Fjodor M. Dostojewski. Rainer Buck
Quantum Zeit auf dieser Erde, zerronnen. Könnte man doch noch einmal zurückgehen, noch einmal Freiheit atmen, souveräne Entscheidungen treffen, Pläne schmieden, Bekanntschaften schließen. Es gäbe noch so vieles zu denken, zu tun, zu schreiben!
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Was sich da am 22. Dezember 1849 auf dem Semjonow-Platz in Sankt Petersburg abspielte, war eine grausame Komödie, die einen der 15 zum Tode Verurteilten sogar für immer in den Wahnsinn getrieben hat. Uns wurde das Todesurteil verlesen, man gab uns das Kreuz zum Kuss, über unseren Köpfen wurde das Schwert gebrochen, und wir wurden fürs Begräbnis eingekleidet, wird Fjodor Dostojewski am Abend desselben Tages in einem Brief an Michail die eigene Hinrichtung beschreiben. Endlich wurde alles abgeblasen, diejenigen, die schon an die Pfähle gebunden waren, wurden zurückgebracht. Dann wurde uns das Urteil verlesen, dass seine Majestät der Kaiser uns das Leben geschenkt habe.
Diese Scheinexekution war in dem an Dramatik reichen Leben Dostojewskis die sicher extremste Erfahrung. Ein auf Dramaturgie bedachter Autor würde daraus vielleicht einen Wendepunkt machen, aber das wirkliche Leben ist komplizierter. Dieser quälende Morgen, der ihn in Eiseskälte dem Tod entgegensehen ließ, machte Dostojewski zunächst einmal bewusst, wie kostbar Zeit sein kann. Aber sogleich war ihm klar, dass er auch als „Begnadigter“ noch nicht wieder im richtigen Leben angekommen war. Zehn Jahre Haft und Verbannung warteten auf ihn, die ersten vier im sibirischen Straflager. Viel mehr als das nackte Überleben würde er sich nicht zum Ziel setzen können. In der nächsten Zeit wäre er aller Möglichkeiten beraubt, die einem Schriftsteller eine Perspektive boten. Und das, obwohl er doch so voller Gedanken und Pläne war, Wichtiges und Wertvolles aufzuschreiben hatte. Würde das Zuchthaus seine Ideen nicht im Existenzkampf absterben lassen? Zwischen Angst, Niedergeschlagenheit und verbissener Hoffnung bewegten sich seine Gedanken. Zwei Tage später sitzt er in Ketten auf einem offenen Pferdeschlitten und tritt eine Reise ins Ungewisse an.
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Wir wissen es heute: Dostojewski wird noch die Zeit zur Verfügung haben, das literarische Versprechen einzulösen, das er bereits 1846 mit seinem Roman „Arme Leute“ abgegeben hatte und das die meisten seiner in rascher Folge erschienenen Werke bestätigten.
Seine bedeutendsten Romane, die bis heute seinen weltweiten Ruhm begründen, standen noch aus, und sie bezogen ihre Tiefe und ihr Gewicht zu einem guten Teil aus den außergewöhnlichen Erfahrungen, die dem Autor durch Straflager, Verbannung und die daraus resultierenden Folgen auferlegt wurden. In der ihm aufgezwungenen angsteinflößenden Gesellschaft von Dieben und Mördern studierte er die Abgründe der menschlichen Seele. Später stürzte er sich in verzweifelte Beziehungen zu Frauen. In der Sehnsucht nach finanzieller Unabhängigkeit verfiel er der Spielsucht. Was er durchlebte und durchlitt, verarbeitete er zu Geschichten, in denen er die hintersten Winkel der menschlichen Existenz und die Abgründe der Seele durchleuchtete. Zuweilen schien er nur ein Chronist der Absurdität des menschlichen Strebens zu sein, doch besonders im letzten Jahrzehnt seines Lebens wurde er für viele Zeitgenossen zu einem prophetischen Hoffnungsträger.
Es ist lohnend, sich mit dem Leben Dostojewskis zu befassen, bekommt man damit doch einen Schlüssel zu einem besseren Verständnis einiger der faszinierendsten Bücher der Weltliteratur, die bis zur Gegenwart nichts an Aktualität eingebüßt haben. Dostojewski ist heute noch relevant, weil sich zentrale Existenzfragen nicht ändern. Das Gefälle zwischen Arm und Reich ist nicht überwunden, Normen und wirtschaftlicher Druck schaffen auch in unserer heutigen Gesellschaft „Erniedrigte und Beleidigte“ (so der Titel eines Dostojewski-Romans). Außerdem wirft eine gefallene und bedrohte Welt, in der Millionen Unschuldiger unter den Folgen von Willkür und Machtmissbrauch leiden oder wegen ihrer Armut zugrunde gehen, immer noch die Frage auf, die Dostojewski zeit seines Lebens umgetrieben hat: ob es denn wirklich einen Gott geben kann, der dem Elend seit Beginn der Menschheitsgeschichte seinen Lauf lässt?
Dostojewski hat in seinen Büchern einem Nihilisten wie Friedrich Nietzsche Rollenmodelle geboten, er hat für Sinnsuchende bis in unsere Gegenwart Projektionsfiguren geschaffen, und er hat eindrückliche Charaktere kreiert, in denen sich der Abglanz einer höheren Liebe spiegelt. Das vermochte er, weil er selbst ein beharrlicher Wahrheitssucher war. Er schaffte dabei den Spagat, einerseits alles zu hinterfragen, sich zugleich aber unerschütterlich zu seiner Faszination von der Lehre und der Person Jesu Christi zu bekennen.
Sensibel gegenüber den Widersprüchen zwischen dem Evangelium und dem, was Christen im Leben daraus machen, befürchtete er unentwegt, im Glauben einer Illusion zu unterliegen. Allerdings markierte er für sich einen klaren Standpunkt: Falls man einmal feststelle, dass zwischen dem Jesus der Evangelien und der Wahrheit eine Kluft sei, wolle er auf der Seite Jesu stehen, bekannte er im Jahr 1854 in einem Brief an Natalia Fonwisina, die Frau, die ihm Jahre zuvor auf seinem Weg ins Straflager bei Omsk ein Neues Testament geschenkt hatte.
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„Einzig das Erlebnis führt Dostojewski zu“, schrieb der Schriftsteller Stefan Zweig über den von ihm bewunderten Kollegen, „… je tiefer wir uns in ihn versenken, desto tiefer fühlen wir uns selbst. Nur wenn wir an unser wahres allmenschliches Wesen hinangelangen, sind wir ihm nah.“
Der katholische Theologe Eugen Drewermann, ein leidenschaftlicher Anwalt christlicher Wahrhaftigkeit und ein beharrlich Hinterfragender aller Dogmen, bestätigt Zweigs Auffassung: „Man braucht den Hintergrund der gleichen Not, des gleichen Suchens und der gleichen Sehnsucht, um Dostojewskis Art, die Welt zu sehen, als ‚notwendig‘ im wahrsten Sinn des Wortes zu begreifen … Man kann an seinem Werk auf viele Jahre so seelenruhig vorbeigehen wie an … dem Sprechstundenschild eines Arztes; doch irgendwann ist es so weit: Da braucht man ihn und findet ihn als einen längst bekannten, vertrauten Gefährten, Freund, Begleiter, Helfer.“
Ich führe diese beiden Stimmen an, weil sie mir erklären helfen, was mich persönlich an Dostojewski bindet. Als ich einmal im literarischen Kosmos des Dichters Fuß gefasst hatte, wurden „diese russischen Nächte mit ihren endlosen Monologen, fiebrigen Phantasien und paranormalen Charakteren“ (Drewermann) zum wirklichen Erlebnis, zum Spiegelbild eigener Grübeleien, Phantasien und Sinnfragen.
Ich fühlte mich durch Dostojewski nicht in meinem Bedürfnis nach Unterhaltung und Zerstreuung gepackt, sondern spürte, dass ich mich urplötzlich in einem inneren Dialog mit ihm wiederfand, bei dem es um existenzielle Fragen ging. Ich war von Dostojewskis „Karamasow“-Roman stellenweise ähnlich ergriffen wie von Bibeltexten mit ihrem Wahrheitsanspruch.
„Von nichts anderem wirklich kann ein Mensch leben als von dem Vertrauen, trotz allem umfangen zu sein von etwas, das er nicht kennt, noch beweisen kann und das ihn doch besser kennt als er sich selbst und das ihn doch als berechtigt erweist inmitten einer Welt sonst unauflösbarer Widersprüche“, schreibt Drewermann. Dieses Vertrauen, Christen sprechen gewöhnlich vom „Glauben“, wird in Dostojewskis Büchern härtesten Belastungen ausgesetzt, jeden Schutzes durch dogmatische Festlegungen beraubt, auf Senfkorngröße geschrumpft – und kann gerade dadurch so mächtig und erschütternd wirken. Ich will versuchen, in diesem Buch einige Belege dafür zu liefern, wobei es nicht darum geht, Dostojewski auf die Rolle eines christlichen Denkers zu reduzieren oder ihn als „Visionär“ zu überhöhen.
In meiner Begeisterung über seine Romane hatte ich früher erwartet, in Dostojewskis Lebensgeschichte, in seinen Briefen und in seinen Aufsätzen einem geistigen Titanen zu begegnen. Aber da stößt man auf viel Profanes, das einen ernüchtert. Man ist von der Persönlichkeit Dostojewskis vielleicht gar enttäuscht, wenn man nicht bereit ist, die menschliche Existenz generell an einem Maßstab zu messen, der gnädiger ist als die propagierten Bewertungsraster unserer Leistungsgesellschaft. Festzustellen, dass auch ein Dostojewski Kind seiner Zeit und bisweilen Opfer seiner Verhältnisse ist, muss ihn uns jedoch nicht weniger eindrucksvoll erscheinen lassen.
Natürlich würde ich mich freuen, wenn ich mit meiner kleinen Studie einige Leserinnen und Leser zu einer persönlichen Begegnung mit zumindest einzelnen Werken Dostojewskis ermutigen könnte. Jenen, die Bücher von ihm gelesen haben, indes seine Biografie nicht kennen, kann ich außer der eingangs geschilderten Szene einige weitere spannende Episoden versprechen. Für diejenigen, die mit Dostojewski vertraut sind, ist dieses Buch zwar nicht vornehmlich geschrieben, doch ich hoffe, sie finden darin ebenfalls