Herbst. Ben B. Black
sogen gierig die muffige Luft der Gefängniszelle in die Lungen. Langsam beruhigte sich auch der Herzschlag, der bis eben ein wahres Trommelfeuer gewesen war.
Doch der Frieden täuschte. Obwohl Martins Körper jetzt Ruhe gefunden zu haben schien, war sein Geist noch immer aufgewühlt – gefangen in den Schreckensszenen, die sich seinen omnipräsenten mentalen Augen boten.
Kurz verschwamm das Bild, das er bis eben gesehen hatte, dann richtete sich der Fokus seiner Wahrnehmung auf eine andere Stelle Bonns. In einer kleinen Seitenstraße kämpfte eine Gruppe Soldaten ums nackte Überleben, in ihren Blicken war blanke Panik zu erkennen.
Doch so sehr sie sich auch wehrten, der Ring der Zombies zog sich immer enger um sie zu. Für jeden der Untoten, der einem gezielten Schuss zum Opfer fiel, rückten zwei weitere nach. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Soldaten all ihre Munition verschossen hatten, dann würden sie noch einen kurzen Moment mit Hilfe ihrer Messer und Klappspaten standhalten können, bevor sie bei lebendigem Leib gefressen wurden.
Der erste der Männer schrie mit einem unmenschlich scheinenden Laut der Verzweiflung auf, als ihm einer der Zombies den rechten Arm aus dem Schultergelenk riss, während sich ein zweiter der Untoten erst gar nicht diese Mühe machte, sondern einfach zubiss.
Aus aufgerissenen Augen starrte der Soldat auf das, was einmal seine Schulter gewesen war, doch bevor er ein weiteres Mal schreien konnte, wurde seine Kehle von gierigen Klauen zerfetzt, und sein Leben verrann zusammen mit dem leiser werdenden Blubbern, das von der Stelle kam, wo einmal die Luftröhre gewesen sein musste.
Martins Geist war gerade im Begriff, auch von dieser Szene wieder fortgerissen zu werden, als er in der Dunkelheit eines nahen Hauseingangs etwas wahrnahm, das noch schwärzer zu sein schien als eine mondlose Nacht. Unwillkürlich stemmte sich sein Bewusstsein gegen den Druck, der es an eine andere Stelle spülen wollte. Tatsächlich ließ das Zerren nach und verschwand schließlich ganz.
Der Schatten war immer noch da, und obwohl es eigentlich unmöglich schien, vermeinte Martin, die Kontur eines Mannes zu erkennen, der der grausigen Szene auf der Straße mit Interesse, wenn nicht gar Begeisterung, zu folgen schien.
Täuschte er sich, oder bewegte sich der Schattenmann? Ja, er sah es jetzt ganz deutlich: Der Schwarze rieb sich die Hände und nickte beifällig.
Bevor Martin jedoch weitere Einzelheiten erkennen konnte, wurde das Bild mit einem Mal wieder unscharf. Ein kurzer Ruck, und er fand sich auf einer breiten Straße am Ortsrand wieder.
***
Mitten in dem Strom aus untotem Fleisch ging ein einzelner Mann. Seine Haltung war aufrecht, und die Art, wie er sich bewegte, hatte nichts mit dem Torkeln und Hinken der Zombies gemein. Es machte ganz den Eindruck, als wäre er ein normaler Mensch, aber obwohl er keiner der Untoten war, gehörte er auch nicht zu den Lebenden.
Immer wieder stieß der Mann einen der Zombies unsanft zur Seite, wenn sie ihm im Weg waren oder auch nur zu nahe kamen. Diese ließen sich das gefallen, ohne ihn zu attackieren, wie sie es bei jedem anderen getan hätten.
Der Mann hatte seinen Kopf in der Art der Wüstennomaden verhüllt, sodass sein Gesicht im Schatten lag und nicht zu erkennen war. Trotzdem verriet die verbrannte Haut seiner Hände, dass es sich um Frank, den General der Zombie-Armee, handelte.
Mit grimmiger Entschlossenheit trieb er seine Soldaten immer wieder an, peitschte die Gier nach frischem Fleisch in ihnen zu immer neuen Höhen, und ließ sie unnachsichtig gegen den Widerstand der verzweifelten Verteidiger anbranden.
Jedes Mal, wenn wieder ein Mensch seinen Zombies zum Opfer fiel, spürte Frank ein kurzes Gefühl der Befriedigung, denn er hatte seinem Herrn und Meister eine weitere Seele zugeführt. Darüber hinaus wurde jeder überwundene Verteidiger nach kurzer Zeit ein neues Mitglied in Franks Armee, sodass sich das Kräfteverhältnis immer mehr zu Gunsten der Untoten verschob.
Heute Nacht lief es gut für ihn – sehr gut sogar. Bald würde er vor Sandra stehen, und ihr würde nichts anderes übrigbleiben als zu erkennen, dass eine neue Weltordnung begonnen hatte, eine Weltordnung, in der er zu den Mächtigen gehörte, die das Sagen hatten. Und Macht hatte auf Frauen zu allen Zeiten anziehend gewirkt, das würde bei ihr nicht anders sein, da war er sich sicher.
***
Der Donner einer gewaltigen Detonation rollte durch die Richard-Wagner-Straße, dicht gefolgt von zwei weiteren Explosionen. Die Vorderfront eines größeren Gebäudes stürzte ein, ergoss sich auf den Strom der Zombies und brachte ihn zum Erliegen.
Aus zwei Seitenstraßen kamen etwa fünfzig Soldaten hervor und eröffneten das Feuer auf die Untoten, die nicht unter den Trümmern begraben waren und stupide nachdrängten. Ein paar Handgranaten flogen durch die Luft, landeten inmitten der lebenden Leichen und rissen eine Sekunde später mehrere Löcher in deren Reihen.
Für ein paar Minuten sah es so aus, als hätte die Gegenoffensive der Soldaten Erfolg. Vor dem Schutthaufen, der einmal eine Hauswand gewesen war, wurde der Berg der endgültig Toten höher und höher. Nur noch wenige der Zombies schafften es, diesen zu überklettern, was ihnen jedoch sofort gezielte Schüsse einbrachte, unter denen ihre Bewegungen endgültig erstarben.
»Ich hoffe, unsere Kameraden haben an anderer Stelle ebenso Erfolg.« Hauptfeldwebel Clemens wischte sich in einer unbewussten Geste über die Stirn. »Wenn wir es schaffen, diese Stellung noch ein paar Minuten zu halten, kann hinter uns ein neuer dauerhafter Verteidigungsring gezogen werden. Dahinter werden wir wieder in Sicherheit sein.«
»Ihr Wort in Gottes Gehörgang, Herr Hauptfeldwebel.« Stabsunteroffizier Blistel wirkte bei weitem nicht so zuversichtlich wie sein Vorgesetzter. »Sie wissen genau, dass die neue Verteidigungslinie mehr oder weniger nur ein Provisorium ist, hinter dem General Dupont unsere Kräfte für eine Gegenoffensive sammeln will. Und den ursprünglichen Ring um die Stadt haben diese Biester ja auch irgendwie überwunden.«
»Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Schwarzmalereien, Blistel. Beten Sie lieber zum Herrn, dass Duponts Strategie aufgeht.«
Doch Gottes Ohren schienen derzeit keine Gebete entgegenzunehmen, oder die Anzahl der eintreffenden frommen Wünsche war im Moment einfach zu groß, um allen nachgehen zu können. Auf jeden Fall kam neuerliche Bewegungen in den Berg der toten Untoten auf den Trümmern, als mehrere Zombies sich daranmachten, diesen gleichzeitig zu überklettern.
»Aufpassen, Männer!«, wies Blistel die Soldaten an. »Gleich gibt es für euch wieder etwas zu tun. Und zielt mir sauber, denn wir haben nicht unbegrenzt Munition!«
Als Antwort war das Klacken der Sicherungshebel zu vernehmen, als diese von S auf E gestellt wurden. Die Soldaten hoben ihre Gewehre und legten an.
»Was hat der da?«, entfuhr es einem Gefreiten in diesem Moment.
»Wer hat was, Kirchner?«, fauchte Blistel den Mann an. »Halten Sie das etwa für eine ordnungsgemäße Meldung?«
»Nein, Herr Stabsunteroffizier.« Kirchner räusperte sich. »Gefreiter Kirchner, ich melde, dass einer – korrigiere – mehrere der Zombies einen Gegenstand in der Hand halten, der verflucht nach einer Handgranate aussieht.«
»Scheiße, jetzt sehe ich es auch!« Clemens riss die Augen auf. »Schießt, Männer, schießt!«
Wie ein Mann rissen Clemens und Blistel ihre Pistolen nach oben und schossen ebenfalls auf die Untoten, die auf dem Berg der toten Leiber aufgetaucht waren.
Tatsächlich gelang es den Soldaten, die Angreifer am Werfen der Handgranaten zu hindern, und jeden von ihnen auszuschalten. Doch mit dem, was jetzt passierte, hatten sie nicht gerechnet.
Als die Zombies von den Schüssen niedergestreckt wurden, fielen ihnen die Granaten aus den Händen, mitten zwischen die aufgetürmten Leichen. Dort detonierten sie und rissen, begleitet von einem ekelhaften Schmatzen, eine Lücke in die Barriere der Toten.
Als hätten ihre Kameraden dahinter nur darauf gewartet, ergossen sie sich jetzt durch diese Lücke, dabei trug jeder von ihnen ein geeignetes Körperteil eines der endgültig Toten