Fjodor M. Dostojewski. Rainer Buck
die Armen ihrer lange bewahrten letzten Refugien: der Selbstachtung und der inneren Freiheit.
Zwar findet man in Dostojewskis Werk einige Parallelen zu anderen Autoren, vor allem zu Nikolai Gogol, doch kaum ein anderer wartet mit vergleichbar vielschichtigen Charakteren auf. Dabei ergreift der Erzähler nie offensichtlich Partei oder sortiert seine Figuren nach „gut“ und „böse“. Selbst Valenka, eigentlich zur tragischen Heldin prädestiniert, ist nicht nur hilfloses Opfer, sondern missbraucht zeitweise die Güte ihres Freundes Makar Dewuschkin. An Dewuschkin selbst könnte der Leser wiederum, wie an vielen späteren Helden bzw. Antihelden Dostojewskis, verzweifeln, weil er mehr ein Dulder als ein Gestalter ist.
Belinski sieht in „Arme Leute“ den ersten ernst zu nehmenden sozialen Roman in der russischen Literatur. In den literarisch interessierten Kreisen Petersburgs rückt das Werk noch vor seiner Erstveröffentlichung in Nekrasows „Petersburger Almanach“ in den Fokus des allgemeinen Interesses. Dem vielgelobten Autor steigen die Lobeshymnen zu Kopf. Er ist berauscht vom eigenen Talent und schafft es innerhalb von Monaten, die allgemeine Gunst zu großen Teilen schon wieder zu verspielen.
Das liegt freilich nicht vornehmlich daran, dass er in Gesellschaften ein überzogenes Selbstbewusstsein zur Schau stellt (womit er in erster Linie Unsicherheiten zu kaschieren versucht), sondern weil er als Literat ganz offensichtlich nicht dazu angetreten ist, fremde Erwartungen zu erfüllen. Was ihm im Auftreten an echter Selbstsicherheit fehlt, das zeigt er, wenn es um die Entwicklung literarischer Eigenständigkeit geht. Zwar hat er durchaus seine Vorbilder unter den großen Autoren und ist nicht unbeeinflusst vom Zeitgeist, doch wenn er ein Thema als Erzähler angeht, wird in seiner Hand daraus erstaunlich oft etwas Unvorhersehbares.
Außerdem passt er weltanschaulich in kein Raster. Der überzeugte Sozialist Belinski, tatkräftiger Starthelfer für Dostojewskis Karriere, muss bald feststellen, dass der junge Autor nur bedingt ein verlässlicher Mitstreiter für seine politischen Ideen ist. Zwar zeigt Dostojewski zu dieser Zeit keine starke Bindung mehr zur orthodoxen Religion, mit der er aufgewachsen ist, aber Belinskis antireligiöse Einstellung stößt ihn im Laufe der Zeit ab. So, wie Dostojewski während der Jahre an der Akademie zuweilen fast in einer Art Trotzreaktion die orthodoxen Rituale gepflegt hat, um sich damit von der allgemeinen Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit abzusetzen, bringt es ihn jetzt fast in Rage, wenn abfällige Äußerungen über Christus und den Glauben gemacht werden. Der Konflikt mit Belinski schwelt zu dieser Zeit nur, doch in späteren Jahren findet Dostojewski kein gutes Wort mehr für den 1848 im Alter von nur 37 Jahren verstorbenen Kritiker und Publizisten.
Im Kreise Belinskis
Dostojewski kann zwar jeden Weg des Zweifels an der christlichen Dogmatik mitgehen und alles an der Religion hinterfragen, ist jedoch gleichermaßen skeptisch den Ideologien der Religionskritiker gegenüber. Sein Bild vom Menschen entwickelt und pflegt er nicht in Salongesprächen, sondern dadurch, dass er tatsächlich keine Scheu hat, sich mit Bettlern und Verzweifelten abzugeben, selbst wenn diese Kontakte manchmal dazu führen, dass er bestohlen wird oder er einem „Unwürdigen“ Geld schenkt.
Offensichtlich bekommt Dostojewski durch den Verkauf seiner Manuskripte und kleinere literarische und journalistische Aufträge immer wieder Geld in die Hand. Zwischendurch leistet er sich größere Wohnungen, die über seine Verhältnisse gehen. Außerdem trägt er zu dieser Zeit etwas Geld in die Petersburger Freudenhäuser, in denen viele deutschstämmige Mädchen tätig sind: Die Minchen, Klärchen, Mariannen usw. sind überaus hübsch, aber auch sehr kostspielig, berichtet er Michail und kokettiert: Kürzlich haben Turgenew und Belinski kein gutes Haar an mir gelassen wegen meines liederlichen Lebenswandels.
Kurz zuvor noch hatte sein ehemaliger Quartiergeber Dr. Riesenkampf eine völlig andere Beobachtung gemacht: „Mit zwanzig Jahren suchen die jungen Leute gewöhnlich ihr Ideal bei den Frauen und laufen schönen Weibern nach. Auffallender Weise war bei Dostojewski nichts dergleichen wahrzunehmen. Er verhielt sich völlig gleichgültig in Hinsicht auf die Gesellschaft von Frauen, und es sah fast so aus, als habe er eine gewisse Antipathie gegen sie!“
Dostojewski kann sich über lange Phasen hinweg in seiner Arbeit vergraben und wie ein Asket leben. Trotzdem ist er nicht unempfänglich dafür, sich zeitweise im Rausch von Vergnügungen zu vergessen. In seinen Erzählungen zeigt er, dass er durchaus keine geringe Meinung von Frauen hat. Dostojewski ist wohl in den frühen Petersburger Jahren einfach noch nicht reif für eine Partnerschaft. Und vermutlich wäre er bei den meisten Frauen, die ihn auch intellektuell als Partnerinnen hätten interessieren können, aufgrund seiner praktischen Lebensuntüchtigkeit nicht unbedingt angekommen.
Gegenwind
Noch während die „Armen Leute“ ihrer Erstveröffentlichung harren, arbeitet Dostojewski an einer zweiten längeren Erzählung. Inspiriert von E. T.A. Hoffmanns „Die Elixiere des Teufels“, behandelt „Der Doppelgänger“ das Thema Persönlichkeitsspaltung. Die Groteske dreht sich um den achtbaren Angestellten Goljadkin, der in einem Anfall von Liebeskummer seinem verdrängten anderen „Ich“ begegnet, das daraufhin langsam, aber sicher die Kontrolle über sein Leben übernimmt.
Als die Erzählung nur wenige Monate nach „Arme Leute“ in einer Monatszeitschrift veröffentlicht wird, entpuppt sie sich nicht als das, was die Verehrer des literarischen Debüts erwartet hatten. Belinski ist zwar von der sprachlichen Kunstfertigkeit angetan, aber er warnt den Autor davor, sich „auf Kosten der Kunst zu stark auf pathologische Zergliederung einzulassen“. Dabei geht der Kritiker natürlich von seinem eigenen Kunstbegriff aus. Die Kunst soll in seinen Augen vornehmlich als Gewissen und als Enthüllerin gesellschaftlicher Missstände dienen.
Die Reaktionen auf den „Doppelgänger“ verunsichern den gerade noch auf Wolke sieben schwebenden Dostojewski hochgradig. Auf gesellschaftlichem Parkett macht er ohnehin keine gute Figur. Als er von Freunden in den Kreis des Dichters Panejew eingeführt wird, ist dessen Frau von der neuen Bekanntschaft nicht gerade angetan: „Aufgrund seiner Jugend und Nervosität gelang es ihm nicht, sich den Umgangsformen anzupassen“, beschreibt sie sein Auftreten. Möglicherweise verhält sich Dostojewski besonders ungeschickt, weil er in die Panejewna eine Zeit lang ernsthaft verliebt ist.
Der ehrgeizige und überspannte Neuling wird zur Zielscheibe zunächst milden Spottes, der sich aber zunehmend verschärft. Turgenjew, der Dostojewski zunächst enthusiastisch zugetan schien, macht eines Abends im Kreis eine Bemerkung über einen „Provinzler, der sich für ein Genie hält“. Für den tiefgetroffenen Dostojewski ist dies der Anlass, sich für immer aus dem Zirkel zu verabschieden. Zu den drückenden Geldnöten, seiner Dauerbegleitung, kommen jetzt Phasen der Melancholie und der Selbstzweifel.
In dieser Situation kommt Dostojewski in Kontakt mit einem Kreis ernsthafter junger Männer, angeführt von dem Brüderpaar Beketow, von denen einer ein Mitstudent Dostojewskis an der Ingenieursschule gewesen war. In diesem Kreis wird nicht nur über einen utopischen Sozialismus philosophiert. Man versucht zugleich, nach den eigenen Idealen zu handeln. Die Männer gründen auf Dostojewskis Initiative hin sogar eine Wohngemeinschaft.
Bruder, ich mache nicht nur eine moralische, sondern auch eine physische Wiedergeburt durch, schreibt er im November 1846 an Michail. Noch nie war in mir solche Klarheit, solch innerer Reichtum, noch nie war mein Charakter so ausgeglichen, meine Gesundheit so zufriedenstellend wie jetzt. Dies verdanke ich in hohem Maße meinen Freunden, mit denen ich lebe. Dostojewski erwähnt hier ausdrücklich seine Gesundheit, da er in den Monaten zuvor stark an einer Nervenkrankheit gelitten hat. Möglicherweise sind es schon die Anzeichen seiner späteren Epilepsie. Die Anfälle sind zwar nicht von Krämpfen, aber von zeitweiliger Bewusstlosigkeit begleitet.
Der Beketow-Zirkel besteht nur kurze Zeit, da die Brüder Petersburg verlassen, doch ein anderes Brüderpaar aus dem Freundeskreis, Walerian und Apollon Maikow, bleibt Dostojewski als Stütze erhalten. Walerian ist Literaturkritiker und bricht öffentlich eine Lanze für ihn. Tragischerweise stirbt Walerian schon 1847, während der Dichter Apollon Maikow ein lebenslanger Freund wird.