Fjodor M. Dostojewski. Rainer Buck
aber doch pflichtbewusst. Die Fertigkeiten für eine spätere Berufsausübung kann er sich durchaus aneignen. Die Briefe an seinen Bruder zeigen jedoch sein Leiden am streng reglementierten Alltag. In der Schule wird er zum Außenseiter. Er beklagt die Oberflächlichkeit seiner Kommilitonen und ihre einseitige Orientierung auf die nette einträgliche Stellung. Zugleich repräsentieren sie für ihn die Herzenshärte einer militärisch geprägten Gesellschaft: Alles, was gerecht, aber gedemütigt und verfolgt war, verachteten sie, schreibt er in seinen späteren Erinnerungen.
Fjodor beißt sich durch, und da sein Gerechtigkeitsempfinden hochgradig ausgebildet ist, setzt er sich bei mancher Gelegenheit für jüngere Schulkameraden ein, wenn sie als Neuankömmlinge von den Älteren gequält werden. Er ist ein nicht beliebter, aber immerhin geachteter Mitschüler. In seinen Briefen an den Vater, in denen er um Geld bittet, kommt die Sorge zum Ausdruck, nicht mit den anderen mithalten zu können, was Kleidung und Lebensstil betrifft. Dünnhäutig registriert er Demütigungen, die ihn selbst treffen, und reagiert zugleich mitfühlend, wenn ein anderer zum Opfer von Spottlust erkoren wird. Die selbst erfahrenen Situationen der Scham machen ihn hochgradig sensibel für die Rituale von Über- und Unterordnung, die die gesellschaftlichen Konventionen seiner Zeit durchdringen.
Der Vater kann, selbst wenn er wollte, nicht viel für die Söhne tun. Ihm haftet nunmehr der Ruf an, als typischer poméschtschick (Gutsbesitzer) das Leben eines Wüstlings, Trinkers und Tyrannen zu führen. Nach seinem jähen Tod im Juni 1839 heißt es, die eigenen Leibeigenen hätten ihn umgebracht. Dies wird bis heute so kolportiert. Allerdings attestiert die von zwei Ärzten unterschriebene Sterbeurkunde einen tödlichen Schlaganfall.
Dostojewski hat sich zu keiner Zeit viel über seinen Vater geäußert. Er mag wohl über sich selbst erschrocken gewesen sein, wie wenig Trauer er über den Verlust empfand. Dass ihn das Thema ambivalenter Vater-Sohn-Beziehungen bis ins Alter stark beschäftigt, zeigt unter anderem die problematische Vaterfigur in seinem letzten Roman „Die Brüder Karamasow“. Der Tiefenpsychologe Sigmund Freud versucht in einer Studie über Dostojewski dessen verborgene Gedanken an einen Vatermord nachzuweisen. Allerdings spricht Dostojewski in den überlieferten Briefen an den Bruder immer respektvoll über den Vater, und auch die Zeugnisse anderer Geschwister deuten darauf hin, dass Michail Andrejewitsch Dostojewski in vielen späteren Schriften über seinen berühmten Sohn wohl zu schlecht wegkommt.
Entkommen in die Literatur
Immer stärker kapselt sich Dostojewski auf der Ingenieursakademie von seinen Kommilitonen ab und zieht sich in die Welt seiner geliebten Lektüre zurück. Gleich zu Beginn der Zeit in Petersburg macht er die Bekanntschaft mit dem Dichter Iwan Nikolajewitsch Schidlowski. Der träumerische und beständig an Weltschmerz leidende Romantiker, sechs Jahre älter als Fjodor, wird für diesen zu einer prägenden Person und macht ihn mit verschiedenen literarischen Meisterwerken vertraut. Dostojewski bewundert zudem Schidlowskis eigene Kunst. Möglicherweise ist die Freundschaft zu dem jungen Dichter ausschlaggebend dafür, dass in ihm der Gedanke an eine eigene Autorenkarriere erwacht.
Zunächst aber ist er vor allem ein leidenschaftlicher Leser. Schiller bleibt weiterhin sein Liebling unter den Klassikern; sein Bruder Michail steht ihm in der Bewunderung des deutschen Dichterfürsten nicht nach und übersetzt später sogar Werke Schillers ins Russische. Auch die neuere Generation der deutschen Romantiker, insbesondere E. T.A. Hoffmann, studiert Dostojewski intensiv. Vom Philosophen Schelling übernimmt er begeistert die Ansicht, dass man die elementarsten Dinge des Lebens mit dem Herzen und nicht mit dem Verstand erkennt.
Von den bedeutenden russischen Autoren liest er neben Puschkin nun auch Gogol und Lermontow, die mit ihrem scharfen Blick auf die Miseren der russischen Gesellschaft Dostojewskis eigenes literarisches Schaffen nachhaltig beeinflussen werden. Beeindruckt ist er ebenfalls von Honoré de Balzac, George Sand und Viktor Hugo, Autoren zwischen Romantik und Realismus mit ausgeprägter Gesellschaftskritik. Daneben ist die Lektüre von Eugène Sues spannenden, aber allgemein der Trivialliteratur zugerechneten Fortsetzungsromanen wegweisend für Dostojewski. Aus dem angelsächsischen Sprachraum wäre (neben dem obligatorischen Klassiker Shakespeare) vor allem Charles Dickens zu nennen, der durch seine Romane den Blick der Leserschaft bewusst auf das Los der Armen und Rechtlosen in der Gesellschaft lenkt.
Dostojewski bewundert neben den Sprachgenies und den reinen Poeten mindestens genauso die Autoren, die ihre Werke als Mittel begreifen, bewusstseinsbildend zu wirken, und somit deutlichen gesellschaftlichen Einfluss ausüben. Ich bilde mich an den Charakteren der Schriftsteller, mit denen ich meine besten Stunden frei und froh verbringe, schreibt er im Sommer 1839 an Michail. Leidenschaftlich diskutiert er mit dem Bruder, der sich selbst an Gedichten und Dramen übt, über literarische Vorlieben und kann sich regelrecht ereifern, wenn ihre Geschmäcker auseinandergehen. Er verspürt die Sehnsucht, sich selbst in der Kunst zu verwirklichen, und beklagt die Fesseln, die ihm das Leben in der Akademie auferlegt. Mein einziges Ziel ist es, frei zu sein. Dafür opfere ich alles. Doch sehr oft überlege ich, was mir diese Freiheit bringen wird … Werde ich vielleicht allein sein in der namenlosen Menge? Ich kann mit alldem fertig werden, doch gestehe ich, es bedarf eines starken Glaubens an die Zukunft, eines großen Selbstvertrauens, will ich mit meinen gegenwärtigen Hoffnungen leben.
Trotz dieser Vorwehen einer späteren literarischen Karriere absolviert Dostojewski das ungeliebte Studium mit Erfolg. Er schafft die Zwischenexamen bis auf das Fach Mathematik im ersten Anlauf und kommt in den Genuss der vorgesehenen militärischen Beförderungen. 1841 rückt er in den Rang eines Ingenieur-Fähnrichs auf und erhascht damit immerhin einen kleinen Zipfel Freiheit. Er muss nun nicht mehr in der Kaserne wohnen. In den folgenden Jahren wird er in Sankt Petersburg immer wieder die Wohnung wechseln. Es entwickeln sich Freundschaften, hauptsächlich zu literarisch Interessierten. Er besucht Konzerte, nimmt Einladungen an, wird Teil von Salonrunden und kommt zum ersten Mal mit dem verhängnisvollen Glücksspiel in Kontakt. Sein Umgang mit Geld ist chaotisch. Wenn er an Mittel gelangt, zerrinnen sie ihm unter den Fingern, oder er muss damit alte Verbindlichkeiten begleichen. Oft hungert er klaglos tagelang. Einerseits versucht er minutiös zu haushalten und zu berechnen, was er zum Lebensunterhalt braucht, andererseits machen seine Großzügigkeit und seine mangelnde Scheu, sich ausnutzen zu lassen, alle persönlichen Budgetplanungen zunichte.
So eigenbrötlerisch er ist: Wenn die Unterhaltung auf Literatur kommt, ist er begeisterungsfähig und kann obendrein andere mitreißen. Er ist ein guter Deklamator von Gedichten und dramatischen Szenen. Seine Sensibilität kann sich allerdings mitunter schnell in Empfindlichkeit und beleidigtem Rückzug äußern.
Nach Abschluss der Akademie nimmt Dostojewski eine Stelle als Technischer Zeichner im Staatsdienst an. Von Anfang an hat er starke Zweifel, wie lange er es in seiner Stellung aushalten wird. Den Wunsch, sich als Literat zu verwirklichen, kann und will er nicht unterdrücken. Er denkt über das Wagnis nach, ohne Festanstellung und allein von der Literatur zu leben.
Dostojewski als Ingenieur (zwischen 1841/42)
Es ist nicht so, dass er weltfremd wäre. Er weiß um die Härte des wirtschaftlichen Überlebenskampfs – und wenn er sich in diesen Jahren mit Michail über literarische Pläne austauscht, spielen daneben immer geschäftliche Hoffnungen eine Rolle. Dostojewski möchte seine Petersburger Kontakte nutzen, die Schiller-Übersetzungen seines Bruders zu vermarkten. Selbst übersetzt er ein Buch des gleichfalls verehrten Balzac ins Russische: „Eugénie Grandet“, einen Gesellschaftsroman um Geld, Liebe, Generationskonflikte und menschliche Schwächen.
Sein Bruder vermittelt ihm eine übergangsweise Unterkunft bei dem deutsch-baltischen Arzt Dr. Alexej E. Riesenkampf und verknüpft damit die Hoffnung, dessen Ordnungssinn werde auf Fjodor abfärben. Doch der Hauswirt kann nur staunend konstatieren, dass Dostojewski es einmal fertigbringt, sich von ihm leihweise 5 Rubel zu erbitten, obwohl ihm erst tags zuvor aus Moskau 1000 Rubel aus seinem Erbe überwiesen worden waren.
Da Riesenkampf teilweise Patienten aus den ärmsten Schichten behandelt, knüpft Dostojewski in dessen Praxis erneut Kontakte zu Menschen mit harten Lebensschicksalen. Er schenkt einigen