Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie. Christian Hartmann

Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie - Christian Hartmann


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      DIE COMMONWEALTH-OSTEOPATHIE

      Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich die Osteopathie langsam, vor allem aufgrund der Initiative John Martin Littlejohns (1866 - 1947), in England zu etablieren. Da hier anders als in den Vereinigten Staaten ein ärztliches Praktizieren der Osteopathie von Beginn an aus juristischen Gründen nicht möglich war, konnte der ursprünglich allgemeinärztlich, d. h. auf die Behandlung aller Beschwerdebilder ausgerichtete systemische Ansatz nicht mehr in vollem Umfang ausgeübt werden und entwickelte sich daher rasch zu einer nicht-ärztlichen und rein manuellen Behandlungsmethode, die sich vorwiegend auf Beschwerden des muskuloskelettalen Systems bezog.1 Durch den großen internationalen Einfluss der British School of Osteopathy verbreitete sich diese Strömung im Rahmen des Commonwealth vor allem in Australien und Neuseeland, aber auch in einigen spanischsprachigen Ländern. Eine Unterscheidung der Commonwealth-Osteopathie von der Chiropraktik bzw. der Manualmedzin (Chirotherapie) ist heutzutage kaum noch möglich.

      DIE ZENTRALEUROPÄISCHE OSTEOPATHIE

      William Garner Sutherland (1873 - 1954), wie Littlejohn ein Zeitgenosse und Schüler Stills, entwickelte in den 1930er bis 1950ern die sogenannte Kraniosakrale Osteopathie. Sie etablierte sich ab den 1950ern als eher unbedeutende Randerscheinung innerhalb der amerikanischen Osteopathie. Zu Beginn zeichnete sich Sutherlands Ansatz wie bei Still noch durch ausschließlich mechanisch orientierte Überlegungen aus. Dies änderte sich offensichtlich unter dem Einfluss bestimmter Schriften Emanuel Swedenborgs (1688 - 1772) und durch die Bekanntschaft mit dem Esoteriker Walter Russell (1871 - 1943). Ab den 1940ern finden sich zunehmend spirituelle Kontexte bei Sutherland, die er mit seinen mechanischen Ansätzen kombinierte und so ein neues ganzheitliches Konzept innerhalb der Osteopathie begründete. Da er ein großer Verehrer Stills war, floss dessen Gedankengut in Sutherlands Seminare ein, was zu einer Vermischung von Stills ursprünglichem Ansatz mit Sutherlands Interpretationen führte. Der ursprünglich philosophische Aspekt in Stills Ansatz wurde dadurch immer stärker in einen spirituellen Kontext überführt, was unter anderem auch dazu führte, dass innerhalb der Kraniosakralen und der daraus entspringenden Biodynamischen Osteopathie zunehmend eine Art geheimes Heilwissen zwischen die Zeilen der Texte von Still interpretiert wurde.

      Auf Initiative einer Gruppe kraniosakral arbeitender Osteopathen kam es auf Umwegen zur Gründung der European School of Osteopathy (ESO), die ursprünglich in Paris lokalisiert war und sich nun in Maid-stone (England) befindet. An der ESO wurde Stills Gedankengut zwar nicht wirklich studiert und sein philosophischer Ansatz auch nicht unterrichtet, die spirituelle Ausdeutung seiner Gedanken führte aber dazu, dass erstmals wieder metaphysische Aspekte innerhalb der Osteopathie an Einfluss gewannen. Auch begann man nun wieder Still vermehrt im Original zu lesen und nicht nur tradierte Zitate ungeprüft zu übernehmen. Besonders ESO-Schüler aus Frankreich, Holland und Belgien, aber auch zunehmend deutsche Schulen sind seit den 1980ern dafür verantwortlich, dass sich diese Mischform aus Stills Osteopathie und Sutherlands Kraniosakraler Osteopathie nach und nach auch in Zentral- und inzwischen auch in osteuropäischen Ländern etablierte, wobei sie heute vor allem in Zentraleuropa die am schnellsten wachsende und zunehmend an Einfluss gewinnende Strömung der Osteopathie darstellt.

      Diese Form der Osteopathie wird vor allem von (ehemaligen) Physiotherapeuten ausgeübt. Ärzte tendieren eher zu einer Mischung aus amerikanischer und Commonwealth-Osteopathie, wobei es hier gerade im deutschsprachigen Raum auch Ausnahmen gibt. In der Außendarstellung werden häufig drei Bereiche beschrieben: eine am Bewegungsapparat ansetzende, aber im systematischen Sinn verstandene parietale/​myofasziale Osteopathie, eine abhängig von der Schule mehr oder weniger stark spirituell geprägte Kraniosakrale Osteopathie und eine auf französische Osteopathen zurückgehende Viszerale Osteopathie (innere Organe). Es werden fast ausschließlich manuelle Techniken angewendet, wobei je nach Ausrichtung entsprechend ausgeprägte strukturelle, funktionelle oder energetische Aspekte einfließen.

      Auch im zentraleuropäischen Ansatz der Osteopathie sucht man vergeblich nach ernsthaften Versuchen, sich wissenschaftlich mit dem philosophischen Aspekt von Stills Ansatz auseinanderzusetzen. Lediglich im deutschsprachigen Raum sind hier ernsthafte Ansätze auch auf breiterer Ebene zu erkennen.

      OSTEOPATHIE IN DEUTSCHLAND

      Die heute bekannte Osteopathie in Deutschland ist überwiegend der zentraleuropäischen Strömung zuzuschreiben (siehe dort), es finden sich aber auch immer mehr Vertreter der amerikanischen und der Commonwealth-Form. Daneben existiert eine insbesondere auf eine Initiative der Orthopäden und eines großen Physiotherapie-Verbandes zurückgehende, ebenfalls inzwischen dreigliedrige Osteopathie, die aber im Gegensatz zur zentraleuropäischen Osteopathie stärker krankheits- und symptombezogen ist und sich als Erweiterung der bestehenden Manualmedizin (Chirotherapie) versteht. Die ärztliche Osteopathie in Deutschland geht vor allem auf Kooperationen zwischen amerikanischen Ausbildungsstätten im Bereich Osteopathie und Chiropraktik und der British School of Osteopathy zurück, wobei der Einfluss zentraleuropäischer Schulen abhängig von der berufspolitischen Ausrichtung ebenfalls sichtbar ist. Die Osteopathie im gesamten deutschsprachigen Raum ist aufgrund ihrer heterogenen Entstehung nicht eindeutig zu verorten. Inwieweit eine krankheits- oder gesundheitsorientierte Vorgehensweise im Mittelpunkt steht, welche Techniken man anwendet und welche Philosophien man verfolgt, wird durch die Wahl der Schule bestimmt, an der man die Osteopathie erlernt bzw. welcher Ausrichtung man zuneigt. Die Anwendung der Hände im praktischen Kontext ist demnach ebenfalls unterschiedlich ausgeprägt.

      Stills philosophischer Ansatz wird im deutschsprachigen Bereich seit kurzem zumindest ansatzweise auf breiterer Ebene diskutiert.

      Wie bereits im Vorwort erwähnt wurde, versucht das vorliegende Buch wesentliche Erkenntnisse in Bezug auf die philosophischen Aspekte in Stills Gedankenwelt zu erschließen. Hier stellt sich natürlich zunächst einmal die Frage, warum dies angesichts der eben beschriebenen dynamischen Entwicklung der Osteopathie überhaupt nötig ist. Wie zuvor schon dargelegt, lautet die Antwort: Weil die gegenwärtige Erfolgsgeschichte der Osteopathie darüber hinwegtäuscht, dass sie sich in einer ernsten Identitätskrise befindet. Entsprechend vielfältig gestalten sich die von den einzelnen Strömungen vorgebrachten Alleinstellungsmerkmale, die die Eigenständigkeit der Osteopathie belegen sollen. Da diese zumeist in bester Absicht formuliert wurden und daher ernst zu nehmen sind, möchte ich mich ihnen im folgenden Kapitel ausführlicher widmen.

      DIE HAND ALS MEDIZINISCHES INSTRUMENT

      Ein auffallendes Merkmal der Osteopathie ist die auch medizinhistorisch kaum bestreitbare Tatsache, dass Still mit seinem Ansatz die Hand erstmals als höchst feines diagnostisches und therapeutisches Werkzeug vor allem in Bezug auf anatomische Strukturen und im funktionellen Kontext innerhalb der Gesamtmedizin eingeführt und damit die moderne Palpation begründet hat. Das Grundprinzip, die Hand sowohl diagnostisch wie auch therapeutisch unmittelbar einzusetzen, findet sich allerdings bereits lange vor der Osteopathie. Man denke hier nur an das sogenannte Knochensetzen (Bonesetting), die Wundarzt-Chirurgie oder einige andere physikalische Verfahren, wie etwa die bereits im 19. Jahrhundert bekannte schwedische Massage. Auch dass die Hand über den strukturellen Aspekt hinaus ‚energetisch‘ eingesetzt wird, ist nicht wirklich neu. Das gleiche Grundprinzip findet sich auch im Mesmerismus/​Magnetismus und bei vielen schamanischen Heilritualen. Was die Osteopathie hier vorweisen kann, ist eine bis dahin nicht gekannte Feinheit der strukturellen Palpation, die durch Sutherland auch um ‚energetische‘ Aspekte erweitert wurde. Da die Grundprinzipien aber schon weit vorher bekannt waren, scheidet dieses Argument als Alleinstellungsmerkmal der Osteopathie aus.

      FUNKTIONELLES BEHANDELN

      Immer wieder wird betont, dass die Osteopathie sich durch ihre besondere funktionelle Denkweise im Bereich anatomisch-physiologischer Zusammenhänge und eine entsprechend daraus resultierende, ebenfalls funktionell orientierte Behandlung auszeichne. Tatsächlich können hier die frühen auf Stills Grundideen basierenden Beiträge von J.M. Littlejohn, C. McConnell, H. Fryette und L. Burns für sich beanspruchen, medizinisches Neuland erforscht und zum Teil sogar eröffnet zu haben,


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