Amorphis. Markus Laakso
III. Quellen
VORWORT
KANN SO ETWAS AUS FINNLAND KOMMEN?
AMORPHIS SCHLUGEN BEI mir auf Anhieb voll ein. Wie Tausende meiner Gesinnungsgenossen fand ich neue Bands in den frühen neunziger Jahren hauptsächlich über die wöchentliche Radiosendung Metalliliitto, Finnlands einziges Radioprogramm, das auch extremeren Metal präsentierte. Ich liebte Moderator Klaus „Klasu“ Flaming für seinen betont sachlichen Stil. Der Kontrast zwischen seiner makellosen Hochsprache und dem musikalischen Inhalt der Sendung war oft zum Brüllen komisch und die gewählte Ausdrucksweise widerlegte elegant das damals gängige Klischee, demzufolge nur zurückgebliebene Dumpfbacken Metal hörten. Death Metal, diese animalische Unmusik, war noch eine Kaste tiefer. Diese Typen sangen ja noch nicht einmal, sondern knurrten wie in die Enge getriebene Rottweiler, sodass man kein Wort verstand. Wie konnte bloß irgendwer sowas gut finden?
Auch ich dachte zuerst ähnlich, bis mich SLAYER und SEPULTURA eines Besseren belehrten. Ich erlag dem Reiz brutalerer Gesangsstile und dürstete nach mehr, doch in der Zeit vor dem Internet gab es nur wenig Möglichkeiten, Neues kennenzulernen.
Wenn Metalliliitto lief, hatte ich stets den Finger auf der Aufnahmetaste des Kassettenrekorders, um nur ja keine Perle zu verpassen. Am 6. 1. 1993 geschah etwas Unerwartetes. Eine unheilschwangere, primitive Death-Metal-Nummer mit einer stilsicheren Gitarrenmelodie bohrte sich nicht nur in meine Gehörgänge, sondern strömte gleich direkt in den Blutkreislauf. Vom Sound her klang das Stück schwedisch, doch die Melodie kam von ganz woanders her. Sie hatte etwas Bekanntes und gleichzeitig einen exotisch-orientalischen Touch. Die Komposition als solche war nicht besonders ungewöhnlich, aber die Mischung war etwas Neues, Einzigartiges. Verstärkt wurde der Effekt durch grabestiefe Growls, die sich klar von der Masse abhoben.
Klasu spielte das Stück nicht ganz zu Ende, erzählte jedoch nach dem Fadeout, dass es sich um Warriors Trial von The Karelian Isthmus handelte, dem soeben erschienenen Debütalbum von AMORPHIS, und begrüßte im gleichen Atemzug die Bandmitglieder Tomi Koivusaari und Esa Holopainen zu einem Interview. „Was zum Teufel, sind das Finnen? Kann sowas aus Finnland kommen?! Da muss ich mehr von hören!“, fuhr es mir durch den Kopf. Am nächsten Tag marschierte ich in den Plattenladen.
Als anderthalb Jahre später Tales From The Thousand Lakes erschien, war meine Verblüffung noch weit größer. Nach diesem grenzüberscheitenden, experimentellen Meilenstein schien bei dieser Band alles möglich zu sein. Und es gelang ihr tatsächlich immer wieder, zu überraschen. Ob mit kühnen Stilwechseln, unkonventionellen Instrumenten, Mitgliederwechseln oder was auch immer – das Schicksal hatte AMORPHIS zu Pionieren bestimmt. Dies führte sowohl zu Preisen und Goldenen Schallplatten als auch zu Tiefschlägen und finanziellen Durststrecken.
Die erste Inspiration zu diesem Buch verspürte ich 2006, als ich Holopainen und Tomi Joutsen im Helsinkier Restaurant Ateljé für das finnische Metalmagazin Inferno interviewte. Als ich ihren spannenden Tatsachenberichten lauschte, wunderte ich mich, warum diese eigentlich noch nie irgendwer in Buchform festgehalten hatte. Meiner Erinnerung nach äußerte ich die Idee erstmals drei Jahre später gegenüber Joutsen, als ich ihn erneut für dieselbe Zeitschrift interviewte. Nach weiteren drei Jahren war sie so weit herangereift, dass ich sie einem Verlag unterbreitete. Noch einmal drei Jahre dauerte es, bis die unglaublichen Abenteuer dieser wohl einflussreichsten Musikantenvereinigung Finnlands nun endlich zwischen zwei Buchdeckeln zu finden sind.
Im Nachhinein betrachtet, erinnert der Entstehungsprozess dieses Buchs an die Entwicklung der Band selbst: voller Höhen, Tiefen und unvergesslicher Erlebnisse. Das Projekt wurde durch einen Wasserschaden bei mir zuhause und mehrere Festplattendefekte gebremst. Das Manuskript entstand unter vier verschiedenen Adressen auf fünf verschiedenen Computern, von denen einer gleich dreimal kaputtging. Das Opus führte mich an den Frühstückstisch von Holopainens Eltern, in die Gesellschaft von Metallica-Sänger James Hetfield backstage beim Sonisphere und in Jens Bogrens weltbekanntes Studio Fascination Street, wo ich der Entstehung des jüngsten Amorphis-Albums beiwohnen durfte. Nichts davon hätte ich mir vorstellen können, als ich vor 22 Jahren auf Rec drückte, um Warriors Trial auf eine TDK-Kassette zu bannen.
Mein Ziel war eine möglichst vielseitige und umfassende Schilderung der Bandgeschichte, die nicht nur informativ sein soll, sondern gleichzeitig so amüsant und unterhaltsam wie die Anekdoten der Bandmitglieder. Neben allen heutigen und früheren Mitgliedern von AMORPHIS kommen in diesem Buch auch viele Mitwirkende aus dem Umfeld der Band zu Wort. Um die Zeitreise im DeLorean von AMORPHIS noch anschaulicher zu gestalten, ist sie mit zahlreichen Fotos aus den Privatarchiven der Bandmitglieder illustriert.
Diese Geschichte erzählt von Freundschaft, Unbeugsamkeit, Durchhaltewillen, Talent, Ehrgeiz und bedingungsloser Liebe zur Musik. Ich wünsche dir beim Lesen ebenso viel Spaß wie ich beim Schreiben hatte!
Kuopio, den 18. 05. 2015
Markus Laakso
1. „SIE HATTE SOGAR EINEN NAMEN: ISOLOHKO“
SIE NANNTEN IHN den Heavy-Kiosk. Niemand wusste, wer ihn eigentlich betrieb, und geöffnet war er anscheinend auch nie. Trotzdem hatte sich der alte Holzkiosk am Rande des Esplanadi-Parks zu einem Szenetreff entwickelt, an dem Langhaarige und Lederjackenträger am Wochenende abhingen und ihr mitgebrachtes Dosenbier konsumierten. Die wenigsten kannten sich gegenseitig näher, aber man hatte sich zumindest schon einmal bei einem der Metalgigs in den Jugendzentren oder im Rockclub Lepakko gesehen. Viele kamen aus der Nachbarstadt Vantaa oder sogar von noch weiter her, um alte Freunde zu treffen und neue kennenzulernen. Am Heavy-Kiosk traf sich die gesamte Death-Metal-Szene der Hauptstadtregion, sofern damals von einer Szene überhaupt die Rede sein konnte.
Helsinki war in den achtziger Jahren wesentlich engstirniger und konservativer als in der von kultureller Vielfalt geprägten Gegenwart. Abweichungen von der Norm wurden nicht gerne gesehen. Manchmal setzte es schon ein blaues Auge, nur weil die Haare etwas zu lang waren. Auch am Heavy-Kiosk gab es öfters Ärger. Mit unschöner Regelmäßigkeit kam die Roma-Bande von Klein-Henkka vorbei, um die Teenager zu terrorisieren. Gegen die Konfrontation half nur eins: Fersengeld. Diejenigen, die den Angreifern in die Hände fielen, wurden um Bares, Zigaretten, Alkohol und sonstigen Kleinkram erleichtert. Wer sich wehrte, bekam eins aufs Maul. Langhaarige fanden schon gar keine Gnade. Wenn die Gefahr vorüber war, kehrten die Davongekommenen zurück und das nächste Bier wurde aufgemacht.
Eines Freitagabends starteten die Roma wieder einmal einen lautstarken Überraschungsangriff auf den Heavy-Kiosk. Einer von ihnen fing an, Tränengas auf die Metaller und Punks zu sprühen. In Panik zerstreuten sich die Anwesenden in alle Himmelsrichtungen und niemand kapierte, was genau eigentlich los war. Die Augen brannten, der Hals war wie zugeschnürt, aber die Füße funktionierten. Ein Fünfzehnjähriger aus Haaga und ein Dreizehnjähriger aus Martinlaakso wählten inmitten des Chaos dieselbe Fluchtrichtung. Sie verstanden sich auf Anhieb, doch es