Der schwarze Witwer. Horst Bosetzky

Der schwarze Witwer - Horst Bosetzky


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Ernst Gennat finden wir im Polizeipräsidium am Alexanderplatz noch eine Reihe anderer Persönlichkeiten, die den Mördern in der deutschen Hauptstadt keine Chance lassen, unter ihnen auch Hermann Kappe, der im Dreikaiserjahr 1888 das Licht der Welt erblickt hat – wie alle echten Berliner nicht hier, sondern in Wendisch Rietz am Scharmützelsee. Im benachbarten Storkow hat er seine Polizeilaufbahn begonnen – und zwar als einfacher Gendarm. Als er 1910 dem dort ansässigen Major Ferdinand von Vielitz das Leben gerettet hat, war der ihm zu Dank verpflichtet und hat mit seinen Verbindungen dafür gesorgt, dass man Kappe zur Kriminalpolizei nach Berlin versetzt hat. Im September 1910, als man im Verlaufe der Moabiter Unruhen auf eine verkohlte Leiche gestoßen war, konnte er als junger Kriminaler seinen ersten Erfolg verbuchen. Seitdem hat er mehrere Mörder zur Strecke gebracht, aber auch Zeit gefunden, zu heiraten und eine Familie zu gründen.

      «Nu biste ja unsterblich jeworn», sagte Gustav Galgenberg, Berliner Urgestein, Kappes Gegenüber am Schreibtisch und Helfer in allen Mordsachen. «Ick gratuliere, denn erst wenn eena inne Zeitung steht, dann issa ja erst richtich uff da Welt. Nu kannste ja imma die Neese hochhalten – ooch wenn et rinregnet.»

      Kappe hatte Hunger bekommen. Aus seiner Aktentasche holte er eine Brotbüchse aus silbern schimmerndem Blech und entnahm ihr ein schönes, wenn auch etwas deformiertes Stück Buttercremetorte. «Meine Mutter hat den Nachtisch aus Wendisch Rietz mitgebracht.» Kappe förderte aus den Tiefen seiner Schreibtischschublade eine Kuchengabel zutage und sah Galgenberg an.

      «Wollen wir wetten?»

      Galgenberg lachte. «Um drei beschissene Betten?»

      «Hör auf, mir den Appetit zu verderben! Nee, darum, ob Gennat die Torte wittert und innerhalb der nächsten fünf Minuten hier aufkreuzt, um etwas abzubekommen.»

      Von Ernst Gennat, dem prominentesten der Berliner Kriminalkommissare, war bekannt, dass er das Mordauto schon mal auf dem Weg zum Tatort vor einer Konditorei halten ließ, um sich zu «verproviantieren», und oft genug lud er Tatverdächtige, die beim Verhör hartnäckig leugneten, zu Kaffee und Kuchen ein, um sie sozusagen aufzuweichen und zum Reden zu bringen.

      Kappe legte sich als Erster fest. «Ich wette, dass er kommt.»

      «Ich auch!», rief Galgenberg.

      «So kommt doch keine Wette zustande», stellte Kappe fest.

      «Du sagst es.» Da Galgenberg aber zu gern gewettet hätte, gab er schließlich klein bei und setzte fünfzig Pfennig darauf, dass Gennat nichts wittern würde.

      Kaum hatte er seine Münze auf den Schreibtisch geworfen, stand Gennat im Zimmer. «Kinder, macht euch mal auf die Socken, es ist kein anderer frei! Eine Leiche weiblichen Geschlechts in Wilmersdorf.» Er warf den beiden einen Zettel auf den Tisch – und schon war er wieder draußen.

      «Gewonnen!», rief Kappe.

      «Denkste!» Galgenberg brachte seinen Einsatz schnell wieder an sich. «Er ist ja nicht wegen der Torte gekommen, sondern wegen des dienstlichen Auftrags.»

      «Er hat aber einen sehnsuchtsvollen Blick auf die Torte geworfen», argumentierte Kappe.

      «Hat er nicht!», beharrte Galgenberg.

      «Nun gut …» Kappe lenkte ein. «Ich halte nichts vom Schießen, also lassen wir es bei einem Remis und widmen uns unseren dienstlichen Pflichten.» Er griff zu dem Zettel, den Gennat vorbeigebracht hatte. «Sächsische Straße …»

      Kaum hatte Galgenberg dies gehört, verzog er das Gesicht und fragte Kappe, wo er in der Schnelle eine Gasmaske herbekommen könne.

      «Wieso denn das?»

      «Na, kennste nich den Spruch?»

      Kappe lachte. «Welchen? Jeden deiner tausend Sprüche kann kein Mensch kennen!»

      «Na, den hier: Gefährlich ist der Furz der Sachsen, / Denn der kann im Darme wachsen / Und beendet seinen Marsch / Mit ’nem lauten Knalle aus’m …»

      Kappe verdrehte die Augen. «Mensch, ebenso wenig, wie in der Pariser Straße nur Pariser wohnen, wohnen in der Sächsischen Straße nur Sachsen.»

      Galgenberg sah ihn mit großen Augen an. «Is wahr? Mensch, det hätt ick nie jedacht! Aber so isset nu mal, keen menschlicher Verstand ermisst, wat mancher für een Dussel ist.»

      «Nun beeil dich schon!», drängte Kappe.

      Kappe machte, dass er aus dem Bureau kam, und lief so schnell über den Flur in Richtung Treppenhaus, dass Galgenberg ihm nicht zu folgen vermochte. Einen speziellen Mordbereitschaftswagen, das heißt einen mit Bureau- und Kriminaltechnik ausgestatteten Personenkraftwagen, gab es noch nicht, an solch einem Mordauto tüftelte Gennat noch, und so mussten sie mit einer normalen Kraftdroschke vorliebnehmen.

      «Bald ist Berlin so arm, dass wir uns selbst ans Steuer setzen müssen», sagte Kappe.

      Galgenberg wusste es besser. «Nee, jeda kriegt sein Dienstfahrrad – und wir beede een Tandem.»

      Es waren kaum mehr als neun Kilometer, die sie zu fahren hatten – Leipziger, Potsdamer, Grunewald- und Brandenburgische Straße –, aber sie brauchten dennoch knapp zwanzig Minuten, bis sie ihr Ziel erreicht hatten, denn an diesem Nachmittag war in der Innenstadt schon reger Betrieb. «Können die ihren Arsch nich zu Hause lassen?», regte sich Galgenberg auf.

      Als sie in der Potsdamer Straße am Sportpalast vorbeikamen, stach ihnen die Reklame für ein Konzert ins Auge. Don Kosaken Chor Serge Jaroff. war da zu lesen. In vierzehn Tagen gab der sein erstes Konzert in Berlin.

      «Meine Frau ist ganz verrückt nach dem Männerchor», sagte Kappe. «Klara hat schon immer für die russische Seele geschwärmt.»

      «Nüscht gegen einen richtigen K. o.., sagte Galgenberg, der gern Boxkämpfe sah. «Aber muss det mit dem Saken ooch noch sein?»

      Kappe nickte. «Allerdings, Sake ist doch dieser japanische Reiswein. Von dem kann man durchaus k. o. gehen.»

      «Nun fängste ooch schon so an wie ick.»

      «Das steckt eben an», seufzte Kappe. «Und wenn das so weitergeht, werden sie uns noch nach Calau versetzen.»

      «Liegt das schon in Sachsen?»

      «Nee, aber nicht weit davon entfernt.»

      Kurze Zeit später bogen sie in die Brandenburgische Straße ein. An der Ecke Wegenerstraße hatte die Schutzpolizei den Bürgersteig abgesperrt, und von nun an war alles Routine.

      «Der Kniehase wird schon da sein», sagte Kappe, der den Eifer ihres Kollegen Kriminaltechniker kannte.

      Galgenberg lachte. «Klar, det issa seim Namen schuldig. Der muss doch der Menschheit klarmachen, det det Märchen nur ’n Märchen is und der Hase in Wirklichkeit doch schnella is als der Igel.»

      Und in der Tat stand Dr. Kniehase schon bereit, um Bericht zu erstatten. «Im Schlafzimmer liegt die 63-jährige Gemüsehändlerin Frieda Schorbus auf ihrem Bett, mit einer Kittelschürze bekleidet. Ihre Hände und ihre Füße sind mit zerrissenen Laken an die Bettpfosten gefesselt. Ihr Kopf hat unter einem Kissen gesteckt. Nach Ansicht des herbeigerufenen Arztes ist sie ganz offensichtlich an ihrem Knebel erstickt, einem Taschentuch. Überwältigt worden ist sie in ihrer Küche.»

      Kappe bedankte sich und machte sich daran, alles in Augenschein zu nehmen. Dabei wurde ihm von Galgenberg assistiert.

      Die Küche sah nicht anders aus als hunderttausend andere in Berlin. Sie wurde beherrscht von einem Schrank, den sich die Eheleute Schorbus vor vierzig Jahren angeschafft haben mussten, zu ihrer Hochzeit wahrscheinlich, und einem Kohlenherd, einer richtigen Kochmaschine, wie die Berliner sagten. Daneben gab es einen Tisch mit drei Stühlen, einen Ausguss, unter dem ein Eimer mit einem grauen Scheuerlappen stand, ein Bord mit einer altertümlichen Waage, ein durchgesessenes kleines Sofa und einen Kohlenkasten. Die Dielen waren in einer Farbe gestrichen, die Galgenberg «kackbraun» nannte. Und auf diesen Dielen lagen das Gebiss der Toten und ihr Krückstock.

      «Hier, guck mal!», rief Galgenberg


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