Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie. Christian Hartmann

Gedanken zu A.T.Stills Philosophie der Osteopathie - Christian Hartmann


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auch bei diesem Argument muss man kritisch anmerken, dass die konzeptuelle Anwendung innerhalb der Osteopathie im internationalen Kontext vor allem in den angelsächsischen Ländern, aber auch in weiten Bereichen der zentraleuropäischen Osteopathie überwiegt. Ausschließlich prozessorientierte Behandlungen, bei denen der Osteopath seine Konzepte im ständigen Dialog mit dem Patienten bzw. dessen Organismus anpasst, sind weitaus seltener anzutreffen.

      FLIESSENDE KÖRPERFLÜSSIGKEITEN ALS GRUNDLAGE DER GESUNDHEIT

      Wie bereits erwähnt, betrachtete Still die fließenden Körperflüssigkeiten und die Nervenströme als physikalisches Medium, über welche sich die physiologischen Selbstregulationsprozesse der Natur auf intelligente Art und Weise entfalten können. Jedenfalls ist diese Hypothese sehr deutlich aus seinen Schriften abzuleiten. In diesem Punkt muss man aus historischer Sicht anmerken, dass bereits Emanuel Swedenborg in seinem 1704 erschienenen Werk Economia regni animalis den Gedanken klar formuliert, dass fließende Körperflüssigkeiten (im physikalischen Sinn) die Grundlage des Erhalts von Gesundheit darstellen. Dieses Buch war zu Lebzeiten Stills im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten verfügbar. Still hatte nachweislich eine gewisse Affinität zum Spiritismus, der wiederum starke Anteile des sogenannten Swedenborgianismus enthielt. Weiterführende Informationen zu diesem Thema finden sie in David Fullers Osteopathie und Swedenborg. Still kann in diesem Zusammenhang allerdings zugutegehalten werden, dass er diese auf mechanistischen und systemischen Prinzipien basierenden Überlegungen erstmals konkret und ebenfalls auf physikalischer Ebene therapeutisch nutzbar machen konnte.

      Wiederum muss aber auch hier kritisch angemerkt werden, dass die moderne Osteopathie im angelsächsischen Raum – aber auch im europäischen Verbreitungsgebiet – nur äußert selten diese Ansicht öffentlich vertritt.

      QUANTENTHEORIE

      Gelegentlich begegnet man dem Versuch, therapeutisch wirksame Phänomene innerhalb der Osteopathie mit quantentheoretischen Überlegungen zu begründen. Diese Versuche zeigen allerdings nicht selten die Schwäche, dass sie aus autodidaktischer Beschäftigung mit der Materie und nicht im Austausch mit Quantenphysikern entstanden sind und somit gelegentlich hochspekulativ sind. Eine kritische Überprüfung der getroffenen Aussagen durch wirklich bewanderte Gelehrte in dieser hochkomplexen Materie steht hier noch aus. Von einer wirklich wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Quantentheorie ist die Osteopathie jedenfalls noch ein gutes Stück entfernt. Besonders kritisch ist zu werten, dass auf den oftmals hochspekulativen Aussagen nicht selten bereits komplette Behandlungskonzepte aufgebaut werden und mit dem Argument der ‚persönlichen Erfahrung‘ als gesichert unterrichtet werden. Bisher ist jedenfalls kein ernsthaftes Bestreben festzustellen, die so erstellten Hypothesen einer seriösen Überprüfung durch Quantenphysiker zugänglich zu machen.

      Abgesehen davon ist die Berücksichtigung quantentheoretischer Aspekte im medizinischen Bereich keinesfalls neu. Die gesamte moderne Elektronik und somit sämtlichen medizinischen Geräte basieren auf ihr. Auch interpersonelle Quantenphänomene sind schon sein langem Gegenstand der Betrachtung diverser paramedizinischer Strömungen.

      ANERKENNUNG DER OSTEOPATHIE DURCH DIE WHO

      Zuletzt sei noch jenes Argument erwähnt, das vor allem von Seiten der ärztlichen Osteopathie häufig zu hören ist. Hier wird behauptet, allein die Anerkennung der Osteopathie bei der WHO als klar definierter komplementärmedizinischer Ansatz begründe ihre Eigenständigkeit. Hierzu muss man aber zweierlei anmerken: Erstens bezieht sich die Anerkennung vorrangig auf die berufspolitische, nicht aber auf eine inhaltliche Ebene, und andererseits bedeutet komplementär nichts weiter, als dass die mit diesem Attribut versehenen Medizinansätze nicht an den medizinischen Hochschulen gelehrt werden. Auch deshalb ist mit diesem Argument keine inhaltliche Abgrenzung der Osteopathie zu begründen.

      ZUSAMMENFASSUNG

      Wie dargelegt wurde, existieren vor allem in Hinblick auf Stills ursprünglichen Ansatz einige Hinweise auf tatsächlich originäre Überlegungen. Als Alleinstellungsmerkmal für die heutige Osteopathie können sie aber nicht mehr gelten, da sie größtenteils nicht mehr konsequent oder nur fragmentarisch umgesetzt werden. Modernere Argumente halten allesamt einer medizinhistorischen Prüfung und dem kritischen Blick auch auf die Alltagswelt der Gesamtmedizin nicht stand. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Heterogenität der Osteopathie eine nur teilweise und nicht selten unterschiedliche Darstellung der einzelnen Argumente zur Folge hat. Die bereits angesprochene, aber innerhalb der Osteopathie-Szene kaum ernstgenommene Identitätskrise verhindert zudem grundsätzlich eine einheitlich begründete Abgrenzung der Osteopathie.

      Tatsächlich scheint lediglich in Stills Schriften eine klar umrissene Identität vorzuliegen, die von ihm zudem im therapeutischen Alltag ungeachtet juristischer oder medizinischer Einschätzungen konsequent umgesetzt wurde. Allein dieser Aspekt sollte für die moderne Osteopathie bereits ausreichen, um sich wieder ernsthafter und umfassender mit den Schriften ihres Gründers zu beschäftigen. Neben der Tatsache, dass die Osteopathen nach Still es offensichtlich versäumt haben, sich ernsthaft mit seinem therapeutischen Gesamtkontext auseinanderzusetzen, trifft dies umso mehr für seinen umfassenderen allgemeinen (philosophischen) Gesamtkontext zu, innerhalb dessen der therapeutische Kontext mit seinen Einzelaspekten zwar einen bedeutenden, aber eben nur einen Bereich darstellt. Hierauf bezogen gibt es in der Osteopathiegeschichte nur sehr wenige, wirklich ernstzunehmende Arbeiten, die ich im nachfolgenden Kapitel kurz aufführen möchte.

      Bereits 1919 verfasste E. Tucker einen Artikel mit dem Titel Dr. Still, the Metaphysician, wobei Tucker jedoch im Wesentlichen seine eigenen Vorstellungen zur Metaphysik auf Still übertrug. Eine kritische Überprüfung bzw. Darlegung an konkreten Beispielen bleibt er uns jedenfalls schuldig [Tucker 1919]. Ansonsten finden sich bis vor etwa 20 Jahren nur fragmentarische Abhandlungen von geringem wissenschaftlichem Wert zum Thema. Ein Grund für diesen Stillstand mag auch darin liegen, dass man bereits vor ca. 100 Jahren am A. T. Still Research Institute in Pasadena erstmals den Versuch unternommen hatte, Stills Schriften auf einfache Prinzipien zu reduzieren. Die daraus entstandenen vier Grundsätze wurden 1953 im Auftrag der American Osteopathic Association (AOA) am damaligen Kirksville College of Osteopathic Medicine (KCOM) nochmals untersucht und geringfügig überarbeitet [Gevitz 2006]. Diese AOA-Lehrsätze wurden später auch von den meisten Osteopathie-Verbänden außerhalb der USA weithin anerkannt; und so sah man offensichtlich keine Notwendigkeit mehr, sich mit der Materie weiter auseinanderzusetzen. Dies galt umso mehr, als Stills Originalschriften lange Zeit nicht mehr verfügbar waren. Da die Richtlinien keiner weiteren kritischen Überprüfung unterzogen wurden, fiel demzufolge auch bis heute nicht auf, dass die philosophischen Aspekte in Stills Schriften dabei gänzlich unbeachtet blieben.

      Erst mit der Wiederauflage der vier Bücher Stills im Jahr 1994 sowie einer Vielzahl seiner Artikel [Schnucker 1991] und dem damit verbundenen Aufblühen der Forschung zur Osteopathiegeschichte trifft man wieder zunehmend auf Arbeiten, die sich ernsthaft dem Philosophie-Begriff Stills widmen [McKone 2001, Pöttner und Hartmann 2005, McGovern 2013, Paulus 2015]. Die wissenschaftlich bedeutsamste Veröffentlichung stellt hierbei meines Erachtens das umfassende Vorwort des Religionswissenschaftlers und Philosophen Martin Pöttner zu Das große Still-Kompendium dar [Still 2005, xii-xxix]. Ihr zur Seite gestellt werden kann zudem die bemerkenswerte und leider unveröffentlichte Masterarbeit des kanadischen Osteopathen Matvey Kipershtein [Kipershtein 2013]. Das vorliegende Buch bildet nun die jüngste und umfassendste Veröffentlichung zum Thema. Der Fokus wird hierin auf den philosophischen Gesamtkontext in Stills Schriften gelegt. Die sich erst sekundär daraus ableitenden praktisch unmittelbar relevanten Aspekte und ihre Bedeutung – bezogen auf die Osteopathie als Ganzes und den Osteopathen als Person – werden ebenfalls angesprochen. Eine umfassendere Ausführung zum Themenkomplex Philosophische Osteopathie finden sie im Vorwort des vorliegenden Werkes.

      Noch eine kurze Bemerkung zu Stills Texten im Zusammenhang mit dem Begriff der Spiritualität, der in einigen Strömungen


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