Amorphis. Markus Laakso
der er sich bisher versucht hatte. Er brachte sich das Spielen bei, indem er Songs aus dem Gedächtnis nachspielte oder zu Platten jammte. Manchmal schrammelte er einfach, was ihm gerade einfiel. Erst Jahre später lernte Koivusaari die Namen der Akkorde. Nachdem er einigen Jahren in Eigenregie gelernt hatte, beschloss er, Unterricht zu nehmen. Direkt in der ersten Stunde beanstandete der Lehrer die Art, wie Koivusaari das Plektrum hielt. Dieser war jedoch der Meinung, seine Gewohnheit nicht mehr ändern zu können, und mit dem Unterricht war es schnell vorbei.
„Ich halte das Plec wahrscheinlich heute noch völlig verkehrt“, gibt Koivusaari zu. „Mittlerweile merk ich’s selber: Mir tut schnell die Hand weh. Auch meine Spielhaltung ist ziemlich unorthodox.“ Er hatte auch kein Interesse am Üben von Technik, Geschwindigkeit oder Solos und sieht sich nach wie vor nicht als besonders technisch versierten Gitarristen. Stattdessen konzentrierte er sich auf Dinge, die ihm natürlich erschienen und wie von selbst kamen. „Um 1990 rum fing ich an, PINK FLOYD und anderen Siebzigerkram zu hören. Damals machte ich mir zum ersten Mal bewusst, dass die Gitarre auch höhere Saiten hat.“
Im Metalbereich nahm Koivusaaris Geschmack dagegen weiter an Härte zu: er begeisterte sich nunmehr für Death Metal. Gleichzeitig fand er neue Freunde, die ebenfalls auf die neue Richtung abfuhren, obwohl die Szene in Finnland noch mikroskopisch klein war. Die übrigen Mitglieder von VIOLENT SOLUTION konnten mit der bleischweren Gruftmucke nichts anfangen, sondern hielten weiterhin Speed und Trash für die Spitze der Nahrungskette. Koivusaari sagte sich von allen „softeren“ Metalgenres los, wobei auch diese Lichtjahre vom Mainstream entfernt waren.
VIOLENT SOLUTION rocken beim Koivupää Massacre, 1989.
„Damals skateten alle. Auf der Ramp lernte ich ein paar Typen aus Myyrmäki kennen, unter anderem Jussi Ahlroth. Die einzigen Langhaarigen, die in Martinlaakso zu finden waren, waren aus unserer Altersgruppe. Wir hingen zusammen ab und alle standen auf Death Metal. Zuerst entdeckten wir MORBID ANGEL, SEPULTURA und so weiter, aber über Kimmo Heikkinen tat sich ’ne ganz neue Welt auf. Er war ein fanatischer Tapetrader. Kimmo beschaffte Demos, die wir abends zusammen ancheckten. Wir tranken Johannisbeersaft und hörten ASPHYX und sowas. Eines Freitagabends beschlossen wir, eine Band zu gründen. Daraufhin stieg ich dramatisch bei VIOLENT SOLUTION aus.“
Als die Entscheidung getroffen war, griff Koivusaari zum mit zitternden Händen zum Telefonhörer und wählte Rechbergers Nummer. Die Stimme am anderen Ende quittierte die Ankündigung mit kühler Höflichkeit, und die Kameraden sahen sich erst einmal eine Weile nicht. Nach Koivusaaris Ausstieg fehlte VIOLENT SOLUTION ein Gitarrist und Songschreiber. Die Band suchte mit einer Anzeige im Rumba-Magazin Ersatz. Kurz nach Erscheinen des Blattes klingelte bei Rechbergers erneut das Telefon. Die freundliche Stimme gehörte Esa Holopainen aus Haaga – demselben Typen, mit dem zusammen Rechberger zwei Jahre zuvor am Heavy-Kiosk vor Klein-Henkkas Bande geflohen war – und bekundete Interesse an dem Gitarristenjob. Sie verabredeten ein Treffen in Martinlaakso am Wendehammer vor Rechbergers Haus.
„Ich hatte Esa in der Szene gesehen, bevor wir uns kennenlernten. Gleichgesinnte Typen kamen an den gleichen Orten zusammen, am Kiosk im Esplanadi-Park oder bei Metalgigs, und ich kannte ein paar von den Jungs, mit denen er abhing. Als Esa mich besuchen kam, hatte er eine Jackson-Flying V dabei, die er in einem Riesenkoffer mit sich rumschleppte. Ich erinner’ mich heute noch diesen Koffer, so verdammt groß war das Teil. Von Esa ging direkt ein positives Feeling aus. Er war eindeutig happy über die Gelegenheit, wieder in einer Band zu spielen. Ich fand’s auch gut, dass er sich selbst und die ganze Metalgeschichte nicht allzu ernst nahm und einen sehr bodenständigen Humor hatte. Den hat er heute noch. Das war das erste Mal, dass wir bandmäßig miteinander zu tun hatten“, erinnert sich Rechberger.
Die jungen Musiker passten auf Anhieb zusammen: Sie ähnelten sich im Naturell, begeisterten sich für dieselbe Musik und hatten eine gemeinsame Vision für VIOLENT SOLUTION. Holopainens alte Combo ISOLOHKO ging ein, weil sie nie etwas Konkretes zuwege gebracht hatte. Anstatt weiter zu warten und zu hoffen, wollte Esa in eine Band, die eigene Stücke schrieb und zielbewusst voranstrebte. In VIOLENT SOLUTION, die bereits ein Demo aufgenommen hatten, sah er Potential. Da sich Holopainen direkt bei der ersten gemeinsamen Probe nahtlos in die Gruppe einfügte, wurde er ohne Zögern aufgenommen.
„Pete war ein richtiger Schlagzeuger und hatte ein echtes Metal-Kit mit zwei Bassdrums“, erinnert sich Holopainen. „Schon allein das war beeindruckend. Die Proben waren echte Bandproben, bei denen alte Stücke geprobt und neue geschrieben wurden.“ Der Einstieg bei VIOLENT SOLUTION bedeutete einen enormen Boost für Holopainens Motivation und technische Entwicklung. Probe war einmal pro Woche, immer sonntags, aber Esa vertiefte sich auch zuhause intensiv in das neue Material. Der Ehrgeiz war gewaltig: Blamagen auf der Bühne kamen schlicht nicht in Frage. „Wir probten von Anfang an alle Stücke, die VIOLENT SOLUTION damals hatten. Bei denen waren die Riffs meist einfach aneinandergereiht, und nichts wiederholte sich. So ging es auch danach weiter, ohne jegliches Arrangement oder Konzept. Trotzdem hat es mir in meiner Entwicklung sehr geholfen, fertige Stücke zu proben und mich ein wenig in die Köpfe der anderen zu versetzen. Das hatte etwas Magisches.“
Holopainen verbrachte immer mehr Zeit mit Snoopy und der Clique aus Martinlaakso anstatt mit den alten Kameraden aus Haaga. Er lernte auch Koivusaari und dessen neue Kollegen aus der kurz zuvor gegründeten Death-Metal-Band ABHORRENCE kennen. Rechberger und Koivusaari waren sich gegenseitig nie lange böse, denn ihre Freundschaft und der gemeinsame Bekanntenkreis wogen schwerer als gelegentliche Meinungsverschiedenheiten und Bandkrisen. Wie wichtig Freunde und Bandaktivitäten für Rechberger waren, zeigt seine Entscheidung, nach der sechsten Klasse von der finnisch-russischen auf die Schule in Martinlaakso zu wechseln, die von seinen musikalischen Weggefährten besucht wurde.
Holopainen ging später in der Schulwahl sogar noch weiter als Rechberger: Er verließ die gymnasiale Oberstufe von Etelä-Haaga in der vorletzten Klasse und schrieb sich an der Berufsfachschule Myyrmäki für den Studiengang Feinmechanik ein. Auf diese Schule gingen unter anderem Koivusaari, ABHORRENCE-Gitarrist Kalle Mattsson, Ex-ISOLOHKO-Sänger Aba, Bassist Miika Kulinock von VIOLENT SOLUTION sowie Drummer Mikael Arnkil von ANTIDOTE und deren Sänger und Gitarrist Nino Laurenne, später bekannt als Gitarrist von Thunderstone und als Produzent. Esas Eltern waren verständlicherweise schockiert.
„In dem Alter schien alles möglich zu sein und niemand hielt sich mit Zweifeln auf. Ich erinner’ mich noch gut an die Phase, in der ich nichts anderes tun wollte als in einer Band spielen“, reflektiert Esa. „Es gab keine Alternativen und ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren. Alle Gedanken drehten sich um die Musik, und ich hing nur noch mit den anderen Bandmitgliedern zusammen. Uns vereinte die Leidenschaft für die Band und die Musik. Das Gemeinschaftsgefühl war so stark, dass meine sonstigen Kumpels auf der Strecke blieben und alles andere, einschließlich Schule, zur Nebensache wurde. Im Nachhinein betrachtet war das eine gute Sache, denn ich glaube nicht, dass ich heute hier wäre, wenn ich mich damals nicht so ultimativ der Band und der Musik verschrieben hätte.“
Der Gitarrist machte dennoch seinen Abschluss als Feinmechaniker. Dies ist sein einziges Berufszeugnis, wobei er später nie in diesem Fachbereich arbeitete. Die Berufsausbildung war sowohl Esa selbst als auch seinen Eltern wichtig, da es damals in Finnland so gut wie unmöglich war, von Musik zu leben. Obwohl Freunde und Metal seine Freizeit bestimmten, war Esa zuhause nie rebellisch. Auch als Teenager war er ruhig und ausgeglichen und provozierte seine Eltern nicht. Seine Mutter erlebte ihren Sohn ihrer Erinnerung nach nur ein einziges Mal wütend.
Koivusaari in der siebten Klasse: vom Engel zum Dämon.
Von Koivusaari lässt sich dies nicht behaupten. Bei ihm setzte die Pubertät rasant, überraschend und heftig direkt nach der sechsten Klasse ein. Die Schule schmeckte ihm nicht und er schwänzte, wo er konnte. In einem Halbjahr kamen rund zweihundert Fehlstunden zusammen. Entsprechend brach sein Notendurchschnitt in der siebten Klasse ein. „In der siebten und achten Klasse war es am schlimmsten. Meine Mutter sagte mal im Scherz, dass damals der Engel zum Dämon wurde. Ich war bis dahin brav