Amorphis. Markus Laakso
der Gesamtschule Haaga war es nichts Ungewöhnliches, dass die Kids eigene Schallplatten in die Musikstunde mitbringen und der Klasse vorstellen durften. Eines Tages im Jahr 1984 hatte Holopainens Klassenkamerad Miika Savi das neue DEEP PURPLE-Album Perfect Strangers dabei. Die Nadel senkte sich, das Vinyl knisterte und Knocking At Your Back Door begann mit einem düster verzerrten Riff aus John Lords Hammond. Hinzu kam Roger Glovers Bass, dessen Dramatik einem Actionfilm Ehre gemacht hätte. Das hypnotisch pulsierende G glich einem angsterfüllten Herzschlag. Ian Paice setzte mitten im Takt ein und leitete auf das Hauptriff über, das von Lord und Richie Blackmore im Duett gespielt wurde. Als Ian Gillan die ersten Zeilen schmetterte, wusste der Siebtklässler, wo seine Bestimmung lag.
„Knocking At Your Back Door war der Startschuss. DEEP PURPLE war die erste Band, für die ich mich richtig begeistern konnte. Davor hatte ich schon IRON MAIDEN und so weiter gehört, aber eher deswegen, weil meine Kumpels die auch hörten. MAIDENs Powerslave (1984) kam etwa zur gleichen Zeit raus, aber Perfect Strangers hinterließ einen bleibenden Eindruck“, erinnert sich Holopainen.
Das musikalische Erwachen führte dazu, dass sein Plattenregal sich mit Klassikern füllte: PINK FLOYDs The Wall (1979), Ozzy Osbournes Bark At The Moon (1983) sowie IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST. Auch Musik im weiteren Sinne begann ihn zu interessieren. In der Helsinkier Eishalle gaben sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre zahlreiche angesagte Metalbands die Ehre. Sein erstes Konzert in dieser Halle sah Esa mit 14, als IRON MAIDEN auf ihrer Somewhere in Time-Tour-Runde am 12. 11. 1986 in Helsinki Station machten. Die Show mit ihrer Weltraumthematik war ein so überwältigendes Erlebnis, dass er sich danach alle in der Eishalle gastierenden Bands ansah, sofern sie ihn auch nur ansatzweise interessierten.
„Was mir von dem MAIDEN-Gig am meisten im Gedächtnis blieb, war die geballte Energie: die ganze Zeit volles Rohr, die Band hatte das Publikum total im Griff, alle reckten die Fäuste in die Luft wie im Rausch. So ähnlich funktionieren wohl auch Massenveranstaltungen von religiösen Sekten: Es ist leicht, sich von der Begeisterung anstecken zu lassen. Zum Glück war’s bei mir IRON MAIDEN und nicht irgend so’n Prediger. Die Bühnenshow war der absolute Hammer, sowohl bei der Somewhere- als auch bei der Seventh Son Of A Seventh Son-Tour. Vor allem, als Eddie auf die Bühne kam. Das war ganz großes Kino. Faszinierend ohne Ende.“
Aufmerksamkeit weckte neben Bühnenbild und Dramaturgie auch das nahtlose Zusammenspiel von Adrian Smith und Dave Murray. Die Gitarristen waren auf der Bühne gleichberechtigt: Beide spielten sowohl Rhythmus- als auch Leadgitarre und ergänzten sich gegenseitig, anstatt einander Konkurrenz zu machen. Vor allem jedoch verliehen die reichlich vorhandenen Gitarrenharmonien den Melodien mehr Saft und den Arrangements mehr Kraft. Dem war zwar auch auf Platte so, aber von den Sitzrängen aus zu sehen, wie genau diese Harmonie entstand, war ein Schlüsselerlebnis. Ähnlich beeindruckend waren etwas später die Konzerte von DEEP PURPLE und METALLICA am selben Ort. Die eigenen Helden auf der Bühne zu erleben, weckte den Traum, selbst Musiker – vielleicht sogar Rockstar – zu werden, und motivierte zu Taten.
„Mein Interesse an der Gitarre begann mit der Power, die von der Bühne in der Eishalle ausging. Dazu kam, dass Gitarristen etwas Heldenhaftes an sich hatten. Die Achtziger waren ja das goldene Zeitalter des Gitarrensolos. Und die langen Solos vor großer Kulisse machten natürlich Eindruck. Das hatte einfach was. Ich hätte mir für mich gar kein anderes Instrument vorstellen können“, so Holopainen.
Beflügelt von diesen Erlebnissen lag Esa seinen Altvorderen alsbald mit dem Wunsch nach einer E-Gitarre in den Ohren. Die Eltern wollten jedoch erst einmal testen, ob das Interesse ernsthaft oder vielleicht doch nur eine vorübergehende Laune war. Sie besorgten dem Sohn eine klassische Gitarre und versprachen, ihm eine elektrische zu kaufen, wenn er gut genug spielen könne. Der Gitarrist in spe verbarrikadierte sich mit der akustischen in seinem Zimmer. Zuerst klimperte er Songs nach Gehör, doch bald nahm er auch Unterricht. Sein Onkel Tuure Holopainen, von Beruf Schlagzeuger und Sänger, empfahl als Lehrer seinen alten Bandkollegen Kauko Piipponen.
„Kauko war Hausmeister, so richtig vom alten Schlag. Weil die Gitarre Nylonsaiten hatte, sollte ich im klassischen Stil mit Fußstütze spielen. Er hatte selbstgeschriebene Übungshefte, für die er natürlich Geld haben wollte. Nach den handgekritzelten Noten sollte ich dann spielen lernen. Wurde natürlich nichts draus, zumal er pädagogisch eine glatte Null war. Ich war ein paarmal da, bis ich meinem Vater sagte, dass ich da nicht mehr hinwollte, weil es einfach keinen Sinn hatte. Danach hab ich erstmal ’ne Zeitlang gar nicht gespielt.“
Im Sommer 1987 bekam Esa jedoch von seiner Großmutter eine schwarze Ibanez Roadstar II zur Konfirmation, dazu einen kleinen Verstärker ohne Effekte. Es dauerte lange, bis ihm klar wurde, dass er Pedale brauchen würde, um verzerrte Sounds zu produzieren. Die Gitarre war ein Basismodell mit verschraubtem Hals, Tremolo und einem Humbucker. Holopainens Interesse währte eine Weile und ließ dann wieder nach. Es erwachte erst nach ein oder zwei Jahren wieder, als Freunde von ihm ebenfalls anfingen, Musik zu machen. Gemeinsam herumzuschraddeln machte Spaß und half beim Überwinden sozialer Hemmungen. Der in der Schule befindliche Proberaum wurde zum Zentrum der gemeinsamen musikalischen Aktivitäten.
„Wir hatten in Haaga sowas wie – wie soll ich’s nennen – die Vorstufe einer Band. Sie hatte sogar einen Namen: ISOLOHKO. Gesungen hat Aba, ein gnadenloser NAPALM DEATH-Fan, am Bass stand ein gewisser Pera, und wer war doch gleich am Schlagzeug? Immer wenn wir Zeit hatten, trafen wir uns und ließen es krachen. Das war im Grunde meine erste Banderfahrung.“
ISOLOHKO spielte nur eigene Stücke, so man sie denn als solche bezeichnen konnte. Das Zusammenspiel war nicht im Geringsten koordiniert: Esa feuerte Riffs in die Gegend, Pera hämmerte auf dem Bass herum, der Drummer versuchte, im Takt zu bleiben, und Aba grölte nach dem Zufallsprinzip ins Mikro. Dem Feeling tat das keinen Abbruch: Energie und Lautstärke der Bandproben machten süchtig, und das Gemeinschaftsgefühl war unglaublich. Hinterher gab es nur einen Gedanken: Wann proben wir das nächste Mal?
Der erste und einzige Gig von ISOLOHKO fand in der Mittelstufendisko statt. Es war Esas erster öffentlicher Auftritt als Gitarrist. In der Turnhalle waren Bänke für die Zuhörer aufgestellt. Die Musiker bauten fiebernd vor Aufregung ihre Ausrüstung auf und legten los. Auf der Bühne herrschte Bombenstimmung, im Publikum eher Verwirrung. Außer den Bandmitgliedern hatte niemand im Saal jemals Grindcore gehört, woran die Kakophonie von ISOLOHKO noch am ehesten erinnerte. Ein komplettes Fiasko war die Show trotzdem nicht, eher eine wertvolle Lektion in den Grundlagen des Rock’n’Roll.
„Vor Publikum zu spielen ist etwas völlig anderes, als im Proberaum zu lärmen. Du hast aufnahmebereite Leute vor dir, und es herrscht eine ganz andere Spannung und Energie. Das hat sich in all den Jahren nicht geändert. Ich hab erst später gelernt, dass Gigs eine interaktive Angelegenheit sind. Das Publikum gibt viel von dem zurück, was du ihm gibst. Als Musiker fühlst du dich wohl, wenn’s den Leuten gefällt. Damals in der Turnhalle war eine Austauschklasse aus Norwegen da. Die norwegischen Mädels quatschten uns direkt nach dem Gig an. In dem Moment merkte ich, dass Musizieren positiv auf das andere Geschlecht wirkt. Kein Wunder, dass sich Jungs im Teenageralter dafür interessieren“, scherzt Holopainen.
Die Geschichte von ISOLOHKO war kurz, machte jedoch Lust auf mehr. Der junge Gitarrist wollte mehr aus seinem Instrument herausholen und sich musikalisch weiterentwickeln. Er beschloss, wieder Unterricht zu nehmen. Diesmal war keine Fußstütze gefordert. Der neue Lehrer war Petteri Hirvanen aus der Nachbarstadt Espoo, der tagsüber im Musikgeschäft Musamaailma arbeitete.
„Hirvanen war der Gitarrensuperheld von Helsinki. Er hatte immer Fans um sich rum, wenn er bei Musamaailma seine Show abzog. Ich nahm ein Jahr lang bei Petteri Stunden. Hatte sicher auch einiges davon, wobei es freilich meistens so war, dass Petteri tierisch verkatert war und Schwänke aus seinem Leben erzählte. Hirvanen war ein Shredder vom klassischen Typ, sodass wir vor allem Arpeggiotechniken durchgingen. Die Theorie blieb außen vor. Wir versuchten quasi, das Pferd vom Schwanz aufzuzäumen. Weder Piipponen noch Hirvanen taugten viel als Pädagogen, aber mit Petteri war es zumindest lustig.“
Letztendlich war jedoch der Weg zu den Gitarrenstunden zu lang und umständlich. Der Fünfzehnjährige musste mit dem Bus zuerst von Haaga in die Helsinkier