Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie. Christian Hartmann
Arbeit an diesem Buch geopfert wurden.
ZUM SCHLUSS
Seien Sie skeptisch wie Sokrates und Still es waren. Prüfen Sie Aussagen, die Ihnen zusagen, ebenso kritisch wie solche, die Ihnen nicht zusagen. Positive Skeptiker sind der Motor jeder Weiterentwicklung. Und da diese Eigenschaft vor allem eine Domäne der Jugend ist, widme ich das vorliegende Buch und das Projekt Philosophische Osteopathie ganz besonders den zukünftigen Generationen der Osteopathie. Die Osteopathie braucht Bewegung. Bewegen Sie sie!
Ich wünsche Ihnen jedenfalls viel innere Bewegung bei der Lektüre.
Christian Hartmann
Südafrika, März 2016
GEDANKEN ZU A. T. STILLS
PHILOSOPHIE DER OSTEOPATHIE
1. EINLEITUNG
Um gleich den Eindruck zu vermeiden, dass es sich bei Philosophische Osteopathie ausschließlich um ein steriles Wissenschaftsprojekt handelt, möchte ich in der Einführung dieses Buches zunächst mit meiner eigenen Geschichte beginnen. Dies mache ich nicht, um Sie mit persönlichen Geschichten oder Überzeugungen zu langweilen, sondern weil ich hoffe, dass gerade Therapeuten dadurch geeignete Einstiegspunkte auf ihrer individuellen osteopathischen Reise finden. Zudem habe ich im Zuge meiner Arbeit mit Still gelernt, dass Texte allein nur einen Teil des Ganzen darstellen. Kennt man den Verfasser als Mensch ein wenig besser, interpretieren sich manche Aussagen leichter, oder sie erscheinen plötzlich sogar in einem völlig neuen Licht. Selbstverständlich kann und soll jeder, dem das Lesen persönlicher Geschichten anderer Menschen eher ein Gräuel ist, dieses Kapitel jederzeit gerne überspringen.
Im Anschluss an meine persönliche ‚osteopathische‘ Reise stelle ich Ihnen dann die verschiedenen Hauptströmungen der Osteopathie vor, so wie man ihnen auf internationaler Ebene begegnet. Ich halte dies für notwendig, um auch Lesern, die mit der Materie der Osteopathie noch nicht so vertraut sind, ein realistisches Bild davon zu geben, von welch enormer Heterogenität die Osteopathie-Welt tatsächlich geprägt ist.
Alle diese Strömungen weisen zumindest eine Gemeinsamkeit auf: Sie alle versuchen mithilfe unterschiedlicher Argumente ihre Eigenständigkeit zu begründen. Auf die damit beschriebenen Alleinstellungsmerkmale vor allem gegenüber der orthodoxen Medizin möchte ich im dritten Unterkapitel der Einführung etwas genauer eingehen und sie einer kritischen Prüfung unterziehen. Dadurch wird verständlicher, warum eine Neubetrachtung der Osteopathie ausgehend von ihren Wurzeln notwendig erscheint.
Zum Schluss habe ich mir erlaubt, noch kurz auf das Thema Spiritualität einzugehen, um hier klarzustellen, warum seine Berücksichtigung für das vorliegende Werk und das Projekt Philosophische Osteopathie keine Relevanz besitzt.
1.1. EINE PERSÖNLICHE REISE
1994 erzählte mir ein guter Freund zum ersten Mal von der Möglichkeit, Osteopathie zu erlernen. Als frisch examinierter Physiotherapeut war ich offen für jegliche Form der Weiterentwicklung, und so entschloss ich mich umgehend, mit der Ausbildung zum Osteopathen anzufangen. Von Beginn an war ich von der Art und Weise begeistert, wie lebendig und funktionell uns die Anatomie erklärt und mit welcher Fülle an Techniken man ausgestattet wurde. Erst sehr viel später sollte ich verstehen, dass uns der bedeutendste Teil der Lehre des Begründers der Osteopathie nicht vermittelt wurde: die philosophische Haltung des Osteopathen zur Welt.
Da ich mich schon immer brennend für das interessiert habe, was hinter einer Sache stand, fragte ich im zweiten Ausbildungsjahr einen meiner Lehrer nach den Ursprüngen der Osteopathie. Darauf bekam ich ein schulterzuckendes „Von irgendeinem Arzt aus Amerika“ als Antwort. Meine Nachfrage, ob es Literatur von oder über diesen ominösen Arzt gebe, wurde beiläufig mit „Ein paar Fachartikel …“ beantwortet. Da ich nun das Glück hatte, bereits 1997 das Internet nutzen zu können, recherchierte ich daraufhin in einigen amerikanischen Portalen und wurde rasch fündig. Neben seinen vier Büchern Autobiografie, Die Philosophie der Osteopathie, Die Philosophie und mechanische Prinzipien der Osteopathie und Forschung und Praxis1 fand ich zudem mit Carol Trowbridges Andrew Taylor Still 1828 – 1917)2 eine Biografie über den Begründer der Osteopathie. Ich ließ mir jeweils ein Exemplar aller Titel zuschicken, begann zunächst die sehr dicht mit Informationen gespickte Biografie (nicht zu verwechseln mit Stills Autobiografie) zu lesen und recherchierte einige mir wichtig erscheinende Aspekte nach, wie etwa den Methodismus, den Amerikanischen Transzendentalismus, die juristischen Rahmenbedingungen für Ärzte jener Zeit. Besonders fiel mir aber eine kritische Bemerkung von Trowbridge aus ihrem Vorwort auf, in der sie bereits auf den erheblichen Unterschied zwischen Stills Ansatz und der modernen Osteopathie hinwies. Damals schenkte ich dieser Aussage aber keine weitere Beachtung und widmete mich zunächst Stills Autobiografie. Wie die meisten Therapeuten, die Stills Bücher zum ersten Mal in die Hand nehmen, war auch ich zu Beginn ziemlich verwundert über die für mich so ungewohnte, einfache und erzählerische Sprache, voll von militärischen, religiösen und mechanistischen Ausdrücken, die so gar nicht zu der ganzheitlichen, sanften und filigranen Osteopathie passte, die ich gerade selbst erlernte. Erst als ich mehr über den Amerikanischen Bürgerkrieg und die Einstellung der Menschen im Mittleren Westen zu jener Zeit, den Methodismus und die immense Bedeutung der Elektrizität und der Maschinen gerade im 19. Jahrhundert gelesen hatte, konnte ich dies besser nachvollziehen. In diesem Zusammenhang zeigte sich mir auch, wie unsere Sprache stets von der gerade aktuellen Wissenschaft geprägt wird. (Denken Sie nur einmal an die inzwischen inflationäre Verwendung des Begriffs Vernetzung in der modernen Medizin.) Mir wurde schnell klar, dass ich meinen bis dahin geprägten Anspruch und die damit verbundenen Erwartungen bezüglich medizinischer Literatur vollständig über Bord werfen musste, um zu erfahren, was Still uns eigentlich vermitteln wollte bzw. was er selbst unter Osteopathie verstand. Unabhängig von den Schwierigkeiten mit Stills ungewöhnlicher Sprache frustrierte mich aber ganz grundlegend, dass ich die mitunter äußerst langen und verschachtelten Sätze, in denen er zum Teil hochkomplexe Sachverhalte beschrieb, allein schon deshalb nicht verstand, weil meine Muttersprache nicht Englisch war.
Es gab also auch für mich gute Gründe, Stills Bücher rasch wieder beiseitezulegen. Andererseits jedoch ging von einigen seiner Ideen eine seltsame Faszination aus, die mich auf sehr sympathische Art und Weise berührte und mir das Gefühl gab, in den Texten schlummere etwas, das weit über praktische Erfahrung, Grundwissen und Techniken hinaus reichte und die Medizin dadurch in einem völlig neuen Kontext erhellte. Hier ging es auf einmal nicht mehr primär um Krankheiten, Konzepte oder Techniken, sondern um Philosophie, um den Menschen, das Leben und vor allem den Therapeuten selbst; nicht als Gesundmacher oder Heiler, sondern als aufmerksamen Beobachter mit einer bewussten inneren Haltung zur Welt. Erstmalig begegnete mir ein Text, der in Bezug auf seine medizinische Relevanz nicht durch seine von Gelehrten als allgemeingültig vorgegebene Form - in puncto Terminologie, Methodik und Systematik - bestach, sondern allein durch die Kraft origineller Gedankengänge. Erst sehr viel später sollte ich erkennen, dass Still auch ganz bewusst keine üblichen Sammel- oder Lehrwerke schaffen wollte, um die Leser nicht durch eine Fokussierung auf deskriptive Inhalte von der eigentlichen Bedeutung seiner Aussagen abzulenken.
Nun hielt ich also ein meines Erachtens für die Medizin ganz allgemein hochrelevantes Schriftgut in meinen Händen, war aber aufgrund meiner deutschen Muttersprache nur sehr bedingt in der Lage, wesentliche Tiefen darin wirklich befriedigend zu erfassen. Zu diesem Zeitpunkt, etwa 1999, arbeitete ich als Physiotherapeut im Süden von München, um mir mein inzwischen begonnenes Medizinstudium zu finanzieren. Ich hatte die Osteopathie-Ausbildung bereits im vierten Ausbildungsjahr abgebrochen, da sich Inhalte und Techniken zu wiederholen begannen und das bei Still Beschriebene und für mich Wesentliche weder an meiner noch an einer anderen Osteopathieschule unterrichtet wurde. Zwar kam es vor, dass man Osteopathie als eigene Medizinphilosophie bezeichnete, aber auf meine Nachfrage, was damit denn genau gemeint und wo dies anhand von Quellen nachzuprüfen sei, erhielt ich lediglich unbefriedigende Aussagen, die bis hin zu ‚Sammle erst einmal Praxiserfahrung, dann wirst du es schon verstehen.‘, ‚Die Philosophie