Eine färöische Kindheit. Amy Fuglø

Eine färöische Kindheit - Amy Fuglø


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Sigrid zählte. Schwester redete wie eine Erwachsene mit Mutter, sie redeten über ihren Kopf hinweg. Sigrid lauschte mit offenen Ohren, still und wissbegierig, sie hatte ein angeborenes gutes Erinnerungsvermögen. Im Tal angekommen, hatten die Jungen, Henry, Ness und Aksel, bereits das Schafsfleisch und Brot hervorgeholt, denn sie hatten immer einen Bärenhunger. Das Essen gab ihnen die Energie, die sie für einen Tag wie diesen brauchten.

      Im Tal, hinter dem Malinsfjall, besaß Jóanis ein großes Stück Land, das er von seinem Vater, dem Bauern Janus, bekommen hatte. Es war ihr eigener Torfboden. Unter den Grassoden gab es erstklassige, feine Torferde. Der Torf musste immer im Frühjahr – Mai, Juni – gestochen werden. Es war so schwer, dass nur die Männer genug Kraft zum Torfstechen hatten. Sie waren vor einigen Tagen hier gewesen und hatten die Torfstücke in große Stapel gelegt, damit etwas von der Feuchtigkeit herausziehen konnte. Henry durfte dieses Jahr bei den Männern sein. Er war mit zwölf Jahren alt genug zum Torfstechen, und er fühlte sich erwachsen.

      Erst wurde die oberste Grasschicht mit einem speziellen Spaten abgeschält. Danach wurde die nächste Schicht, die Torfschicht, vorsichtig mit dem Spaten in viereckige Torfstücke geteilt. Das Torfmoos war feucht und weich. Heute war es also die Aufgabe von Jóanis’ Familie, den Torf zum Trocknen auf den Rasen zu legen. Der Torf wurde dorthin gebracht und in gerade, ordentliche Reihen gelegt.

      Schwester war hinter ihren Geschwistern her, ständig ermahnend.

      „Seid vorsichtig und passt auf, dass der Torf nicht zerbricht.“

      Sie sah ihre Geschwister streng an.

      Ness schaute auf ihre gerunzelte Stirn und neckte: „Hygg nú illsinnabitin, hann hongur so síður í dag.“ Übersetzt etwa: „Seht die Zornesfalte (die Falte zwischen den Augen), heute sitzt sie sehr tief.“

      Dann runzelte Schwester die Stirn noch mehr und versuchte, ihn zu fassen zu bekommen, doch lief er gewandt davon und erblickte ein laut krächzendes Tjaldurpärchen. Tjaldur ist ein Austernfischer, der Nationalvogel der Färöer, weshalb ich ihn in der Regel so bezeichne: Tjaldur.

      „Kommt her, sie haben bestimmt Junge!“, rief er, und die Kinder beschlossen, nebeneinander in einer Reihe zu gehen, um das Nest mit den Eiern oder Jungen zu finden. Die erwachsenen Vögel schimpften. An einer Stelle lagen Kieselsteine zwischen Grasbüscheln. Dort waren drei frisch geschlüpfte, gräuliche Junge, die direkt auf den Kieselsteinen in einer kleinen Vertiefung, die das Nest bildete, lagen. Die Tarnung war hervorragend, sie ähnelten den Kieseln, hatten die gleiche gefleckte Farbe. Die Kinder freuten sich über die niedlichen flauschigen Vogelkinder, von denen zwei ganz trocken waren. Es war eine Art Hobby, Nester mit Eiern oder Jungen zu finden. Bald würden die Kleinen überall im Gras herumlaufen, während die Elternvögel sie verteidigten, auf sie aufpassten und fütterten.

      Alle sechs arbeiteten mehrere Stunden lang angestrengt. Anna richtete ihren steifen Rücken und schweren Körper auf. „Kinder, es ist Zeit fürs Mittagessen!“

      Die Sonne schien vom blauen Himmel herab, einer der wenigen, fast wolkenlosen Tage des Jahres. Die leichte Brise aus dem Westen erreichte nicht das Tal im Osten, hier war es warm und still. Die Sonne hatte die Steine erwärmt, alle setzten sich auf einen warmen Stein.

      Anna seufzte, sie war immer müde.

      „Mama, ruhen Sie sich nachher ein wenig aus.“ Schwester kümmerte sich fürsorglich um ihre Mutter. Sie wusste, dass diese immer voller Schwung war und bemerkte ihre Müdigkeit. Alle blickten liebevoll zu ihrer Mutter.

      „Ja“, erwiderte Anna, „eine kleine Pause wäre schön.“

      Nach der Mahlzeit legte sie sich auf einen großen, warmen, flachen Stein auf die Seite. Sie zog den Pullover aus und legte ihn sich unter den Kopf. Die Kinder wollten hart arbeiten und sie damit überraschen, wie viel sie schafften, während sie schlief. Sie liebten ihre Mutter.

      Lang lebe die Neugier. Die Kinder gingen im Torfgebiet auf Entdeckungstour, dort, wo die Männer gegraben hatten. Hier gab es deutliche Spuren von Bäumen. Sie gruben und zogen, bekamen einen großen Ast oder eine Wurzel zu fassen. Wo kam das her? Auf den Färöern gab es keine Bäume, keine Äste, keine Baumwurzeln. Wie konnte ein Baum hierher gelangen, hoch oben auf dem mit Gras spärlich bewachsenen Berghang, ins Tal? Warum konnte Torf brennen, Erde aber nicht? Torf besteht aus gepressten Pflanzenresten.

      Die Kinder hatten noch nie einen Baum gesehen. Der Pflanzenbewuchs reichte ihnen nicht über die Knöchel. War der Berghang einst von großen Wäldern bedeckt gewesen? Sie wunderten sich, ohne zu philosophieren, sie akzeptierten ganz einfach, dass es so war, es gab so viel Unerklärliches.

      Am ersten Tag bestand die Arbeit darin, alle Torfstücke auf dem Gras auszubreiten, ohne dass sie sich berührten – wie ein dichter Teppich. Der Wind sollte durchziehen können. Sie erhielten ihre flache, gerade Form, da sie auf flachem Untergrund trockneten.

      Anna spürte die Wärme vom Stein, es war herrlich, Freude durchströmte sie. Sie dachte an die Arbeit im Torf und an die Kinder.

      Beim nächsten Mal musste der Torf auf der Seite liegen, von einem Torfstück gestützt. Ein paar Tage später, also beim dritten Mal, musste er gewendet und auf die andere Seite gelegt werden. Mehrere Torfstücke dienten als Stütze mit viel Luft dazwischen. Die feuchte Seite musste immer nach außen und nach oben gekehrt sein. Beim vierten Mal wurde der ganze Torf gewendet und in größeren Gruppen auf die Seite gelegt, wieder mit Luftdurchzug. Jedes Mal bildeten die Torfstücke eine gerade, gleichmäßige Reihe, ein kunstvolles, symmetrisches Muster, genau wie die feinen Muster der gestrickten färöischen Pullover. Der Torf im Tal veränderte von Mal zu Mal sein Muster.

      Die Vögel sangen, die Sonne wärmte, Anna schlief, und die Kinder schufteten.

      Schwester ruhte sich eine Weile aus, setzte sich und schaute auf ihre schlafende Mutter und arbeitenden Geschwister. Sie blickte über den Atlantik, der die Unendlichkeit des Himmels widerspiegelte, und deshalb einen Ton dunkelblauer als die Luft war. Sie mochte Blau und den Frieden der Natur. Ihre Augen richteten sich zum Bergkamm, der das Tal umgab. Sie glitten vom Malinsfjall, der sich hier nach Westnordwest wendete. Sie folgten dem Grat Richtung Westen und Süden, bis er südöstlich vor ihr ins Meer abfiel. Das letzte Stück war vor ihren Blicken verborgen, da sie im Tal saß und die Klippen an der Küste nicht sehen konnte. Nach Südwesten war der Kamm flach. Dahinter konnte man in das nächste Tal gehen. Weit hinten am Ende der Silhouette erweckte ein dunkler Stein ihr Interesse. Nein, das war kein Stein, denn er bewegte sich und war viel größer als ein Schaf. Was war das? Plötzlich war sie von Angst erfüllt.

      „Henry! Henry! Was ist dort drüben?“, rief sie und zeigte entsetzt dorthin. Alle hörten auf zu arbeiten.

      „Das ist tarvurin, der Stier“, sagten Ness und Aksel gleichzeitig, grinsend. Sie wussten, dass Schwester sehr große Angst vor Stieren hatte. Ihr Blut gefror zu Eis und sie schrie: „Mama! Mama! Sehen Sie! Der Stier!“

      Anna sprang mit gewaltigem Herzklopfen auf, sie hatte gerade so schön geträumt.

      „Oh, Jesus! Oh Jesus!“, rief sie laut. Man rief immer zu Jesus und Gott, wenn man Angst hatte, das machten alle. Sie fror und schwitzte zugleich. Was sollten sie tun?

      Der Stier war das gefährlichste Tier der Welt. Sie hatte gehört, wie Stiere Menschen aufgespießt hatten. Und sie war allein hier mit fünf ihrer Kinder.

      Sigrid bekam auch plötzlich Herzklopfen. Sie spürte Mutters Angst, eine Angst, die sich in ihr fortpflanzte, die Wurzeln schlug, die Angst der Vorfahren.

      Anna war im Dorf mit den beiden Höfen aufgewachsen. Dort hatte sie als Kind gehört, dass einer ihrer Vorfahren von einem wütenden Stier aufgespießt und übel zugerichtet worden war. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, sich von Stieren weit fernzuhalten. Und seitdem war ihre Angst vor Stieren ihr treuester Begleiter.

      „Oh Jesus! Oh Jesus! Hilf uns!“, rief sie wieder und dann floh sie, lief in die entgegengesetzte Richtung des Stieres. Sie merkte, dass ihr Körper außerstande war zu rennen, es wurde nur ein schneller anstrengender Gang. Sigrid lief zusammen mit ihrer


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