Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie. Christian Hartmann

Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie - Christian Hartmann


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tun.‘ reichten. Heute weiß ich, dass diese Antworten auf Unkenntnis oder unwissenschaftliche Betrachtung in Bezug auf Stills Texte zurückzuführen sind.

      Da mein Interesse an diesem Wesentlichen der Osteopathie aber nach wie vor ungebrochen war, fragte ich einige medizinische Verlage, ob sie nicht Interesse hätten, eine deutschsprachige Version der Bücher von Still zu veröffentlichen. Nun muss man wissen, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum 200 geprüfte Osteopathen in Deutschland gab und den Verlagen die Investition in osteopathische Literatur, allem voran im historischen Bereich, nicht lukrativ erschien. So traf ich 2000 eine für mein weiteres Leben wichtige Entscheidung, gründete den Ein-Mann-Verlag JOLANDOS und begann mithilfe von Freunden das Übersetzungs-Projekt in die eigenen Hände zu nehmen. Als Das große Still-Kompendium mit der deutschsprachigen Fassung der vier Bücher von Still Ende 2002 zeitgleich mit dem Abschluss meines Medizinstudiums erschien, stand auch schon die nächste wichtige Entscheidung an. Osteopathie hatte in Deutschland inzwischen deutlich Fahrt aufgenommen und die Nachfrage nach Stills Texten wuchs. Dabei wurde schnell klar, dass den meisten Lesern bei der Lektüre jenes umfassendere Wissen rund um Still und die Gründerjahre bzw. die Geschichte der Osteopathie fehlte, das nötig ist, um sie besser verstehen und verorten zu können. So entschied ich mich, meine klinische Karriere zu bremsen, um mich ganz der Veröffentlichung deutschsprachiger Ausgaben der in meinen Augen relevanten Literatur rund um Geschichte und Philosophie der Osteopathie zu widmen. Zudem begann ich ab dem Jahr 2004 ein eintägiges Seminar über Geschichte und Philosophie der Osteopathie anzubieten. Der anhaltende Boom der Osteopathie und der damit zunehmende Aufwand für meinen kleinen Verlag, zunehmende Nachfragen nach Seminaren und Vorträgen zum Thema sowie ganz private Gründe führten schließlich dazu, dass ich 2012 meine klinische Tätigkeit vollständig beendete, um mich ganz dem Verlag und den Seminaren widmen zu können. Vorrangiges Ziel hierbei war es (und ist es immer noch), nicht ‚Wahrheiten‘ zu verbreiten, sondern Interessierten einen möglichst breiten Zugang zum Thema zu eröffnen, damit sie sich eigenständig anhand von Originaltexten ein persönliches Bild der Wurzeln der Osteopathie verschaffen konnten. Zudem hoffte ich natürlich, dass die daraus gewonnenen Einsichten zum kritischen Reflektieren über das eigene therapeutische Selbstverständnis anregen würden, wie es bei mir der Fall war und wie es mein Leben ungeahnt bereichert hatte.

      Zu den großen Bereicherungen durch die Beschäftigung mit der Osteopathie-Geschichte gehört auch ein besseres Verständnis für die chaotische Situation der modernen Osteopathie. Und da die Kenntnis dieses Sachverhalts zudem leichter verständlich macht, warum mein Augenmerk ungebrochen und sogar noch viel intensiver als früher auf den Texten Stills liegt, möchte ich Ihnen das gegenwärtige Osteopathie-Chaos im nächsten Unterkapitel ein wenig näherbringen.

      Osteopathie wird in der Öffentlichkeit als Methode zur Behandlung von Menschen beschrieben, die überwiegend auf manuellen Techniken basiert. Dabei finden sich abhängig von den einzelnen Strömungen Beschreibungen, die von sehenden Hände mit quantenmedizinischem Wirken zur Beseitigung so ziemlich aller denkbaren Beschwerden auf der einen Seite bis hin zur ausschließlichen Behandlung vorwiegend muskuloskelettaler Beschwerden vor allem des Rückens mittels rein strukturell-manipulativer Techniken auf der anderen Seite reichen. Von Wunderheilung bis Knocheneinrenken wird also alles geboten. Entsprechend angereichert ist die osteopathische Terminologie auch mit zum Teil unkritisch übernommenen Fantasiebegriffen. Interessierten begegnet beim ersten Versuch, sich ernsthaft mit der Osteopathie zu beschäftigen, daher eine Menge an Unklarheiten. Die Frage, was Osteopathie eigentlich genau sei, wird jedenfalls nicht allgemeingültig geklärt.

      Kenner der Osteopathie-Geschichte verwundert dies nicht, denn die Osteopathie hat sich im Laufe ihres noch jungen Bestehens abhängig von kulturellen und juristischen Einflüssen und aufgrund eines bis vor Kurzem erheblichen Mangels an interner und internationaler Kooperation in ganz unterschiedliche Richtungen entwickelt. Die beiden einzigen gemeinsamen Kriterien scheinen zu sein, dass sie sich alle – zumindest aus historischer Sicht – auf Still und seinen Ansatz beziehen und dass sie auf eine gewissen Eigenständigkeit gegenüber der orthodoxen Medizin bestehen.

      Da innerhalb des Projektes der Philosophischen Osteopathie ein transdisziplinärer Austausch von großer Bedeutung ist, halte ich es für angebracht, die wichtigsten Strömungen der Osteopathie kurz vorzustellen. Dies erleichtert es, die Position der Gesprächspartner aus dem Bereich der Osteopathie besser einschätzen und die eigene Position besser zuordnen zu können. Selbstverständlich existieren auch Mischformen und kleinere individuelle Ausnahmen, die ich hier aber unerwähnt lasse, da sie nur eine Randerscheinung innerhalb der internationalen Osteopathie darstellen.

      STILLS PHILOSOPHIE DER OSTEOPATHIE

      Sie repräsentiert die vom amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828 - 1917) entdeckte Osteopathie, die er in mehreren Büchern, Artikeln und mündlicher Überlieferung der Nachwelt hinterließ. Eine ausführliche Darlegung des philosophischen Aspektes seines Ansatzes und eine kurze Zusammenstellung seiner praktischen Ideen erfolgt in den weiteren Abschnitten dieses Buches. Einfach ausgedrückt leitet Still aus einer eher philosophischen Haltung heraus Mechanismen der Natur ab und überführt diese in pragmatische und im medizinischen Kontext wirksame Hypothesen, aus denen er Handlungskonzepte ableitet, die mit den Händen am Patienten umgesetzt werden. Diese Techniken setzen bei Still noch ausschließlich am Bewegungsapparat an, wobei die Knochen (gr. osteo) als Haupthebel für die Kraftübertragung wirken. Mit diesen Techniken werden optimale, das heißt an die individuellen Bedürfnisse des Patientenorganismus angepasste anatomische Rahmenbedingungen geschaffen. Innerhalb dieser können sich dann nach Still die unentwegt im Sinne des Lebens wirkenden und durch eine vollkommene höhere Intelligenz bestimmten Selbstregulationskräfte bestmöglich entfalten, was wiederum den heilenden und lindernden Effekt auf Beschwerden bzw. Krankheiten oder Leiden (pathos) begründet. Auf dieser gesundheitsorientierten und menschenzentrierten Überzeugung basiert auch der von Still erstmals im funktionellen Kontext ausgelegte Begriff Osteopathie. Da Still die philosophische Haltung als entscheidenden Aspekt des Osteopathen betrachtete, bedeutete der an seiner Schule vergebene Titel D.O. (Doctor of Osteopathy) für Still ‚Dig on!‘ (Grabe weiter!) im Sinne eines Wissenwollens.

      Still war weiterhin der Überzeugung, dass die Natur alle zur Heilung notwendigen Mittel zur Verfügung stellen könne, insofern es die anatomischen Rahmenbedingungen den physiologischen Prozessen erlauben, sich vermittelt durch das ungehinderte Fließen der Körperflüssigkeiten und Nervenströme im Körper auszubreiten. Folglich lehnte er jegliche Gabe von Medikamenten einschließlich homöopathischer Mittel ab, da er darin einen Mangel an Vertrauen in die natürlichen Selbstregulationskräfte sah.

      Die Berücksichtigung der Individualität zwingt den Osteopathen zu einem prozesshaften Vorgehen, das nicht mehr streng an einem einzigen Konzept ausgerichtet wird, sondern durch eine Anpassung unterschiedlicher Techniken gekennzeichnet ist.

      DIE AMERIKANISCHE OSTEOPATHIE

      Bereits zu Lebzeiten Stills wurden in den Vereinigten Staaten diese philosophischen Aspekte von Stills Osteopathie aus berufspolitischen Gründen zunehmend ausgeklammert. Dies ermöglichte der Osteopathie die schrittweise Anerkennung als voll anerkannter Arztberuf in allen Bundesstaaten. Erheblich beschleunigt wurde dieser Prozess durch den 1910 vorgelegten Fletcher-Report, der eine Evaluation sämtlicher medizinischer Einrichtungen in den USA beinhaltete und letztlich dazu führte, dass die osteopathischen Hochschulen ihre Lehrpläne jenen Universitäten anglichen, an denen orthodoxe Medizin gelehrt wurde. Aufgrund der Tatsache, dass die Anerkennungsjahre nach dem Studium ausschließlich in orthodox ausgerichteten Krankenhäusern erfolgten, haben die manuellen Techniken (OMTs = Osteopathic Manipulative Techniques/​Therapy) nach und nach an Bedeutung verloren. Dieser Prozess erklärt, warum die heutige Osteopathie in den Vereinigten Staaten sehr stark der orthodoxen Medizin gleicht und manuelle Techniken im Praxisalltag – wenn überhaupt – nur noch rudimentär angewendet werden. Zudem gibt es immer wieder starke berufspolitische Bestrebungen, die Osteopathie gänzlich in die orthodoxe Medizin zu überführen. Demzufolge steht in der amerikanischen Osteopathie nicht mehr die Unterstützung der Selbstregulierungskräfte des Organismus, sondern das Auffinden


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