Das aureanische Zeitalter IV: Vorstoß nach Terra. Alexander Merow
Nun, hier hatten wir eine Menge Glück, aber das wird nicht von Dauer sein.“
Leukos sprang auf. „Dann gebt mir einen Rat, mein Freund! Bitte, ich weiß nicht, wie ich vorgehen soll!“
„Nehmt Euren Kastenbrüdern das Essen vom Teller, lasst sie hungern und frieren. Zerstört den Wohlstand! Das ist notwendig, um sie aufzuwecken“, meinte Shivas.
„Soll ich Agrarkomplexe und Wasserspeicher vernichten? So wie es Nero Poros, dieser Verrückte, getan hat? Statthalter, dann werden mich alle, die mich Dank Sobos Propaganda schon jetzt für einen Bösewicht halten, nur noch mehr hassen“, erwiderte Leukos mit ungläubigem Blick.
„Denkt nicht zu kompliziert, Oberstrategos. Denkt einfach, wie das einfache Volk. Niemand verlangt von Euch, dass Ihr die Nahrungsmittelversorgung sicherstellt. Kein Aureaner wird von Euch erwarten, dass Ihr seine Wohnung mit Energie versorgt. Nein, das ist die Aufgabe des Kaisers und seiner Diener“, erläuterte Shivas.
„Davon halte ich nichts.“ Der terranische Feldherr schüttelte den Kopf.
„Umso länger die Versorgungskrise dauert, umso mehr werden die breiten Massen eine Wut auf den Imperator entwickeln – nicht auf Euch. Ihr seid ein Rebellenführer, von Euch erwarten sie nichts außer Chaos und Unruhe. Sobos und seine Optimaten aber haben ihnen Wohlstand, gefüllte Bäuche und Wärme versprochen. Sie werden unsere Feinde dafür verantwortlich machen, dass es ihnen schlecht geht.
Dann allerdings, wenn die Verwirrung groß genug und die Krise nachhaltig ist, müsst Ihr dafür sorgen, dass sie in Euch einen Retter sehen. Nehmt ihnen zuerst das Essen vom Teller, damit ihr ihnen anschließend die Rettung versprechen könnt.“
„Woher habt Ihr derartige Ideen, Statthalter? Sie sind äußerst gerissen“, wunderte sich Leukos. Er war nach wie vor skeptisch; seine Stirnfalten wurden tiefer.
„Mander Paathlandt, Geist und Instinkt der Massen“, antwortete Shivas trocken.
„Ha! Einer der wenigen Klassiker, die ich noch nicht gelesen habe“, meinte Leukos mit einem verhaltenen Lächeln.
„Ein frühes Werk des großen Denkers, sehr lesenswert. Studiert es, Oberstrategos. Ihr werdet viele gute Ideen darin finden.“
Das Lächeln des terranischen Heerführers begann sarkastisch zu werden. „Dann meint Ihr also nicht, dass der gewöhnliche Aureaner auf dem Mars oder auf Terra für die altaureanischen Tugenden, den Fortbestand des heiligen Reiches und die Zukunft unserer Kaste streiten wird?“
Shivas grinste noch sarkastischer zurück, um dann zu erwidern: „Der gewöhnliche Aureaner wird überhaupt erst reagieren, wenn er kein Essen mehr auf dem Teller hat. Denkt niemals zu kompliziert, wenn Ihr mit der breiten Masse umzugehen gedenkt.“
„Sie wird es nicht herausbekommen, Princeps. Jetzt nimm endlich den verdammten Neurostimulator und verpass dir ’ne kleine Dosis Glück“, zischte Kleitos genervt, um seinem Freund daraufhin ein kleines, unscheinbares Gerät zuzuschieben.
„Wenn ich nicht klar im Kopf bin, dann wird es Eugenia sofort auffallen. Ich habe keine Lust auf Ärger, sie hasst diese Dinger“, antwortete Flavius. Er sah sich verstohlen um; dann griff er nach dem Neurostimulator.
„Morgen sind wir vielleicht schon alle tot, scheiß was drauf“, meinte Kleitos, der sich schon drei Wellen Glücksgefühle in den Schädel gejagt hatte. Der bullige Soldat grinste benebelt und schlug seinem Kumpel mit der flachen Hand auf die Schulter.
„Was soll’s …“, sagte Flavius und aktivierte den Neurostimulator. Für einige Sekunden überlegte er noch, ob er ihn wirklich benutzen sollte, doch dann wurde er schwach. Das Verlangen nach berauschenden Glücksvisionen und Gefühlswogen siegte.
Die feinen Sensordrähte des Geräts berührten die Nasenschleimhäute; Flavius ließ die wohltuenden Nervenimpulse fließen. Leise stöhnte er auf. Es war großartig. Plötzlich tanzten bunte Pünktchen vor seinen Augen, während die Welt um ihn herum zu verschwimmen begann.
„Herrlich!“, stieß der Kohortenführer aus, wobei er ein leises Kichern nachschob. Kleitos klopfte ihm noch einmal auf die Schulter, ganz so, wie man es von einem echten Saufkumpan erwartete.
„Gut gemacht, Princeps! Damit sieht alles doch viel rosiger aus, nicht wahr?“, lachte er.
„Ja, ich gebe es zu, einfach nur geil“, murmelte Flavius.
Die beiden Freunde standen im Schatten eines riesigen Habitatskomplexes in einem der schäbigen Wohnviertel am Stadtrand von Lethon. Hinter ihnen ragten klobige Industriebauten in den Himmel, doch in der Straße, in die sie sich zurückgezogen hatten, um sich der Neurostimulation hinzugeben, befanden sich bloß ein paar abgerissen aussehende Gestalten. Diese taten jedoch so, als würden sie nichts hören und sehen.
Es war um die Mittagszeit. Eugenia arbeitete seit einigen Monaten in einem der Hospitalkomplexe im Norden der Stadt, während Flavius meistens mit Kleitos herumhing und sich irgendwie zu beschäftigen versuchte. Für die terranischen Legionäre gab es im Moment nicht viel zu tun, aber das war auch gut so, meinte Princeps.
„Hier wohnen nur Ukas, ist schwer dreckig überall. Fast wie bei den Ungoldenen“, bemerkte Jarostow und deutete auf den Unrat, der den von einem trüben Licht beschienenen Straßenzug übersäte.
„Ukas?“, wunderte sich Flavius.
„Unterkastenaureaner, Leute aus den untersten Subkasten, meine ich. So nennt man die bei uns in Skantlant“, kam zurück.
„Diesen Begriff kenne ich nicht, aber egal. Jedenfalls nehme ich noch einen Schub Glücksgefühle“, sagte Princeps mit einem benommenen Schmunzeln. Er torkelte vor und zurück; dann lehnte er sich an einen großen Betonpfeiler und aktivierte den Neurostimulator erneut.
„Das knallt, was?“
„Wirklich heftig!“ Princeps fasste sich leise brummend an die Stirn.
„Nachher gehe ich noch in die Innenstadt. Einer von den thracanischen Legionären hat mir erzählt, dass es da so eine Adresse gibt, wo man ein wenig Spaß haben kann“, merkte Kleitos mit vielsagendem Blick an.
„Hä? Wie?“
„Weiber, Princeps! Nummer schieben!“
„Ach, so!“
„Willst du mit?“
Flavius reagierte mit einer energischen, abweisenden Handbewegung. „Nein, auf keinen Fall!“
„Wegen Eugenia?“
„Ja, natürlich wegen Eugenia.“
„Das sind nur Nutten, alle gehen da hin. Ist doch egal“, fand Kleitos.
„Nein, auf gar keinen Fall. Das kann ich nicht tun“, wehrte sich Princeps, wobei er Mühe hatte, noch einen klaren Gedanken zu fassen.
„Musst du wissen, Alter. Jedenfalls geht Manilus da auch hin. Aber mir soll es egal sein. Vielleicht sind wir bald schon alle tot. Dann will ich vorher wenigstens noch etwas Spaß gehabt haben“, sagte Jarostow.
„Wenn ich nicht mit Eugenia zusammen wäre, dann käme ich auch mit“, antwortete ihm Flavius.
Kleitos lachte schallend auf. „Weißt du, mir ist inzwischen alles scheißegal, mein Freund. Wahrscheinlich krepieren wir in naher Zukunft. Da hilft uns auch kein Buch von Malogor oder irgendetwas anderes. Aureanische Kaste und Goldenes Reich und der ganze Mist – ich bin Kleitos Jarostow, ein dummer, kleiner Soldat aus Wittborg. Und ich gehe heute eine Nummer schieben und haue mir nachher noch mehr Drogen und Neuroschübe rein. Mich wird keiner vermissen, außer vielleicht meine Eltern und mein Bruder. Aber die sehe ich sowieso nie mehr wieder.“
Nahender Aufbruch
Aswin Leukos und Magnus Shivas, die beiden Freunde, deren Abschied mit jedem verstreichenden Tag näher rückte, wirkten wie zwei Staubkörner zwischen den vielen Raumschiffen, die