Amorphis. Markus Laakso

Amorphis - Markus Laakso


Скачать книгу
hab’ bis heute keine Ahnung, was da eigentlich passiert ist. Tomi war allein zuhause, weil seine Eltern verreist waren. Sein Vater war Jäger, und zuhause lagen Waffen rum. Es kam völlig überraschend. Auch Rautiainen hatte sich voll auf den Auftritt gefreut. Die Sache hat uns ziemlich erschüttert“, sagt Koippari mit leiser Stimme.

      Für die mitten im sensiblen Teenageralter steckenden Jungen war es schwierig, den Tod ihres Freundes zu verkraften. Das Geschehene erschien ihnen unfassbar. Rautiainen hatte weder unter Depressionen gelitten noch jemals selbstzerstörerische Gedanken geäußert. Er wurde einfach eines Tages tot zuhause aufgefunden. Leider sollte sein Tod kein Einzelfall bleiben.

      „Um die Zeit rum brachten sich fünf Typen aus Martsari vor ihrem 18. Geburtstag um: sprangen vom Dach, erschossen sich, warfen sich vor den Zug oder schluckten Tabletten“, seufzt Koippari. „Das war so eine kranke Mode, völlig sinnlos. Unbegreiflich.“

      Auch die Eltern von Rautiainen und Koivusaari kannten sich und sprachen tagelang miteinander über den Tod des einzigen Kindes. Der Auftritt als Vorgruppe von PRESTIGE in Kauniainen wurde abgesagt, und VIOLENT SOLUTIONs Zukunft stand auf Messers Schneide. Die Band beschloss jedoch, auf der Gedenkveranstaltung für Rautiainen im Jugendzentrum von Klaukkala zu spielen. Die Drums übernahm Pete Eklund, der später in einer Plattenfirma und als Videoregisseur Karriere machte. Seine vielseitigen Fills und das phänomenale Tempo, mit dem er das Doppelbasspedal bediente, beeindruckten die anderen, und er wurde auf der Stelle fest engagiert. Gleichzeitig zogen VIOLENT SOLUTION vom Schulproberaum in Martinlaakso in die Garage von Eklunds Eltern nach Klaukkala um.

      „Wir blieben oft übers Wochenende in Klaukkala, um Scheren, Tritten und Fäusten zu entgehen. Damals hattest du’s als Langhaariger nicht leicht. Wir probten tagsüber und suchten uns abends draußen ein ungestörtes Plätzchen zum Biertrinken. Eklunds Vater nahm unsere Proben oft auf Video auf. Er konzentrierte sich immer auf Petes megaschnelle Bassdrums“, lacht Koippari.

      Der Musikgeschmack der Bandmitglieder wurde schrittweise härter, auch wenn die Entwicklung nicht bei allen gleich schnell verlief. Schon bald buchte man eine eintägige Session im Studio Syke Oy in Nurmijärvi. Das Line-up bestand aus Sänger und Gitarrist Rechberger, Gitarrist und Backgroundsänger Koivusaari, Schlagzeuger Eklund und Bassist Miika Kulinock. Die Band hatte im Voraus beschlossen, welche Songs sie aufnehmen wollte, weswegen sämtliche Killerriffs, die ihnen vor dem Studiotermin noch einfielen, in Spreads Of Insanity integriert wurden. Das Stück wurde schließlich zwölfeinhalb Minuten lang. Das am 03. 09. 1989 aufgenommene und gemischte Demo erhielt den Namen Disorder Of Composure. Das Artwork stammte von Koivusaaris und Rechbergers Nachbarn Mikael „Arkki“ Arnkil, später Drummer von ANTIDOTE und Bassist von IMPALED NAZARENE. Die Kassette wurde vom Rockmagazin Rumba mit Lob bedacht und enthielt vier Songs: Spreads Of Insanity, Disorder Of Composure, Eternal Misantropy und das 8 Sekunden lange Ballad To Ballad.

      „Ich hab mal gezählt: das erste Stück hat 28 verschiedene Riffs und keine Passage wiederholt sich“, kommentiert Koivusaari. „Stone kamen gerade groß raus und es herrschte das Gefühl, dass auch aus Finnland coole Sachen kommen können. Wir verfolgten aufmerksam die Demosendung von Klaus Flaming. Er spielte sogar ein Stück von uns. Unsere Klassenkameraden hörten es auch. War schon sehr geil, ins Radio zu kommen. Snoopy war noch nicht mal im Stimmbruch, oder so klingt sein Gesang zumindest.“

      VIOLENT SOLUTION mit Freunden backstage vor einem Auftritt, 1989.

      Rechberger verstand sich nie als Sänger, obwohl er den Ton halten konnte und einen Sinn für Melodien hatte. Der Job war ihm eher versehentlich zugefallen, weil er seinerzeit unbedingt zusammen mit Koivusaari spielen wollte und bei THE ANIMALS nur der Platz am Mikro frei war. Er beschreibt seinen Vokalstil bei VIOLENT SOLUTION mit Worten wie „Kreisch-Growl-Versuche“ und „Thrash-Gegröle“. Akzentuiert wurden die brutalen Lautäußerungen durch unfreiwillige Kiekser – Begleiterscheinung des Stimmbruchs.

      „Unsere Mucke war ziemlich krasser Prog, wenn ich das so sagen darf“, schildert Snoopy. „Wiederholungen gingen gar nicht. Disorder Of Composure hatte noch mehr Riffs als Spreads Of Insanity, über 30. Obwohl wir selber Musik hörten, in der Wiederholungen die Regel waren, kapierten wir nicht, dass ein Songbestandteil ruhig mehrmals vorkommen darf.“

      Koivusaaris früheste musikalische Erinnerung besteht darin, wie er zuhause „mit riesigen Kopfhörern“ dem 1976 erschienenen Solodebüt von Freeman lauschte. Der schnauzbärtige Popsänger hatte damals einen Megahit namens Ajetaan tandemilla, der zu Tomis erstem Lieblingslied wurde. 1982 folgte Nuku pommiin von Kojo, das von den finnischen Rocklegenden Jim Pembroke, Juice Leskinen und Otto Donner als Eurovisionsbeitrag geschrieben worden war, allerdings keine Punkte erzielte. Koivusaari nahm das Stück vom Fernseher auf, indem er den Kassettenrekorder vor den Lautsprecher hielt. „Timo Kolli, ein Nachbarsjunge, der später bei TWILIGHT OPHERA Schlagzeug spielte, war damals drei Jahre alt. Er kreischte rum, als ich am Aufnehmen war. Ich fuhr ihn an: ‚Sei still, ich versuch’ aufzunehmen!‘ Das alles war natürlich auf der Kassette zu hören.“

      In Tomis Verwandtschaft gab es zahlreiche Musiker, sowohl mütterlicherseits als auch in der Familie seines Vaters Pekka, zu der er allerdings praktisch keinen Kontakt hatte. Seine Mutter Helena hatte eine schöne Stimme und sang gerne. Sie spielte auch Theater und nahm den Sohn oft zu Proben und Aufführungen mit. Tomi konnte die Dialoge der Stücke oft auswendig, da er seiner Mutter beim Üben half.

      „Ich kam schon als kleines Kind mit Bühnen und Musik in Kontakt. ABBA, BACCARA, Katri Helena und finnische Schlager liefen bei uns fast pausenlos. Mein biologischer Vater, so hab ich mir sagen lassen, drehte immer seine Lieblingsband URIAH HEEP voll auf, wenn er mit meiner Mutter stritt, als ich im Krabbelalter war. Mein Stiefvater Jukka dagegen hörte hauptsächlich finnische Evergreens wie Olavi Virta und RAUTAVAARA. Später verdiente ich mir ein bisschen Taschengeld damit, ihm die alten Klassiker auf der Gitarre beizubringen. Manchmal jammten wir zusammen, er auf der Ziehharmonika und ich auf der Gitarre. Meine musikalischen Grundlagen erhielt ich zuhause, auch wenn unsere Geschmäcker sehr verschieden waren. Sogar mein Name war vom Musical Tommy inspiriert“, berichtet Koivusaari.

      Eine E-Gitarre hielt er erstmals bei seinem Grundschulkameraden Olli-Pekka Ollikainen in der Hand. „Olkka“ war schon damals ein talentierter Gitarrist, und einen Gleichaltrigen Heavy-Klassiker wie Stairway To Heaven spielen zu hören, weckte in Tomi den Wunsch, es selbst zu lernen. Einen zusätzlichen Ansporn lieferten die amerikanischen Schockrocker W.A.S.P. mit ihrem Video I Wanna Be Somebody.

      Bei Koivusaaris zeigte der Fernseher nur die drei finnischen Kanäle Yle TV, Yle TV2 und MTV3, die wenig Musik boten. Die Familie war jedoch öfter bei Freunden zu Besuch, die Sky Channel empfingen, einen britischen Kanal, dessen Schwerpunkt auf Musikvideos einschließlich Metal lag. Als Sänger Blackie Lawless mit seinem wilden Outfit aus Spandexhosen, bis zum Gürtel aufgerissenen Hemd, Kreissägengürtel und schwarzgrau gefärbtem Haarschopf auf dem Bildschirm erschien, war es um den Elfjährigen geschehen. Neben dem dramatischen Image packte ihn auch die rotzige, aber eingängige Musik.

      „I Wanna Be Somebody haute mich um. Tomi Rautiainen stand auf TWISTED SISTER und hatte eine Snaredrum. Ich wollte eine E-Gitarre, weil’s so cool aussah. Bei meinen Großeltern in Kainuu schrammelte ich I Wanna Be Somebody auf der Mandoline. Daraufhin kriegte ich von Oma und Opa 400 Finnmark für eine Gitarre. Fast hätte ich einen Bass gekauft, denn ein älterer Nachbarsjunge wollte seinen loswerden. Blackie spielte ja auf dem ersten Album Bass. Der Typ hat seinen Bass dann aber doch nicht verkauft, also wollte ich wieder eine Gitarre.“

      Mit der großelterlichen Spende, etwa 65 Euro in heutiger Währung, betrat Koivusaari den Musikladen Myyrmäen Soitin. Dort arbeitete Jukka Tolonen, einer der Väter des finnischen Progrocks. „Die hier ist voll gut!“, beschwor der international bekannte Gitarrist und drückte dem halbwüchsigen Kunden eine Shiro Sprinter-Stratkopie in die Hand. „Ja, die kann was“, stimmte Koivusaari nach kurzem Testklimpern zu.

      Er bezahlte das Instrument und nahm es mit nach Hause. Seine Meinung bezüglich


Скачать книгу