Schicksalsmomente. Stefan Fröhling

Schicksalsmomente - Stefan Fröhling


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      Bei dem Begründer dieser Sekte, Mani (216 – 276), handelt es sich um eine typische Gestalt der Geistesgeschichte des Römischen Reichs in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt. Er mischte aus allen möglichen Strömungen seine Überzeugungen und Kulte zusammen. Aber auch das Christentum war ursprünglich ein religiöser „Schmelztiegel“, ein sogenanntes „synkretistisches Phänomen“51, wie es der Theologe Rudolf Bultmann bezeichnete: Verschiedenste Kulte, Religionen, religiöse Strömungen oder philosophische Lehren wurden in das Glaubenssystem einbezogen oder im Zusammenhang damit diskutiert. In der Spätphase des Römischen Reichs stand alles zur Frage, keine Orientierung war mehr unangefochten vorherrschend – im Grunde wie hierzulande seit 1989, seit dem (auch ideologischen) Ende des Ost-West-Konflikts.

      Ganz am Anfang hatten die ersten Christen auf die Frage, „Woran glaubt ihr eigentlich?“, als Antwort vor allem eine kurze Geschichte parat, die sich im ersten Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth erhalten hat: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien erst dem Kephas, dann den Zwölf.“ (15,3 ff).

      Damit unterschied sich das Christentum freilich von „synkretistischen Sekten“: Auf der Basis einer sehr alten Tradition mit einem tief durchdachten Gottesbild, nämlich dem der jüdischen Schriften („der Schrift“) – selbst von alten Hochkulturen geprägt –, wurde diese Ur-Geschichte über Jesus in der Auseinandersetzung vor allem mit der griechischen Philosophie immer weiter ausgeprägt, und zwar bis zum heutigen Tag. Bis heute arbeiten Theologen wissenschaftlich an der Vertiefung der christlichen Lehre, indem sie Gedankengänge aus Geschichte und Gegenwart aufnehmen bzw. verwerfen. Dass diese Auseinandersetzung nicht nur durch das kirchliche Lehramt, sondern auch durch die theologische Wissenschaft geführt wird, macht wohl die faszinierende geistige Tiefe dieser Weltreligion aus. Selbst den Theologen Joseph Ratzinger reizt es nach wie vor, sich an dieser globalen theologisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung zu beteiligen, und er brachte bis 2012 unter anderem drei Bände über Jesus Christus heraus, auch nachdem er 2005 zum Papst gewählt worden war und sich Benedikt XVI. nannte (2013 zurückgetreten).

      Weil das theologisch-wissenschaftliche Denken im Christentum einen solch hohen Stellenwert einnimmt, verehrt oder schätzt man tiefsinnige christliche Denker. Als die bedeutendsten Theologen auf dem Weg des Christentums durch die Zeiten gelten die sogenannten „Kirchenväter“, zu denen Augustinus vorrangig gehört.

      Augustinus war jedoch anfangs nicht einmal getauft, führte in seinen ersten Studienjahren ein ausschweifendes Leben und diente seinem von ihm so genannten „Selbstgefühl“. Dann gab ihm das erwähnte Buch Ciceros eine neue Richtung für seinen Lebensweg, die ihn zunächst zu den Manichäern führte. Also war auch er, Augustinus, zunächst eine typische Erscheinung des „synkretistischen Schmelztiegels“ in der Spätzeit des Römischen Reiches?

      Zur Beantwortung dieser Frage muss man seinen weiteren Lebensweg verfolgen. Um das Jahr 374 ging er wieder nach Thagaste, aber nicht mehr als Schüler, sondern diesmal als Lehrer der Grammatik und Rhetorik. Jahre später, 389, erschien Augustinus’ nach wie vor lesenswerte Schrift „De magistro“ („Über den Lehrer“) in der er den Lehrer als Anreger zeigt, die menschliche Disposition der Seele wahrzunehmen und zu entwickeln – und das ist von der Sicht eines Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) gar nicht so weit entfernt.52

      Ein Jahr darauf ließ er sich in Karthago nieder. Hier wuchsen mit den Jahren die inneren Zweifel am „manichäischen System“53, die nicht einmal nach seinem Umzug nach Rom 383 ausgeräumt waren. Aber er blieb in Beziehung zu Freunden, „die von der manichäischen Torheit trunken waren“54 und erhielt 384 eine bedeutende Stelle als Magister der Rhetorik in Mailand.

       Mailänder Schicksalsmoment

      Dort stieß er auf den berühmten Bischof Ambrosius (um 339 – 397), der ihn wiederum mit neuen Lehren konfrontierte, nämlich denjenigen des Neuplatonismus, die Augustinus zumindest näher an das Christentum heranführten. Hier ging es um die Bereiche des Seienden nach Platon (um 428 – um 348 v. Chr.), unter anderem um das Verhältnis der „Welt der Ideen“, einer geistigen Sphäre, zur materiellen Welt bzw. zur Seele des Menschen. In dieser philosophischen Theologie konnte Augustinus erkennen, dass nur durch den biblischen Christus das Heil erlangt werden könne. Aber noch war er für das Christentum nicht endgültig gewonnen. Sein Suchen, seine innere Krise verschärften sich in Mailand sogar.

      Dann kam jener berühmte Schicksalsmoment, den Augustinus in seinen „Bekenntnissen“ schildert: „Zu unserer Herberge gehörte ein kleiner Garten […] Da auf einmal höre ich aus dem Nachbarhaus die Stimme eines Knaben oder Mädchens im Singsang wiederholen: ‚Nimm es, lies es, nimm es, lies es!’“55 Augustinus fühlt sich aufgefordert, die nächstliegende Bibel aufzuschlagen und die erste Stelle, die ihm begegnet, zu lesen. Er fand den Vers 13 aus dem dreizehnten Kapitel des Briefes von Paulus an die Römer: „Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht.“

      Augenblicklich „strömte ein Licht“ in sein Herz und er bekehrte sich, es war Anfang August 386, zum Christentum. Er zog sich zunächst auf ein Landgut zurück, um auf mönchische Weise zu leben. Hier gelang es ihm, seine manichäischen Erfahrungen mit dem christlichen Glauben zu verbinden. In der Osternacht des Jahres 387 empfing er in Mailand die Taufe und reiste in Richtung Thagaste ab, um in der Gemeinschaft mit Freunden die begonnene Lebensweise fortzusetzen. Leider war schon vor der Schiffs-Überfahrt seine Mutter Monica verstorben.

      In der nordafrikanischen Stadt Hippo Regius machte er Station, und es wurde mehr daraus – ein letzter, langer Lebensabschnitt. Augustinus wurde gebeten, zuerst als Prediger zu wirken und einige Jahre nach seiner Priesterweihe (Ende 390/​Frühjahr 391) das Amt des Bischofs zu übernehmen (spätestens im August 397).

       Der Bischof und Theologe

      Nach den Jahren des „Selbstgefühls“, einer ersten Lebensphase, und dem inneren Ringen um die Wahrheit, das sich – nach zwei „Schicksalsmomenten“ – mit der Lektüre bestimmter Bücher verknüpfte, kam für Augustinus nun also eine Phase des Wirkens in die Öffentlichkeit hinein, als Seelsorger, Amtsträger und Schriftsteller.

      Seine theologischen Werke entstanden alle nach seiner Bekehrung zum Christentum. Neben frühen Schriften gegen den Skeptizismus, über das Streben nach Glück und zum Problem des Leidens in der Welt, die alle im Jahre 386 erschienen, ging es ihm unter anderem um den freien Willen (388) und einen Kommentar zum ersten Buch der Bibel, der Genesis (begonnen 401). Hier steht wohl einer der weisesten Sätze über das Wesen Gottes: „Gott ist das, was er macht.“56

      Nachdem er sich nun so in die Heilige Schrift vertieft hatte, beschäftigte er sich mit grundsätzlichen Fragen der Textauslegung und ging in seinen „Bekenntnissen“ noch einmal seinen ganz persönlichen, inneren Lebenslinien nach, um sich anschließend, unter dem Eindruck der Eroberung Roms durch die Westgoten 410, mit dem Staatswesen auseinanderzusetzen; denn die letzte geistige „Klammer“ der damals relevanten Welt war mit dem Fall Roms zerbrochen. Ganze vierzehn Jahre, von 413 bis 427, schrieb er an seinem umfangreichsten Werk, dem „Gottesstaat“. Es war „eine Absage nicht nur an das frühere römische Gottkaisertum, sondern auch an jeden Versuch, es in christlicher Metamorphose wieder erstehen zu lassen. Die Abgrenzung vom konstantinischen Staatskirchentum war deutlich.“57

      Vielleicht glaubte er außerdem, mit diesem Thema, wenige Jahre vor seinem Tod in Hippo Regius (430), mit männlicher Altersweisheit eine Synthese von abstraktem theologischem Denken einerseits und Wirken für die ganz konkrete Gesellschaft, ihre Bedürfnisse, Leiden und Bestrebungen andererseits, gefunden und dadurch wahre Größe erreicht zu haben.

      In diesem Buch heißt es: „Wer vermag uns zu trösten in den menschlichen Beziehungen voller Fehler und Mühsal, außer Treue und gegenseitiger Zuneigung unter wirklich guten Freunden?“58

      


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