?“
„Vielleicht“, antwortete der Freund.
Immer wieder dachte Sebastian an den Todeskandidaten und den überheblich zynischen Ton als sie ihn weggebracht hatten: „Da wo Sie jetzt hinkommen, brauchen Sie keine Sachen mehr …“ Im Krieg Jagdflieger, verheiratet und zwei Kinder, die noch zur Schule gingen, so verbreitete es sich auf Station vier. Die MIK 15: Dank dieses Mannes wusste man im Westen nun gut über das Bedrohungspotential dieser sowjetischen Maschine Bescheid. Tropfen für Tropfen sagte Sebastian sich, höhlt mit der Zeit auch den festesten Stein.
In der Zelle war es still geworden, alle dösten auf ihren Schemeln vor sich hin.
Sebastian bewegte das Schicksal dieses Fluglehrers, wenn er dabei noch an die Empfindungen seines eigenen Traums dachte. Der einsame Gang zum Fallbeil, umgeben von Kälte und Tod: Für ihn nur ein Alptraum, doch der andere, der Fluglehrer, war ihn wirklich gegangen, diesen Weg …
Langsam lief Sebastian im schmalen Spalt zwischen den Betten auf und ab: Vier Schritte zum Fenster, kehrt, vier Schritte zurück, kehrt, vier Schritte zum Fenster … hin und her, ganz gleichmäßig wie ein großes Pendel in einem Uhrwerk und dazu das regelmäßige Knarren eines Dielenbretts. Sebastian bemerkte, dass er kurz davor stand in etwas wie Trance zu verfallen. Dresden, sagte er sich … Dresden, Hitler und die Guillotine. Tod und Verderben … Wie mochte dem Fluglehrer dort zumute gewesen sein … Alles Streben, Wollen, Können, alles Lieben, alle Schönheit, würde für ihn dort zu Ende gehen. Und die fanatische Blödheit der Menschen um ihn her, die ihn zum Tode bringen würden, kalt und selbstgerecht. Ein kurzer